Nahrung als Motor der Evolution

Wissenschaftler, die nach der Ursache suchen, warum sich der Mensch von den Primaten (Menschenaffen) so grundlegend abhebt, sehen den entscheidenden Faktor zunehmend in der Nahrung. William R. Leonard (Professor für Anthropologie an der Northwestern University in Evanston, Illinois) formuliert diesen Umstand in „Spektrum der Wissenschaft“ (Mai 2003) dahingehend: „Der Mensch ist, was er aß.“

In der menschlichen Vorzeit wirkte die natürliche Selektion scheinbar dahingehend, dass sich unserer Vorfahren mit immer weniger Aufwand immer hochwertigere, energiehaltigere Nahrung verschaffen konnten. Während der Evolution des Menschen dürfte sich seine Ernährungsweise fortwährend gewandelt haben, weshalb sich das Essen des Menschen auch heute noch von dem anderer Primaten unterscheidet: Menschliche Nahrung ist reicher an Kohlenhydraten, Proteinen und Fetten, und das gilt für menschliche Kost mit gänzlich unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten (sowohl rein vegetarisch als auch mit überwiegendem Fleischkonsum).

Die Anthropologen S. Boyd Eaton und Melvin J. Konner (Emory-Universität in Atlanta, Georgia) hatten 1985 (in „New England Journal of Medicine“) die Ansicht vertreten, dass Zivilisationskrankheiten wie Adipositas (Fettsucht), Bluthochdruck, Arteriosklerose oder Altersdiabetes vor allem deswegen überhand nehmen, weil die Menschen heute nicht mehr das Gleiche essen wie die Jäger und Sammler des Paläolithikums. An die heutige Kost hingegen sei der Mensch noch nicht wirklich angepasst.

Heute, nach differenzierterer Untersuchung der Ernährung von Menschen traditioneller Kulturen, hat man diesen Standpunkt dergestalt revidiert, dass Menschen durchaus mit recht unterschiedlichen Ernährungsgewohnheiten gesund leben können. Der Mensch ist keineswegs darauf festgelegt, sich genau so zu ernähren wie in der Altsteinzeit.

Energetisch betrachtet ist die Nahrung ein wesentlicher Aspekt, um sich am Leben und gesund zu halten sowie für das Wachstum und den Nachwuchs zu sorgen, denn gerade bei Säugetiermüttern ist der (energetische) Aufwand für Schwangerschaft und Milchproduktion beträchtlich. Wie viel Energie benötigt wird, hängt nun ab davon, wie viel davon für die Nahrungssuche, -aufnahme und -verarbeitung verbraucht wird, wie auch von den Umweltbedingungen. Im kälteren Klima beispielsweise benötigt der Organismus mehr Stoffwechselenergie. Und um auch als Spezies überleben zu können, sollte selbst unter harten Bedingungen möglichst einiges an Überschuss bleiben, der der Fortpflanzung und Nachkommenschaft zugute kommt.

Die Frage, warum der Mensch aufrecht geht (eines der typischen Merkmale des Menschen, das ihn von den Primaten unterscheidet[1]Der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Primaten, so nimmt man an, hat sich so wie alle Primaten heute (zumindest vorrangig) vierfüßig bewegt. Wann dieser Primat gelebt hat, ist nicht … weiterlesen) wird auf vielfältige Art und Weise zu erklären gesucht: Dass damit die Arme und Beine zum Tragen von Kindern und Nahrung frei wurden (C. Owen Lovejoy), dass sie zunächst dem Nahrungssammeln gedient hat (Kevin D. Hunt), um die Hitze der afrikanischen Sonne besser auszuhalten (Peter Wheeler) etc.

Marcia L. Robertson und William R. Leonard (Northwestern University in Evanston, Illinois) haben darüber hinaus ausgerechnet, dass vierbeiniges Gehen und auch der aufrechte Gang – im Vergleich zu der Art, wie sich Menschenaffen am Boden vorwärts bewegen – energetisch betrachtet ökonomischer sind. In diesem Zusammenhang steht auch, dass im Pliozän (vor rund 5 bis 1,8 Millionen Jahren) weite Teile Afrikas immer trockener wurden, der Baumbestand abnahm und Grasflächen und Savannen zunahmen. Um satt zu werden, mussten die frühen Hominiden, so der Stand der Forschung, nun größere Strecken am Boden zurücklegen[2]Als das beste verfügbare Modell gelten neuzeitliche Jäger und Sammler, die oft zehn Kilometer und mehr pro Tag zurücklegen, nur um genügend Essen zu finden. (und nicht wie die Menschenaffen, die sich lieber im Geäst vorwärts bewegen).

Bald nach dem Erwerb des aufrechten Ganges begann das Gehirn der Hominiden an Größe zuzunehmen. Von vor etwa vier Millionen bis zu vor etwa 2 Millionen Jahren steigerte sich das Hirnvolumen von etwa 400 Kubikzentimeter auf etwa 500. Mit der Gattung Homo (die vor mehr als zwei Millionen Jahren erschien und noch einige Zeit neben den letzten Australopithecinen lebte) begann darum eine noch schnellere Größenzunahme: Das Gehirn des Homo habilis (vor 2 Millionen Jahren) hatte bereits 600 Kubikzentimeter, das des frühen Homo erectus (etwa 300 000 Jahre später) schon 900 Kubikzentimeter, und der frühe Homo sapiens brachte es schon auf 1150, der moderne Homo sapiens auf 1350 Kubikzentimeter.

Das zunehmend größere Gehirn benötigte auch wesentlich mehr Energie. Pro Gewichtseinheit benötigt Hirnmasse nämlich 16-mal so viel Energie wie Muskelgewebe.[3]Der Körper des Menschen setzt im Ruhezustand nicht mehr Energie um, als der anderer gleich schwerer Säugetiere. Wegen des größeren Gehirns jedoch ist der menschliche Ruhestoffwechsel höher als … weiterlesen Ein typischer, unter 40 Kilogramm schwerer Australopithecine dürfte, so Berechnungen, für sein etwa 450 Kubikzentimeter großes Gehirn etwa 11 Prozent seines Ruheumsatzes aufgewendet haben. Der Homo erectus, der bereits an die 60 Kilogramm wog, brauchte für sein Gehirn schon 17 Prozent.

Die Erklärungen für das schnelle Wachstum des Gehirns sind vielfältig. Dean Falk (Florida State University in Tallahasee) zufolge hat erst der aufrechte Gang eine bessere Kühlung des Gehirns (durch eine verbesserte Durchblutung) ermöglicht. Notwendige Grundlage war aber auf alle Fälle, dass eine energetisch gehaltvollere Ernährung gewährleistet war.[4]Einen solchen Zusammenhang zwischen der Gehirngröße und der Nährstoffversorgung kann man schon bei den Primaten erkennen: Arten mit vergleichsweise größerem Gehirn fressen eine reichhaltigere … weiterlesen

Heutige Jäger-und-Sammler-Völker beziehen, so Untersuchungen von Loren Cordain (Colorado State University) 40 bis 60 Prozent ihrer Nahrungsenergie aus Fleisch und anderen tierischen Produkten. Der zunehmende Fleischkonsum[5] Auch Schimpansen fressen erbeutete kleinere Säugetiere und Insekten – und gewinnen auf diese Weise 5 bis 7 Prozent ihrer Nahrungsenergie. des Menschen lässt sich auch durch den Vergleich anatomischer Merkmale nachweisen.[6]Die Australopithecinen zeigen einen Schädel-, Kiefer- und Zahnbau (ausgeprägte Kaumuskulatur, breite und harte Backenzähne etc.), der sich gut zum Zerkleinern der pflanzlichen Nahrung eignet, … weiterlesen Aber nicht nur tierische (fleischliche) Nahrung eignet sich, um energiereich zu essen. Vermutlich wurden, um den erhöhten Energiebedarf zu decken, auch stärkehaltige Pflanzenteile (insbesondere Knollen) erhitzt.[7]Durch das Erhitzen wird die pflanzliche Nahrung sowohl weicher als auch besser verdaulich (z.B. komplexe Kohlenhydrate wie Stärke) – und liefert so auch mehr Energie. Richard Wrangham (Harvard University in Cambridge, Massachusetts) zufolge hat der Homo erectus bereits vor 1,8 Millionen Jahren das Kochen erfunden[8]In den ostafrikanischen Fundstätten Koobi Fora und Chesowanja wurden (zurückdatiert auf 1,6 bzw. 1,8 Millionen Jahre) Feuerspuren gefunden. Die ältesten eindeutigen Anzeichen für den … weiterlesen – wohl auch als Folge dieser Veränderung in den Ernährungsgewohnheiten, so wird vermutet, wurden die Backenzähne kleiner (und das Gehirn größer).

Die Gattung Homo begann das Fleischangebot der Savannen zu nutzen, ernährten sich unter anderem von Antilopen und Gazellen und bildeten erstmals eine Jäger-und-Sammler-Gesellschaft, wobei das erlegte Wild und die sonst zusammengetragene Nahrung unter den Mitgliedern der Gemeinschaft aufgeteilt wurden. Tiere, so zeigen Funde, wurden mit Steinwerkzeugen zerlegt, waren aber keineswegs die einzige Nahrung, sondern eher eine Aufwertung des Speiseplans.

Wachsende Nahrungsqualität und Gehirnzunahme bedingten gegenseitig eine weitere Steigerung: Größere Gehirne befähigten zu komplexerem sozialen Verhalten, was wiederum die Taktiken der Nahrungsbeschaffung verbesserte, und das wiederum …

Schon bald nach dem Erscheinen des Homo erectus vor 1,8 Millionen Jahren verließen einige Artgenossen den afrikanischen Kontinent.[9]Nach älteren Auffassungen verließen die ersten Menschen erst vor etwa 1,8 Millionen Jahren, nach der Erfindung des Faustkeils, den afrikanischen Kontinent. Neuere Forschungen hingegen belegen die … weiterlesen In Eurasien stieß der Mensch schließlich auch weiter in den Norden vor, und zu den ersten Bewohnern arktischer Gebiete gehörten die Neandertaler, die – infolge ihrer Umwelt – einen besonders großen Energiebedarf hatten, den sie vor allem durch tierische Nahrung deckten.[10]Die Evenki (Rentierhalter in Sibirien) weisen einen um rund 15 Prozent höheren Ruhestoffwechsel auf als gleich große Personen im gemäßigten Klima. Gleiches gilt für die Inuit Nordkanadas. Dazu … weiterlesen

Ein hoher Fleischkonsum bedeutet, ebenso wie eine relativ einseitige Nahrung, noch kein Gesundheitsrisiko. Wichtig jedoch ist, dass Lebensweise und Energiezufuhr zusammenpassen – dazu eine Aufstellung von William R. Leonard (Northwestern University in Evanston, Illinois):

Kulturform
 
tägliche Gesamtzufuhr in Joule (Kilokalorien)
 
Prozent der Energie aus Tierprodukten
 
Gesamt-Cholesterinspiegel
 
Body-Mass-Index[11]Ein Body-Mass-Index (BMI) zwischen 18,5 und 24,9 bedeutet Normalgewicht, zwischen 25,0 und 29,9 Übergewicht, zwischen 30,0 und 34,9 Adipositas Grad 1, zwischen 35,0 und 39,9 Adipositas Grad 2 und … weiterlesen
Jäger und Sammler    
 Kung (Botswana)8800 (2100)3312119
 Inuit (Nordkanada)9850 (2350)9614124
Hirten und Viehhalter    
 Turkana (Kenia)5900 (1400)8018618
 Evenki (Sibirien) 11850 (2820)4114222
Ackerbauern    
 Quechua (Peru)8400 (2000)515021
Industriegesellschaft    
 USA9450 (2250)2320426

Den Menschen gelang es im Laufe der Evolution und Geschichte immer besser, sich gehaltvolle Mahlzeiten zu beschaffen. Ihre Jagdtechnik verbesserte sich, wie auch ihr Zugriff auf Nahrung durch Ackerbau und Viehzucht. Zudem erhöhte sich der Nährwert der Nahrung durch die Zucht immer ertragreicherer, immer bekömmlicherer und nahrhafterer Sorten. Und durch das Kochen, die Zubereitung, erhöhte der Mensch den Nährwert der Nahrung nochmals, weil sich damit viele der in ihr enthaltenen Nährstoffe leichter aufschließen lassen.

Heute allerdings ist die Gefahr von Übergewicht die Folge des uralten Bestrebens, so viel wie möglich Energie aus der Nahrung mit so wenig wie möglich Aufwand zu gewinnen. Das Verhältnis zwischen Lebensweise und Energiezufuhr hat sich nämlich auf eine Art und Weise verändert, dass die Herausforderung in den Industriegesellschaften heute eher darin besteht, nicht mehr zu essen, als an Energie verbraucht wird.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Der letzte gemeinsame Vorfahre von Mensch und Primaten, so nimmt man an, hat sich so wie alle Primaten heute (zumindest vorrangig) vierfüßig bewegt. Wann dieser Primat gelebt hat, ist nicht bekannt, die Australopithecinen (afrikanische Vormenschen) jedoch gingen schon vor ungefähr vier Millionen Jahren aufrecht.
2 Als das beste verfügbare Modell gelten neuzeitliche Jäger und Sammler, die oft zehn Kilometer und mehr pro Tag zurücklegen, nur um genügend Essen zu finden.
3 Der Körper des Menschen setzt im Ruhezustand nicht mehr Energie um, als der anderer gleich schwerer Säugetiere. Wegen des größeren Gehirns jedoch ist der menschliche Ruhestoffwechsel höher als der eines vergleichbaren Säugetiers. Beim Affen macht der Energieverbrauch des Gehirns 8 bis 10 Prozent des Ruheumsatzes aus, beim Menschen zwischen 20 und 25 Prozent und bei anderen Säugetieren nur 3 bis 5 Prozent.
4 Einen solchen Zusammenhang zwischen der Gehirngröße und der Nährstoffversorgung kann man schon bei den Primaten erkennen: Arten mit vergleichsweise größerem Gehirn fressen eine reichhaltigere Kost.
5  Auch Schimpansen fressen erbeutete kleinere Säugetiere und Insekten – und gewinnen auf diese Weise 5 bis 7 Prozent ihrer Nahrungsenergie.
6 Die Australopithecinen zeigen einen Schädel-, Kiefer- und Zahnbau (ausgeprägte Kaumuskulatur, breite und harte Backenzähne etc.), der sich gut zum Zerkleinern der pflanzlichen Nahrung eignet, wohingegen Schädel, Kiefer und Zähne der Angehörigen der Gattung Homo auf weichere Nahrung, wohl auch regelmäßig Fleisch, schließen lassen.
7 Durch das Erhitzen wird die pflanzliche Nahrung sowohl weicher als auch besser verdaulich (z.B. komplexe Kohlenhydrate wie Stärke) – und liefert so auch mehr Energie.
8 In den ostafrikanischen Fundstätten Koobi Fora und Chesowanja wurden (zurückdatiert auf 1,6 bzw. 1,8 Millionen Jahre) Feuerspuren gefunden. Die ältesten eindeutigen Anzeichen für den kontrollierten Gebrauch von Feuer in Europa sind allerdings aus wesentlich jüngerer Zeit: 200 000 Jahre alte Steinherde und verkohlte Tierknochen.
9 Nach älteren Auffassungen verließen die ersten Menschen erst vor etwa 1,8 Millionen Jahren, nach der Erfindung des Faustkeils, den afrikanischen Kontinent. Neuere Forschungen hingegen belegen die Anwesenheit des Homo erectus vor 1,7 und 1,8 Millionen Jahren am Südrand des Kaukasus und in Indonesien.
Die Größe des Streifgebietes oder Territoriums eines Säugetiers bestimmt sich weitgehend durch das, was es frisst. Umgelegt auf den Homo erectus bedeutet das, dass dieser schon bei einer geringen Erhöhung des Fleischkonsums ein etwa 8- bis 10-mal so großes Gebiet beanspruchte als die Australopithecinen.
10 Die Evenki (Rentierhalter in Sibirien) weisen einen um rund 15 Prozent höheren Ruhestoffwechsel auf als gleich große Personen im gemäßigten Klima. Gleiches gilt für die Inuit Nordkanadas. Dazu kommt, dass das anstrengende Alltagsleben dieser Völker den Energiebedarf noch vergrößert.
Forschungsergebnissen zufolge haben die Neandertaler täglich fast 17000 Kilojoule (4000 Kilokalorien) umgesetzt, wobei ihre Nahrung fast ausschließlich aus Fleisch bestand (Mark Sorensen und William R. Leonard, Northwestern University in Evanston, Illinois).
11 Ein Body-Mass-Index (BMI) zwischen 18,5 und 24,9 bedeutet Normalgewicht, zwischen 25,0 und 29,9 Übergewicht, zwischen 30,0 und 34,9 Adipositas Grad 1, zwischen 35,0 und 39,9 Adipositas Grad 2 und über 40 extreme Adipositas Grad 3 (WHO).
Berechnet wird der Body-Mass-Index nach der Formel Kilogramm/m2. Bei einer Größe von 1,80 Meter und einem Gewicht von 80 Kilogramm ergibt das 80:(1,802) = 80:3,24 = 24,69.