Qigong und Taiji. Geschichte, Definition und Berufsbild der IQTÖ (Oswald Elleberger & Eduard Tripp)

Qigong

Qigong (wörtlich “Arbeiten mit Qi”) nennt man alle Methoden, mit Hilfe derer man auf die (menschliche) Lebensenergie Qi Einfluss nehmen kann. Historisch gesehen gibt es vier Stammbereiche des Qigong: die Lebenspflege, die Meditation, die Kampfkünste und die Therapie.

Die ersten schriftlichen Erwähnungen von Übungen, die wir heute als Qigong bezeichnen würden, finden sich schon vor knapp 3000 Jahren. Genauer verfolgbar wird die Geschichte des Qigong dann um die Zeitenwende. Nach den bisher vorliegenden historischen Daten spricht man von vier “Wurzeln des Qigong”.[1]Qi (wörtlich “Dunst”, “Äther”, “Stoff”) ist ein zentraler Begriff der chinesischen Philosophie und aller traditionellen chinesischen Wissenschaften. Für unseren … weiterlesen

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Das “Qigong der Gelehrten und Philosophen” bestand aus meditativen Übungen mit dem Ziel, störende Emotionen und geistige Unruhe zu beseitigen. Im “Medizinischen Qigong” konzentrierte man sich überwiegend auf Bewegungsübungen, mit deren Hilfe man therapeutische Maßnahmen unterstützte. Beide genannten Bereiche hatten vorwiegend das freie Fließen des Qi zum Ziel. Vermehrung der Lebensenergie hingegen stand im Vordergrund des “Religiösen Qigong” und des “Qigong in den Kampfkünsten”.

In der wechselvollen chinesischen Geschichte kam es zu zahlreichen Vermischungen und Überschneidungen einzelner Schulen und Stile, so dass heutiges Qigong eine Kombination bewährter Methoden unterschiedlichster Herkunft darstellt.[2]IQTÖ: Interessensvertretung der Qigong-LehrerInnen und Taiji Quan-LehrerInnen Österreichs, 2013 Göllersdorf, Postfach 22, Tel: +43 (664) 420 7550, http://www.iqtoe.at


Taiji Quan

Taiji Quan (wörtlich “Kampfkunst des Taiji”) stammt, wie es der Name schon ausdrückt, in seinen Wurzeln aus den Kampfkünsten Chinas. Taiji wiederum ist ein Begriff aus der chinesischen Philosophie und symbolisiert das Wirken der polaren Kräfte Yin und Yang. Es handelt sich also um eine Kampfkunst, in der besonderer Wert auf die Verwirklichung eines passiven und eines aktiven Prinzips gelegt wird mit dem Ziel, beide zusammenzuführen. Im Westen wird Taiji Quan neben seinem Kampfkunstaspekt gerne auch als Methode des Stressabbaus und der Zentrierung eingesetzt. Regelmäßiges Taiji-Training wirkt direkt auf das Qi und fördert das Wohlbefinden.

Taiji Quan hat sich aus vielen unterschiedlichen chinesischen Kampfstilen entwickelt. Man nimmt an, dass es seine grundlegenden Ausformungen vor etwa 800 bis 900 Jahren in den daoistischen Klöstern der Wudang-Berge in Zentralchina erfuhr. Genauer verfolgbar wird die Geschichte des Taiji Quan und seine Aufspaltung in mehrere Stilrichtungen aber erst im 19. Jahrhundert.

Taiji Quan wird zu den so genannten “Inneren Kampfstilen” gerechnet, in denen die Arbeit an innerer Strukturierung, Mittenentwicklung und Qi-Vermehrung stärker betont werden als in den “Äußeren Stilen”, wie etwa dem Shaolin-Kungfu. Die verbreitetsten Stile sind derzeit der Yang-Stil, der Chen-Stil, zwei Wu-Stile und der Sun-Stil. Je nach Schule werden dabei unterschiedliche Aspekte in den Vordergrund gerückt. So können heute die Schwerpunkte von einer stark meditativen Ausrichtung bis hin zu härtester Selbstverteidigung oder auch dem Bestreiten von Wettkämpfen reichen.


Lebenspflege

“Lebenspflege” ist ein Begriff, der schon vor ca. 2300 Jahren beim daoistischen Klassiker Zhuangzi (Chuang-tzu) zu finden ist und weit mehr als nur Prophylaxe oder gar Angst vor Krankheit und deren Folgen meint. Lebenspflege durchzieht alle Bereiche des täglichen Lebens, wie Beruf, Familie und Freizeit. Konsequenterweise gibt es daher in der Lebenspflege neben Qigong-Übungen auch Hinweise für das Eliminieren von schädigenden Einflüssen, die Übernahme von Eigenverantwortung, die Gestaltung der Ernährung, die Anpassung von Tätigkeiten an den Lauf der Tages- und Jahreszeiten, gesundes Wohnen und befriedigendes Sexualleben, vernünftige Bewegung und körperliche Betätigung und vieles andere mehr. All dies erfolgt unter Berücksichtigung der in der chinesischen Kultur über Jahrtausende entwickelten Erkenntnisse über die Lebensenergie Qi und ihre Manifestationen.

Es ist durchaus berechtigt, Qigong und Taiji Quan als eine Lebensphilosophie zu sehen, in der die Praktizierenden Verantwortung für ihr Leben übernehmen und sich folgende Fragen stellen:

  • Wie kann ich mein Allgemeinbefinden verbessern?
  • Wie kann ich mein energetisches Potential vergrößern und sinnvoll nutzen?
  • Wie kann ich mich persönlich weiterentwickeln?
  • Wie kann ich meine Gesundheit erhalten?
  • Wer bin ich? Wie stehe ich in der Umwelt? Wie bewege ich mich durchs Leben?

Das Erstellen eines Lebenspflegekonzepts auf allen Ebenen bedeutet, nicht nur mit einem Minimum an Energie zu überleben, sondern mit optimaler Energie gut und sinnvoll zu leben, im Vertrauen, dass Wachstum und Entwicklung möglich sind. Zudem bedeutet die Umsetzung von daoistischen Grundtugenden wie Einfachheit und Natürlichkeit eine wertvolle Bereicherung im Umgang mit den Herausforderungen unserer Zeit.


Die fünf Regulationen

Die “Fünf Regulationen” sind Hauptbereiche von Maßnahmen, die sicherstellen, dass die Kriterien einer Qigong- oder Taiji-Quan-Übung erfüllt werden:

  • Regulation des Körpers (Tiaoshen)
  • Regulation der Atmung (Tiaoxi)
  • Regulation des Qi (Tiaoqi)
  • Regulation von Bewusstsein und Vorstellung (Tiaoxin)
  • Regulation des Geistes (Tiaoshen[3]Das chinesische Schriftzeichen für Shen/Geist unterscheidet sich vom Schriftzeichen für Shen/Körper.)


Regulation des Körpers[4]Treffender ist der Terminus “Regulation von Körperposition und Bewegung”, der die unterschiedlichen Anforderungen von Statik und Dynamik besser hervorhebt. (Tiaoshen)


Regulation der Körperposition

Zunächst geht es darum, den Körper in Ruhe optimal zu strukturieren. Vor allem gilt es, die Wirbelsäule bestmöglich aufzurichten und damit den inneren Organen zu ermöglichen, ohne Beeinträchtigungen (durch Fehlhaltungen) zu arbeiten. Diese Aufrichtung wird in erster Linie über das Zentralnervensystem erreicht und nicht so sehr durch eine Kräftigung von geschwächten Muskeln.

Bei den Extremitäten werden vor allem die Knochen- und Gelenkstruktur berücksichtigt. Gelingt es, den Grundtonus der Muskulatur mit geeigneten Maßnahmen herabzusetzen, können sich die Knochen in den Gelenken besser ausrichten, wodurch die Gelenke sich weiten und öffnen und in weiterer Folge die Lebensenergie ungehindert fließen kann – eine notwendige Voraussetzung, um den Kampftechniken Wirkung zu verleihen.


Regulation der Bewegung

Die Weitung der Gelenke ist eine Grundvoraussetzung guter und gesunder Bewegung und macht geschmeidige Bewegungen bei geringstem Kraft- und Energieaufwand realisierbar. Das Hauptaugenmerk liegt dabei fast ausschließlich auf Ganzkörperbewegungen. Dies vermeidet zusammen mit dem ständigen Wechsel von Anspannung und Entspannung, die nichts mit Erschlaffung zu tun hat, die einseitige Beanspruchung einzelner Körperpartien und Gelenke und hilft, chronische Verspannungen (etwa der Schultern, des Nackens oder des Rückens) abzubauen.

Das Bewegungstempo ist meist langsam, “sensomotorisches Lernen” wird angestrebt. Bei diesem Training kommt es zu einer koordinativen Optimierung der Abläufe, wodurch auch sehr schnelle Bewegungen ohne die Gefahr einer Schädigung von Gelenken und Wirbelsäule möglich werden.


Regulation der Atmung (Tiaoxi)

Von den durchschnittlich fünf bis sechs Millionen Atemzügen pro Jahr werden die meisten unbewusst und leider auch qualitativ schlecht ausgeführt, da der allgegenwärtige Stress den natürlichen Atemvorgang verändert. Das Ziel ist eine gute und freie Atmung mit optimierter Sauerstoffaufnahme und Kohlendioxidabgabe. Das Atemvolumen vergrößert sich auf natürliche Art, und die Atmung kann als kraftvoller Energiespender wirken. Atmung, die mit den Methoden von Taiji Quan oder Qigong verbessert wurde, ist ein optimaler Mittler zwischen Körper und Geist.


Natürliche Atemmuster

Es wird zunächst versucht, durch bewusstes Atmen und Entspannung natürliche Atemmuster wiederzubeleben.


Atemgrundmuster

In weiterer Folge befasst man sich dann mit wichtigen Atemgrundmustern, nämlich der “Bauch-Flanken-Brust-Atmung” und der “Umgekehrten Bauchatmung”. Bei beiden Methoden wird der gesamte Rumpf in die Atmung miteinbezogen, was zu einer größeren Beweglichkeit der Wirbelsäule, der Rippen und aller in diesem Bereich befindlichen Gelenke beiträgt. Außerdem wird durch die tiefen gleichmäßigen Atemzüge eine fühlbare psychische Beruhigung bei Stress erreicht. Die inneren Organe werden angenehm massiert, was ihre Funktionsfähigkeit deutlich verbessert.


Spezielle Atemtechniken

Durch spezielle Atemtechniken kann man dann noch zusätzliche positive Effekte erreichen, wie etwa das tief greifende Reinigen von Schlacken (reinigende Atmung) oder das Auflösen von Erschöpfungszuständen durch tonisierende Atmung.


Regulation des Qi (Tiaoqi)

Gemäß einer heute in Fachkreisen allgemein anerkannten Qi-Theorie unterscheidet man zwischen primärem Qi, das der Mensch von seinen Eltern erhalten hat, und sekundärem Qi, das durch die Atmung einerseits und durch Nahrung und Getränke andererseits ständig aufgenommen wird. Außerdem steht der Mensch mit seiner Umgebung in ständiger Wechselwirkung und tauscht sein Qi mit ihr aus.


Vorgeburtliches (primäres) Qi

Da nach traditioneller Vorstellung das Leben des Menschen endet, wenn sein Vorrat an primärem Qi aufgebraucht ist, wird versucht, den Verbrauch des vorgeburtlichen Qi durch eine vernünftige Lebensweise, das Vermeiden von Drogen und durch spezielle Sexualpraktiken möglichst gering zu halten. Auch kann mit besonderen Techniken primäres Qi erneut aufgebaut werden.


Nachgeburtliches (sekundäres) Qi

Man legt großen Wert auf den Energiegehalt von Nahrungsmitteln und Getränken und versucht, durch Verbesserung der Atemtechnik vermehrt Qi aus der Luft aufzunehmen. Mit Hilfe von Qigong und Taiji Quan kann eine weitere Fähigkeit kultiviert werden, nämlich Qi aus der Umgebung direkt aufzunehmen. Dabei wird versucht, über wichtige Energiezentren, die meist Akupunkturpunkten entsprechen, Qi aus der Umgebung, vom Himmel und von der Erde gezielt in den Organismus einzuspeisen. Doch es geht nicht allein um die Aufnahme von frischem Qi. Oft sind die inneren Organe nicht in der Lage, verbrauchtes Qi optimal auszuscheiden. Hier kann man mit speziellen Übungen verbessernd einwirken. In weiterer Folge ist es möglich, lokale Qi-Überschüsse oder Qi-Mängel im Organismus durch harmonisierende Übungen auszugleichen.


Steuerung und Fließen von Qi

Qi kann durch die Vorstellungskraft (Yi) gelenkt werden. “Wo die Vorstellung ist, da ist auch das Qi”, sagen die chinesischen Meister. Allerdings kann es nur dort frei fließen, wo es nicht durch Verspannungen geistiger oder körperlicher Art behindert wird. Dies ist mit ein Grund, weshalb man in Qigong und Taiji Quan so großen Wert auf Entspannung legt. Man sollte dabei aber nicht vergessen, dass Qi durch Anspannung erzeugt werden kann. Damit ist leicht zu verstehen, dass eine gute Bewegungsübung, die mit einem ausgewogenen Verhältnis von Anspannung und Entspannung arbeitet, Qi einerseits erzeugt und andererseits zum Fließen bringt. Auch geistige Anspannung aktiviert Qi, aber auch hier bedarf es der Lösung durch Entspannung, um das freie Fließen zu gewährleisten.


Speichern von Qi

Ein hoher Pegel an Lebensenergie (Qi) ist selbstverständlich vorteilhaft, doch sind nicht alle Bereiche unseres Organismus gleich gut geeignet, viel Qi zu beherbergen. So reagiert das Herz überaus empfindlich auf emotionelle Qi-Schübe oder auch auf das durch Hochatmung in den Brustkorb gepumpte Qi. Ganz anders verhält sich der Bauchraum, vor allem der zentrale Bereich des Unterbauches. Hier, im Zentrum des Menschen, im “Unteren Zinnoberfeld” (Xiadantian) kann Qi problemlos gespeichert und bei Bedarf abgerufen werden.[5]Der jahrtausende alte Gedanke eines autonomen Zentrums im Bauchraum erfährt heute durch die Wissenschaft eine gewisse Unterstützung, seit man im Plexus myentericus und im Plexus submucosus ein … weiterlesen


Regulation von Bewusstsein und Vorstellung (Tiaoxin)


Emotionales Bewusstsein (Xin)

Einer der wichtigsten Bereiche in Qigong und Taiji Quan ist die Regulation von Bewusstsein und Vorstellung (Tiaoxin). “Xin” bedeutet Herz, in diesem Kontext aber Bewusstsein, das durch Emotionen entsteht und von ihnen beeinflusst wird.


Klares Bewusstsein (Yi)

Mit “Yi” ist jene Art von Bewusstsein gemeint, die mit Vernunft, Urteils-, Willens- und Vorstellungskraft zu tun hat. Da Yi für die Lenkung von Qi von größter Bedeutung ist, muss es zunächst beruhigt werden, um später daraus gezielt Nutzen ziehen zu können. Man versucht daher in Qigong und Taiji Quan, sich immer wieder zu sammeln und entspannt zu konzentrieren. Eine ruhige Atmung hilft, dieses Ziel zu erreichen.

Bei den meisten Menschen, die keine spezielle Schulung haben, ist Xin, das emotionale Bewusstsein, deutlich stärker als Yi, der Verstand. Man geht lieber ins Kino, obwohl man arbeiten sollte, isst spät am Abend, obwohl man weiß, dass man dann schlecht schlafen wird. Sobald man allerdings gelernt hat, Yi besser einzusetzen, mindert sich die Kraft von Xin. Es geht aber nicht darum, Xin zu unterdrücken oder gar zu verdrängen, denn das hätte vorwiegend negative Folgen. Im Gegenteil: Xin und Yi müssen lernen zusammenzuarbeiten, wobei Yi mit der Zeit eine Führungsrolle erhalten sollte.


Regulation des Geistes (Tiaoshen)

Shen bedeutet Seele, Geist oder Gott und ist der “spirituelle” Aspekt des Menschen. Shen bestimmt die Gemütsverfassung, gibt Klarheit und Konzentration, stärkt den Willen und erhöht Ausdauer und Durchhaltekraft. Der Sitz von Shen liegt im “Oberen Zinnoberfeld” (Shangdantian), einem Bereich, der hinter dem Akupunktur-Punkt Yintang zwischen den Großhirnhemisphären liegt. Wenn Shen stark ist, arbeiten alle Sinne besser, man ist kreativer, denkt flink und hat eine klare Urteilskraft. Ist man krank oder emotional erregt, dann wandert Shen umher. Mit dem Tod verlässt Shen den Menschen.

Da Shen ein kosmisches Prinzip ist und sich sozusagen überall zu Hause fühlt, ist es eine Aufgabe des Trainings, Shen zum Bleiben zu bewegen. Dazu muss man Shen ernähren, was durch Qi erfolgen kann. Dieses Qi muss von Yi, dem klaren Bewusstsein, gelenkt werden. Auch Qi, das vom emotionalen Bewusstsein, Xin, gesteuert wird, könnte Shen stärken. Da es sich dabei um starke, aber im Prinzip ungeordnete Energie handelt, wäre ein solches Vorgehen nicht erfolgreich.

Maßnahmen zur Stärkung des Geistes sind hauptsächlich in traditionellen Qigong-und Taiji-Richtungen verbreitet, und da vor allem in religiösen Systemen. Die kommunistische Regierung der Volksrepublik China sieht derartige Betätigungen nicht gerne und unterstützt aus diesem Grund vehement moderne Übungs-Systeme, die ihre Aktivitäten in Bezug auf Bewusstsein und Geist fast ausschließlich auf die Regulation des emotionalen Bewusstseins begrenzen.

Historisch gesehen haben die drei großen Philosophie- und Religionssysteme Chinas, nämlich der Daoismus, der Konfuzianismus und der Buddhismus, die Entwicklung in diesem Bereich des Taiji Quan und Qigong stark beeinflusst. Die Methoden des Qigong und Taiji Quan sind aber unabhängig von religiösen oder politischen Überzeugungen anwendbar.


Übungsarten des modernen Qigong

In der modernen Systematisierung von Qigong unterscheidet man der äußeren Form nach folgende Übungsarten:[6]Die im Folgenden angeführten Übungssysteme stellen nur eine kleine Auswahl aus den vielfältigen Möglichkeiten des Qigong dar.

  • Übungen in Ruhe
  • Übungen mit beabsichtigter Körperbewegung
  • Übungen mit unbeabsichtigter Körperbewegung
  • Übungen mit freier Körperbewegung


Übungen in Ruhe

Der große Vorteil von Übungen in Ruhe besteht darin, dass man den Bereichen Atmung, Vorstellung, Qi und der Entwicklung und Beruhigung des Geistes mehr und ungeteilte Aufmerksamkeit widmen kann. Sie haben von allen Übungen den stärksten meditativen Charakter. Die äußerliche Ruhe bedeutet aber keineswegs, dass im Inneren ebenfalls Ruhe herrschen muss. Ganz im Gegenteil: Man kann jetzt das Qi in die verschiedensten Organe leiten, seine Bewegung spüren und auch seine Wirkung dort beobachten.

Werden die Übungen im Liegen durchgeführt, eignen sie sich sehr gut für Kranke, die zu schwach zum Aufstehen sind, aber auf diese Weise trotzdem ihre Heilkräfte durch Qigong mobilisieren können. Liu Guizhen, ein bekannter Qigong-Meister arbeitete mit großem Erfolg mit solchen Methoden. Auch manche daoistische Meditationspraktiken (z.B. Lianqi, das “Schmelzen des Qi”) werden im Liegen durchgeführt.

Die häufigste Körperhaltung der Übungen in Ruhe ist jedoch das Sitzen, sei es mit verschränkten Beinen oder auf einem Sessel – eine Körperhaltung, die auch in der Meditation bevorzugt wird. Im Sitzen werden auch die “Sechs Heiligen Laute” praktiziert. Dabei wird versucht, durch das Intonieren der Silben Xu, He, Hu, Si, Chui, Xi Schwingungen zu erzeugen, die gezielt die inneren Organe aktivieren. Fachlich unkorrekt, aber einprägsam bezeichnet man sie auch gerne als die “Mantren des Daoismus”.

Das Stehen ist eine weitere mögliche und beliebte Haltung. In der Standposition kann man etwa die Verwurzelung im Boden oder das Ausrichten der Knochen leichter erlernen und dann später versuchen, die erworbene Erfahrung in den Bewegungsübungen umzusetzen. dasselbe gilt auch für den “Kleinen Himmlischen Kreislauf”, eine Methode, bei der man das Qi im Kopf- und Rumpfbereich kreisen lässt. Beherrscht man den Kreislauf in sitzender Position, kann man zur Standposition wechseln und dann weiter zu den Bewegungsübungen gehen. Im modernen Qigong bezeichnet man die Übung im Stehen auch als “Zhanzhuanggong”, was “Stehen wie ein Pfahl” bedeutet.

Die Übungen in Ruhe sind ein guter Ausgleich für gestresste und gehetzte Menschen. Auch Bewegungsübungen beginnen häufig in Ruhe (Vorbereitung und Ausgangsposition), haben dann den eigentlichen Durchführungsteil und enden schließlich wieder in Ruhe (Konzentration des Qi im Dantian).


Übungen mit beabsichtigter Körperbewegung

Da ein enger Zusammenhang zwischen dem Fließen des Qi und bestimmten Bewegungen besteht, sind Bewegungsübungen im Qigong in großer Zahl anzutreffen. Es gibt eine Vielzahl von Systemen und Schulen mit verschiedenen Zielsetzungen. Da es modernen Menschen meist auch an vernünftiger Bewegung mangelt und Qi-Stausyndrome bis hin zu Krebs immer häufiger anzutreffen sind, scheint die Beschäftigung mit Bewegungsübungen sinnvoll.

Eines der ältesten dokumentierten Systeme ist das “Spiel der fünf Tiere” (Wuqinxi), in denen die Bewegungen und das Verhalten von Hirsch, Affe, Bär, Vogel und Tiger imitiert werden. Man kann die Tiere den fünf Wandlungsphasen zuordnen und erhält damit die Möglichkeit, alle Zusammenhänge der Wandlungsphasen zu nutzen.

Die im Westen noch immer am weitesten verbreitete Qigong-Methode dürfte “Baduanjin” (“Acht Edle Übungen”, “Brokatübungen”) sein. Jede der acht Übungen dieses Systems hat neben allgemeinen Wirkungen auch eine spezielle, die auf die Organsysteme (wie Milz/Magen, Niere/Blase, Lunge/Dickdarm etc.) zielt.

Die “Qi-Spiralübungen” stammen aus der Kampfkunsttradition. Praktizierende versuchen mit einer 18teiligen Übungsserie die spiralige Ausbreitung des Qi vom Boden bis in die Fingerspitzen und von diesen wieder zurück in den Boden zu entwickeln. Diese Übungen verbessern die Koordination von Kampftechniken, stärken das “Abwehrende Qi” (Weiqi) und helfen nachweislich, die Immunabwehr zu kräftigen.

Ebenfalls aus der Kampfkunsttradition stammt “Chansijing”. In diesen Übungen wird besonderer Wert auf die Beweglichkeit und die zentrale Rolle der Wirbelsäule gelegt. Richtig angewendet, kommt es einerseits zu einer Kräftigung des gesamten Stützapparates und andererseits aber auch zu einer beträchtlichen Verbesserung der Koordination.

Das “Qigong-Gehen” ist eine Übungsform, die sich in China in den vergangenen Jahrzehnten im Therapiebereich, etwa in der Krebsbehandlung, etabliert hat. So finden sich heute viele Kliniken, wo Qigong-Gehen als Unterstützung zu einer schulmedizinischen oder TCM-Behandlung eingesetzt wird. Verschiedene Ausführungsformen des Qigong-Gehens machen es wiederum möglich, auf die verschiedensten Krankheiten und Syndrome positiv einzuwirken. Selbstverständlich kann Qigong-Gehen auch in allen Bereichen der Lebenspflege sinnvoll eingesetzt werden.

Eines der besten und international auch erfolgreichsten modernen Qigong-Systeme ist das “Kranich-Qigong”, das aus sechs Übungsteilen besteht. Der erste Teil wirkt speziell auf die inneren Organe, macht es möglich, Qi aus allen Richtungen aufzunehmen und wieder abzugeben und verbessert die Verbindung zu Erde und Himmel. In der zweiten Übung werden die Armmeridiane aktiviert sowie Yin und Yang harmonisiert. Die dritte Übung wirkt auf das Konzeptions- und Lenkergefäß, die Wirbelsäule sowie die Meridiane und Gefäße der Beine. Mit Hilfe der vierten Übung entwickelt man das Öffnen und Schließen von wichtigen Energiezentren. Die fünfte Übung rekapituliert die vorangegangenen. Die sechste Übung schließlich arbeitet mit unbeabsichtigter Körperbewegung.

Bei den so genannten “Meridianübungen” handelt es sich im allgemeinen um moderne Systeme, die mit meistens 12 Übungen versuchen, das gesamte Meridiansystem zu aktivieren. Manchmal wird auch noch je eine Übung für das Lenker- und Konzeptionsgefäß hinzugefügt.


Übungen mit unbeabsichtigter Körperbewegung

Bei dieser Art von Qigong versucht man zunächst, das Qi durch spezielle Übungen zu stärken, um ihm dann freien Lauf zu lassen. Das bedeutet, dass Übende zunächst in ihrem Körperinneren die Bewegungen des Qi spüren, z.B. als Zittern, Hitze oder Pulsieren. Es kann sein, dass sich diese innere Bewegung nach außen überträgt und mitunter auch stärker wird. Die Praktizierenden beschreiben die Wirkung dieser Übungen – man nennt sie “spontane Übungen” (Zifagong) – als befreiend und erleichternd.


Übungen mit freier Körperbewegung

Dies können einerseits Übungen sein, die improvisatorischen Charakter haben, wobei aus einem Grundrepertoire von Übungen eine freie Zusammenstellung erfolgt, wie beispielsweise in einigen Formen des Tanz-Qigongs. Andererseits kann es sich um Übungen handeln, wo durch die vorher nicht festgelegte Einwirkung eines Partners eine freie Reaktion erforderlich wird. Beispielhaft seien aus dem Bereich des Taiji Quan das Tui Shou (Push Hands) und der Freikampf genannt.


Übungsarten des modernen Taiji Quan

Das “chinesische Schattenboxen” (Taiji Quan, alte Schreibweise T’ai-Chi Ch’uan), hat seit den 60er und 70er Jahren des zwanzigsten Jahrhunderts einen Siegeszug um die gesamte Welt angetreten. Die langsam fließenden Bewegungen und der meditative Charakter des Taiji Quan scheinen ein auch im Westen vorhandenes, tiefes Bedürfnis nach Ruhe in der Bewegung angesprochen zu haben. Taiji Quan war auch der Wegbereiter für die meisten anderen Qigong-Übungen, die in weiterer Folge von China aus den Westen erreichten. Es ist fachlich korrekt, ein gesundheitsorientiertes Taiji Quan dem Überbegriff Qigong zuzuordnen, dabei sollte aber nicht vergessen werden, dass Taiji Quan ursprünglich eine Kampfkunst war und noch immer ist.

Gutes Taiji Quan bedient sich unterschiedlicher Übungsmethoden und hat genaue Lehrpläne. Ausgehend von Übungen in Ruhe, etwa (sitzender) Meditation und Standübungen, die Taiji Positionen entsprechen, entwickelt sich der Lehrweg weiter zu Übungen in Bewegung. Ein Teil dieser Bewegungsübungen wird im Stand durchgeführt, ein Teil dann mit Schritten kombiniert. Oft spricht man bei diesen Übungen von “Taiji-Qigong”. Der nächste Schritt ist das Praktizieren einer Solo-Form, also einer festgelegten Abfolge von Verteidigungs- und Angriffstechniken. Dann können Übungen mit Partner hinzukommen, etwa das bekannte Tui Shou, bei dem versucht wird, Balanceschwächen des Partners zu nutzen und diesen aus dem Gleichgewicht zu bringen. Weiters können noch andere Partnerformen (etwa Dalü) unterrichtet werden. Taiji Quan hat auch ein reiches Repertoire an Waffen-Formen (Schwert, Säbel, Stock und Speer sind die bekanntesten). Schließlich besteht noch die Möglichkeit des freien Kampfes.

Innerhalb der Stile des Taiji Quan gibt es bisweilen große Unterschiede in der Verwendung von Kampftechniken. Manche Systeme bevorzugen Schlag- und Stoßtechniken mit Armen und Beinen, andere verwenden hauptsächlich Hebeltechniken, wieder andere legen ihr Hauptaugenmerk auf Würfe. All diesen Stilen gemeinsam ist aber der Versuch “Innere Kraft” mit Hilfe der Fünf Regulationen zu entwickeln.


Berufsbild von Qigong- und Taiji Quan-LehrerInnen

Die Aufgabe von LehrerInnen der Interessenvertretung IQTÖ umfasst die Vermittlung von Theorie und Praxis des Qigong und/oder Taiji Quan. Dies geschieht in Form von Einzel- oder Gruppenunterricht. Bewährte Methoden der westlichen und östlichen Didaktik helfen bei der Weitergabe des fachspezifischen Wissens[7]Für die Bedürfnisse westlicher Menschen ist es notwendig, das überlieferte Wissen aufzubereiten und zu adaptieren., wobei auch kulturelle, philosophische und sozialgeschichtliche Hintergründe dargestellt werden.

LehrerInnen der IQTÖ für Qigong und Taji Quan sollen sich durch lebenslange Auseinandersetzung mit den Grundkräften von Yin und Yang ein hohes Maß an Verständnis erwerben und zeichnen sich durch folgende Qualifikationen aus:

  • Umfassende Ausbildung
  • Weiterbildung
  • Ständiges Training und persönliche Weiterentwicklung
  • Verinnerlichung des Wissens und Umsetzung in das Alltagsleben
  • Grundgedanke der geistigen Freiheit, in dem viele Wahrheiten nebeneinander Platz haben. Die Beschäftigung mit spirituellen Inhalten wird überkonfessionell gesehen.    


Quelle

  • Oswald Elleberger (unter Mitarbeit von Elisabeth Dellasega, Oliver Rabl und Dr. Herbert Zechner), Zusammenstellung: Dr. Eduard Tripp

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Qi (wörtlich “Dunst”, “Äther”, “Stoff”) ist ein zentraler Begriff der chinesischen Philosophie und aller traditionellen chinesischen Wissenschaften. Für unseren Sprachgebrauch scheint die Übersetzung “Lebensenergie” passend. Diese Lebensenergie ist eine kosmische Energie, die das gesamte Universum ausfüllt und allen Dingen Leben einhaucht.
2 IQTÖ: Interessensvertretung der Qigong-LehrerInnen und Taiji Quan-LehrerInnen Österreichs, 2013 Göllersdorf, Postfach 22, Tel: +43 (664) 420 7550, http://www.iqtoe.at
3 Das chinesische Schriftzeichen für Shen/Geist unterscheidet sich vom Schriftzeichen für Shen/Körper.
4 Treffender ist der Terminus “Regulation von Körperposition und Bewegung”, der die unterschiedlichen Anforderungen von Statik und Dynamik besser hervorhebt.
5 Der jahrtausende alte Gedanke eines autonomen Zentrums im Bauchraum erfährt heute durch die Wissenschaft eine gewisse Unterstützung, seit man im Plexus myentericus und im Plexus submucosus ein eigenständiges Eingeweide-Nervensystem, ein “Bauchhirn” sieht.
6 Die im Folgenden angeführten Übungssysteme stellen nur eine kleine Auswahl aus den vielfältigen Möglichkeiten des Qigong dar.
7 Für die Bedürfnisse westlicher Menschen ist es notwendig, das überlieferte Wissen aufzubereiten und zu adaptieren.