Die Entwicklung der Chinesischen Medizin auf dem Hintergrund von Geschichte und Kultur. Bezug nehmend auf den medizinsoziologischen Ansatz von Paul U. Unschuld (Eduard Tripp)

Die klassische Medizingeschichte sieht die Entwicklung der Medizin als Abfolge einer fortschreitenden Entdeckung der objektiv gegebenen Natur. Dieser Sicht widerspricht der Medizinhistoriker und Sinologe Paul Unschuld. Sein an Hand der Entwicklung der chinesischen und europäischen (griechischen) Medizin dargelegter Ansatz geht davon aus, dass der Körper nicht ausreichend Aussagekraft besitzt, um das medizinische Denken und Handeln hinreichend zu begründen. Medizinisches Wissen war und ist immer nur „Wahrschein“, nicht „Wahrheit“. Die Entstehung und Fortentwicklung neuer medizinischer Ansätze, so Unschuld, ist weniger eine Folge des wissenschaftlichen oder therapeutischen Fortschritts, sondern vorrangig der sich jeweils wandelnden soziokulturellen und politischen Verhältnisse. Medizinische Theorien jeder Epoche und Region erhalten ihre Überzeugungskraft in einem mehr oder weniger hohen Ausmaß aus ihrer Übereinstimmung mit den sozialen, kulturellen und gesellschaftlichen Normen, Werten und Bedürfnissen ihrer Zeit. Erklärungen werden dann als „wahr“ betrachtet, wenn sie die jeweils vorliegenden Kenntnisse von den Strukturen des Körpers einbeziehen und zugleich die Lebenserfahrungen und die tatsächlichen oder erwünschten Lebensumstände der Menschen widerspiegeln.[1]Dr. Paul Unschuld, geb. 1943, ist Direktor des Horst-Görtz-Instituts für Theorie, Geschichte und Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften, Charité-Universitätsmedizin Berlin … weiterlesen


Heilkunde und Medizin

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Zur Erläuterung seiner These unterscheidet Paul Unschuld zwischen Medizin und Heilkunde.

Medizin ist für ihn das Bemühen, die Gesetzmäßigkeiten normaler und abnormaler Zustände von Körper und Geist, ihre Entstehung und ihre Entwicklung zu verstehen. Auf diese Weise sucht der Arzt Wissen zu erlangen, das erforderlich ist, um normale (gesunde) Zustände zu fördern und abnormale (kranke) zu verhüten. Hat sich ein Krankheitszustand allerdings schon entwickelt, so ist es das Ziel der Medizin, diesen wieder rückgängig zu machen oder zumindest in seinen Auswirkungen zu mildern. Um dieses Ziel zu erreichen, bedient sich die Medizin der Wissenschaften von der Natur des Menschen und seines Lebensraums. Diese wiederum gründen auf der Annahme und Erforschung von Naturgesetzen, die unabhängig von Zeit, Raum und Person Gültigkeit besitzen.

Die Wissenschaft in der Medizin lässt die Oberfläche der Dinge hinter sich und stellt Hypothesen auf, wie der Organismus funktioniert. Sie dringt in die Tiefe der Phänomene ein und hat die Sinne heute schon weit hinter sich gelassen. Immer wieder wird der Wahrschein durch neue Erkenntnisse abgeschüttelt, doch zugleich wird dem Wahrschein immer wieder aufs Neue nachgegeben, weil Theorien auf den Erfahrungen und Einstellungen jener Menschen beruhen, die sie aufstellen. Medizin ist deshalb zu jeder Zeit Handeln zwischen Wahrschein und Wirklichkeit.

Heilkunde ist umfassender als Medizin. Sie bedeutet jegliches Bemühen, den Menschen Heilung zu bringen oder Gesundheit und Glück zu bewahren. Heilkunde beinhaltet auch Gebete zu Gott, Exorzismus von Dämonen oder die Gabe von Substanzen, von denen man weiß, dass sie bestimmte Wirkungen haben oder bestimmte Funktionen beeinflussen. Zu Medizin wird Heilkunde erst dann, wenn sie auf Naturgesetzen beruht, mit denen die Funktionen des Körpers und seine Heilung erklärt werden. Dazu bedarf es einer Theorie, wohingegen Heilkunde auch einfach Erfahrung sein kann oder beispielsweise auf der Annahme der Existenz von Geistern, Göttern, Dämonen oder Ahnen beruht.[2]Auch in der modernen Medizin ist nur ein Teil der Heilbehandlungen in diesem Verständnis als medizinisch anzusehen. In der Orthopädie, so schätzt Unschuld, beruhen etwa 95 Prozent aller … weiterlesen


Die Geburt der Medizin aus der Heilkunde

Den Geschichtsbüchern zufolge begann die Medizin mit der Entdeckung der Naturgesetze, die in der Folge auf die Funktionen des Körpers angewendet wurden. Diese Erklärung ist für Paul Unschuld allerdings keineswegs überzeugend, denn warum sollten die Menschen der Frühzeit ihre bisherige Heilkunde in Frage stellen. Im Gegenteil bot sie ihnen für alles eine Erklärung: Wenn jemand krank wurde, hatten Götter, Ahnen oder Dämonen das Leid geschickt. Gebete um Vergebung, Opfergaben und Buße brachten die gewünschte Wiedererlangung der Gesundheit. Krankheiten, die sich ungeachtet der Gebete, Opfergaben und Bußhandlungen nicht besserten oder gar zum Tode führten, waren unvermeidliches Schicksal. Zu groß war der Zorn der Götter, Ahnen, Dämonen oder Geister. Und andere Beschwerden und Erkrankungen wurden mit Heilmethoden (z.B. bestimmten Kräutern), die sich in der Praxis bewährt hatten, kuriert.

Weder hat das Aufkommen der wissenschaftlich begründeten Heilkunde die traditionelle Heilkunde so in den Hintergrund gedrängt, dass sie völlig in Vergessenheit geraten wäre, noch waren die Therapien der neuen Heilkunde von so überzeugender klinischer Wirksamkeit, dass alles für sie sprach. Der Reiz der neuen Medizin, so Paul Unschuld, lag vielmehr in einem neuen Zugang zur Welt, in einem neuen Verständnis, warum ein Mensch gesund ist oder krank wird.

Naturwissenschaft bedeutet die Annahme von Gesetzmäßigkeiten, die unabhängig von Ort, Zeit und Person das gesamte Geschehen im Universum bestimmen. Sie bedeutet eine radikale Abkehr von der Vorstellung, die Geschehnisse in der Welt seien das mehr oder weniger willkürliche Werk von Göttern, Ahnen und Dämonen. Seit undenklichen Zeiten aber hat gerade die Gewissheit um die Macht von Göttern, Ahnen und Dämonen, die in den Lauf der Dinge eingreifen können und beispielsweise Regen senden oder auch mit Dürre strafen, wesentlich das menschliche individuelle und gesellschaftliche Handeln bestimmt.

Wie, so fragt Paul Unschuld, kann jemand zur Annahme kommen, dass es nicht strafende oder wohlwollende Götter, Ahnen und Dämonen sind, die das Leben bestimmen, sondern absolute Gesetzmäßigkeiten. Die Lebenswirklichkeit der Menschen jener Zeit jedenfalls sprach gegen die Existenz von allgemeingültigen Gesetzen. Überall, ob in Familie, Clan oder Staat, kam es auf persönliche Beziehungen an und Emotionen wie Zorn, Liebe, Rache oder Mitleid bestimmten das zwischenmenschliche Verhalten.

Da sich die Natur und auch die Intelligenz der Menschen in dieser kurzen Zeitspanne nicht verändert haben, müssen andere Anlässe dafür verantwortlich sein, dass es im beginnenden dritten Jahrhundert vor Christi zur Erkenntnis von Naturgesetzen und zur Entwicklung der uns heute bekannten chinesischen Medizin kam. Was sich im wahrnehmbaren Umfeld der Menschen aber immer wieder verändert und sich in dieser Zeit auch dramatisch verändert hat, ist die Gesellschaft im Sinne der Strukturen und Gesetzmäßigkeiten des menschlichen Zusammenlebens: Den Quellen zufolge zerbrach im 8. Jahrhundert vor Christi auf Grund von Thronfolgestreitigkeiten ein stabiles Feudalsystem, und ab etwa 500 vor Christi kämpften eine Vielzahl von Staaten unterschiedlicher Bevölkerungszahl und geographischer Ausmaße um die Vorherrschaft. Eine immer kleinere Anzahl immer größerer Königreiche führte den Kampf mit wechselnden Allianzen so lange fort, bis schließlich im dritten Jahrhundert vor Christi das Königreich Qin das Ringen für sich entschied. Im Jahr 221 v. Chr. wurde das nun geeinte Kaiserreich begründet.


Der weltanschauliche Hintergrund

Die letzten drei Jahrhunderte des Kampfes um die Vorherrschaft werden als die „Zeit der Streitenden Reiche“ (475 v. Chr. bis 221 v. Chr.) bezeichnet und waren sowohl schöpferisch als auch traumatisch. Traumatisch, weil die bisherige Ordnung zerstört wurde, und schöpferisch, weil die Grundlagen jener Kultur hervorgebracht wurden, die wir heute als chinesisch bezeichnen.[3]Während der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen entwickelt. Obwohl sich diese beiden Theorien zunächst getrennt entwickelt haben und, wie … weiterlesen

Wie auch andere Philosophien dieser Zeit wollte die Lehre von Konfuzius (551 bis 479 v. Chr.) einen Weg zu erneuter gesellschaftlicher Harmonie weisen. Die Lebenswelt, in der die innerfamiliäre Moral zugleich die Staatsmoral ist, war zerfallen. Konfuzius antwortete darauf mit einer Betonung verbindlicher Riten, die die Beziehungen zu den Ahnen, aber auch zwischen den Familienmitgliedern, regelten. Riten wurden zum Inbegriff des korrekten Verhaltens und schufen eine Ordnung der Lebenden und der Verstorbenen.

Der rechte Weg (Dao) wurde zum Inbegriff von Ordnung, und für den Konfuzianismus ist Ordnung in einer Gesellschaft nur dann möglich, wenn sich jeder Einzelne verpflichtet fühlt, durch sein Verhalten zu einer Gesamtordnung beizutragen.

Die staatlichen Strukturen der Frühzeit waren noch sehr von einer innerfamiliären Moral geprägt, die zugleich Staatsmoral war. Die Strukturen waren überschaubar und die Willkür der Handlungen des Herrschers wurde verstanden wie die Willkür im Familienverband oder Clan. Mit der Entstehung immer größerer politischer Einheiten in der Zeit der Streitenden Reiche entfernten sich Herrscher und Beherrschte jedoch zunehmend voneinander. Die wachsende Anzahl der Untertanen ließ es nicht mehr zu, dass Einzelfälle wie von einem Familienvater beurteilt werden konnten. Hier liegt der Beginn der Schematisierung der Beziehungen zwischen Herrscher und Beherrschten und auch zwischen den Beherrschten untereinander. Das Funktionieren großer staatlicher Einheiten erforderte verlässliche Entscheidungen, die nur durch eine Bindung an Regeln und Gesetze möglich waren. Gesetze wurden zunehmend als die Grundlage eines einigermaßen friedlichen Zusammenlebens betrachtet:

„Seit jeher hassen die Menschen einander. Das Herz der Menschen ist grausam. Daher erlässt [der Herrscher] Gesetze. Aus der Anwendung der Gesetze ergeben sich Riten. Aus der Durchführung der Riten erwächst Ordnung“ (Guanzi).

Mit der Gründung des geeinten Kaiserreiches erwies sich eine konfuzianistisch-legalistische Sozialphilosophie,[4]Der sieht die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Beachtung jeden gleichermaßen betreffenden Gesetzesnormen garantiert. Für den Konfuzianismus wiederum beruht die gesellschaftliche … weiterlesen die auf Gesetzmäßigkeiten und Riten beruht, als geeignete staatsphilosophische Grundlage. Der Philosoph Xunzi (ca. 300 bis 230 v. Chr.) drückte dieses geänderte Verständnis der Welt wie folgt aus:

„Der Lauf des Himmels / der Natur (tian) folgt einer Regelmäßigkeit. [Diese Regelmäßigkeit] existiert nicht wegen [des guten Herrschers] Yao. Und sie geht nicht wegen [des schlechten Herrschers] Qie verloren. Wer sich dieser [Regelmäßigkeit] anpasst, um Ordnung herzustellen, dem wird Glück zuteil. Wer auf diese [Regelmäßigkeit] antwortet, indem er Unordnung zulässt, dem widerfährt Unheil.“

Während das Schriftzeichen tian (Himmel) ursprünglich auf etwas wie einen Überahn verwies und später dann auf den Ort, wo sich die Ahnen aufhalten, fiel der personale Aspekt nun weg. Das Schriftzeichen nahm jetzt die Bedeutung von „Himmel“ an, steht dabei aber unserem heutigen Verständnis von „Natur“ sehr nahe. Die Bewegungen des Himmels wurden zur Metapher für Unwandelbarkeit und Regelhaftigkeit. Dieser Regelhaftigkeit galt es sich anzupassen: als Herrscher in der Sorge um das Wohlergehen des Staates und – mit der entstehenden Medizin – als Individuum in der Sorge um die persönliche Gesundheit.

Die Vorstellung, dass die Natur einer Regelhaftigkeit unterliegt, d.h. Gesetzen, die nicht willkürlich von Menschen oder Göttern bestimmt werden, vielmehr bei gleichen Ursachen gleiche Wirkungen bedingen, bildete die Grundlage der Entwicklung der uns bekannten medizinischen Heilkunde in China. Der vormedizinischen Heilkunde, die vor allem Arzneikunde, Ahnen- und Dämonenheilkunde umfasste, wurde damit eine medizinische Heilkunde entgegengesetzt, die die kosmischen Regeln und Gesetzmäßigkeiten zu erfassen suchte, nach denen der menschliche Körper funktioniert, um ihn auf Grundlage dieses Wissens zu behandeln.

Der Grund, dass dieses neue, naturwissenschaftliche Verständnis der Welt und des Menschen in jener Zeit auf so fruchtbaren Boden fiel und sich der „Wahrschein“ der Verbindung aller Dinge, ihrer Gesetzmäßigkeit und Regelhaftigkeit entwickelte (die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen), entspringt der sozialen Realität jener Zeit. Gesellschaftliche Interessen ließen den naturwissenschaftlichen Ansatz plausibel werden, verliehen ihm Wahrschein.

Der Glaube an die Regelhaftigkeit der Gesellschaft führte zum Glauben an die Gesetzmäßigkeit der Abfolge in der Natur. Wer die Naturgesetze erkennt, ist nicht mehr auf (angebliche) Mittler zwischen Menschen und Göttern angewiesen. Gesetze in der Gesellschaft schränken die Willkür des Herrschers ein, Gesetze in der Natur die Willkür der Götter. Die chinesische Religion erlebte mit dem Aufkommen der Naturwissenschaften eine deutliche Entpersonalisierung und wurde in einer Weise ritualisiert, die der Sicherung der Harmonie unter den Menschen, nicht aber der Verehrung bestimmter Götter diente.


Die frühe Heilkunde in China

Grabfunde zur Heilkunde aus der frühen Han-Zeit,[5]Die Han-Zeit begann 206 vor Christi Geburt und endete 221 nach Christi Geburt.            Bekannt sind  vor allem die Funde aus … weiterlesen die alle aus dem späten dritten bis frühen zweiten Jahrhundert vor Christi stammen, beschreiben vor allem zwei Krankheitsursachen. Zum einen ist das eine vielfältige Schar von Kleinstlebewesen, die uns aus heutiger Sicht an Mikroben, Viren und Bakterien, aber auch an Würmer und ähnliches mehr denken lassen.[6]Würmer fand man damals ebenso wie heute immer wieder auch im Stuhl. In manchen Teilen Chinas, so Unschuld, sind Würmer noch heute so verbreitet, dass die dortigen Bewohner davon ausgehen, dass ein … weiterlesen Zum anderen konnte auch eine Vielzahl von Geistern und Dämonen den Menschen schaden und sie krank machen.[7]Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in unserer Kultur, weshalb wir von einem Schlaganfall sprechen (ein Schlag, der uns gleichsam aus dem Nichts trifft) oder vom Hexenschuss. Abhilfe gegen Geister und Dämonen gab es in Form von Bannsprüchen und in Form von Rückhalt durch mächtige Verbündete. „Verschwinde“ lautet der Befehl des Heilers oder des Betroffenen an den Verursacher. Und weil das häufig den gewünschten Erfolg brachte, verfestigte sich die Gewissheit von der Einmischung von Göttern und Dämonen in das menschliche Leben.

Gegen durch Kleinstlebewesen verursachte Erkrankungen ging man allerdings anders vor, denn mit ihnen sprechen konnte man nicht. Aber man konnte sie abführen, durch Erbrechen und Schwitzen austreiben und, wenn sie im Körper blieben, abtöten.

Aus dem Wissen um die Verursachung von Krankheiten durch Götter und Dämonen einerseits sowie durch Kleinstlebewesen andererseits bestand die vormedizinische Heilkunde aus Bannsprüchen[8]Eine Bannformel mit einem Befehl des Herrschers der neun Himmel beispielsweise lautet: „Der Herdgott ist freudig gestimmt; der Lenker des Schicksals bereitet Freude“ (zitiert nach Paul U. … weiterlesen und zugleich einer bemerkenswert reichhaltigen und differenzierten Arzneikunde. Diese kannte mehr als zweihundert Natursubstanzen, die mit teilweise aufwendigen Verfahren zu Pillen, Pulvern, Bädern, Salben u.ä.m. verarbeitet wurden.[9]Das erste chinesische Arzneibuch, das im 1. oder 2. Jahrhundert vor Christi verfasst wurde und uns heute in einer um das Jahr 500 nach Christi von Tao Hongjing (452 bis 536) verfassten Version … weiterlesen

Auch die Vorstellung vom menschlichen Körper zur Zeit des ausgehenden dritten und frühen zweiten Jahrhunderts vor Christi war noch eine andere als in der nachfolgenden Medizin des Gelben Kaisers. Sie war bestimmt davon, dass es elf schlauchartige Gefäße gibt, in denen sich Blut und Qi bewegen. Qi geht durch Mund und Nase und andere Körperöffnungen aus und ein. Schriften aus dem ersten Jahrhundert nach Christi legen den Schluss nahe, dass Qi als eine feinstoffliche, luftartige Materie angesehen wurde, die sich verdichten und damit auch sichtbare Form annehmen kann. Sie kann sich verdünnen und unsichtbar in der Luft aufgehen. Alle elf Schlauchgefäße, in denen Qi und Blut fließen, waren mit dem Herz verbunden, aber nicht miteinander verknüpft.


Die Medizin des Gelben Kaisers

Die Schriften des Gelben Kaisers (Huang Di Neijing[10]Das Huang Di Neijing besteht aus zwei Teilen, dem Suwen (Elementare Fragen) und dem Lingshu (Göttliche Achse). Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Werk aus Textstücken verschiedener … weiterlesen unterscheiden sich inhaltlich sehr deutlich von den in Mawangdui ausgegrabenen Texten. Während die Mawangdui-Texte von elf unabhängigen Gefäßen berichten, werden im Huang Di Neijing höchst komplexe Systeme miteinander verknüpfter Gefäße beschrieben: Zwölf große Leitbahnen (Meridiane), die vom Rumpf zu den Fingern, von den Händen zum Kopf, vom Kopf zu den Zehen und von den Füßen wieder zum Rumpf ziehen. Sie gehen ineinander über und bilden ein durchgängiges Leitungssystem, das zweimal – einmal auf der linken und einmal auf der rechten Körperseite – vorhanden ist. Zusätzlich werden Querverbindungen beschrieben und weitere Gefäße, die an vielen Stellen des Gefäßnetzes entspringen und im Gewebe enden. Qi und Blut fließen in diesem Gefäßsystem und versorgen alle Körperteile und Organe.

Jeder großen Leitbahn ist in den Texten des Gelben Kaisers ein Organ zugeordnet. Diese Organe werden erstaunlich genau beschrieben und auch in ihrer Wichtigkeit bewertet. Es wurde zwischen „Innenspeichern“ (Yin-Organen; hier werden Dinge aufbewahrt, die man nicht wieder abgeben möchte) und „Außenspeichern“ (Yang-Organen; hier werden Dinge aufbewahrt, die bald wieder abgegeben werden) unterschieden.[11]Später wurde der Begriff des „Außenspeichers“ durch den Terminus „Amtssitz des Gouverneurs“ oder „Palast“ ersetzt. Jedem dieser Paläste ist ein Gouverneur zugeordnet, der über „die … weiterlesen

Auch wird im Huang Di Neijing eine ganz neue Lehre von den Krankheitsursachen dargelegt. Dämonen und Geister werden ebenso wie Kleinstlebewesen nicht mehr als Verursacher von Erkrankungen in Betracht gezogen. Im Mittelpunkt stehen jetzt Umweltfaktoren wie Wind, Kälte, Nässe, Wärme, Trockenheit und Sommerhitze. Sie werden aber nur als Auslöser betrachtet, nicht als Ursachen. Bei einem einigermaßen maßvollen Leben können die Umweltfaktoren dem Organismus nichts anhaben. Selbstverständlich sollte man sich im Winter warm bekleiden, im Sommer leicht und auch auf andere Weise der Umwelt Rechnung tragen. Wer sich aber durch übermäßige Emotionen wie Trauer, Freude, Grübelei, Zorn, Angst und Sorgen schwächt, so die Lehre des Gelben Kaisers, öffnet damit seinen Organismus zugleich für krankmachende Einflüsse aus der Umwelt.

Der Körper ist diesen eindringenden Faktoren allerdings nicht schutzlos ausgeliefert, vielmehr patrouilliert Qi in den Gefäßen und an der Oberfläche, um den Organismus zu schützen. Der Kampf zwischen eindringenden Krankheitsfaktoren und den Schutztruppen des Qi führt zu typischen körperlichen Reaktionen wie Schüttelfrost und Fieber. Gewinnen die Abwehrtruppen, wird der Eindringling vernichtet. Ist der krankmachende Einfluss allerdings zu stark für die Abwehr, dann schafft er den Weg ins Innere des Organismus und kann dort selbst lebensnotwendige Funktionen beeinträchtigen.

Im Umgang mit Erkrankungen wurde insbesondere die Gesundheitsvorsorge hoch bewertet. Daher finden sich in der neuen Medizin viele Hinweise, wie man die Gefährdungen durch die Klimaeinflüsse vermeidet, wie man seine Gefühle zügeln kann und welche Ernährung man wählen sollte.

„Wenn man [dem natürlichen Lauf von] Yin und Yang folgt, dann [kann man] leben; wenn man ihm zuwiderhandelt, dann [muss man] sterben. Folgt man ihm, dann [entsteht] Ordnung; handelt man ihm zuwider, dann [entsteht] Unordnung. Sich gegen die Anpassung zu wenden, das ist ‚zuwiderhandeln’, das ist die so genannte ‚innere Ablehnung’. Wenn es daher [heißt]: ‚Die Weisen griffen nicht erst dann ordnend ein, wenn eine Krankheit bereits ausgebrochen war; sie ordneten dort, wo noch keine Krankheit bestand. Sie griffen nicht erst dann ordnend ein, wenn es bereits zu Unordnung gekommen war, sie ordneten dort, wo noch keine Unordnung bestand’, so wird dies [durch das oben Angeführte] erläutert. Denn wenn eine Krankheit bereits entstanden ist und man sie erst dann arzneilich behandelt oder wenn Unordnung bereits entstanden ist und man erst dann ordnend eingreift, so ist das vergleichbar damit, einen Brunnen erst dann zu graben, wenn man bereits durstig ist, oder die Waffen erst dann zu schmieden, wenn der Kampf bereits im Gange ist. Wäre das nicht auch zu spät?“ (Huang Di Neijing; Unschuld 1995, S. 30).

Ist eine Erkrankung bereits eingetreten, wurden vor allem Aderlass und Akupunktur angewendet. Beim Aderlass handelte es sich um ein offenbar uraltes Heilverfahren, das aber zunehmend zugunsten der Nadelbehandlung (Akupunktur) in den Hintergrund rückte. Sie wurde angewendet[12]Die älteren Teile des Huang Di Neijing sind noch durch die Anwendung von Aderlass geprägt. Erst später wich der Aderlass, bei dem sichtbares Blut entfernt wird, der Behandlung mit feineren Nadeln … weiterlesen, um den Fluss von Qi und Blut im Organismus zu regulieren.[13]Bei der Anwendung von „Nadeln“ in der Frühzeit der chinesischen Medizin darf man nicht an die heute bekannte Akupunktur mit ihren feinen (und bruchsicheren) Nadeln denken. Die „Nadeln“ der … weiterlesen

Diese Ansätze wirkten auf einen wichtigen Teil der intellektuellen Führungsschicht so überzeugend, dass sie weiter entwickelt und in der Behandlung von Kranken umgesetzt wurden. Eine neue, naturwissenschaftliche Medizin war geboren und alle Anklänge an die numinosen Mächte der Geister, Dämonen oder Ahnen traten in den Hintergrund. Der Organismus wurde über die Theorie der systematischen Entsprechungen, mit den Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen in den großen naturgesetzlichen Zusammenhang gestellt. Und das neue Bild des Menschen wurde auf die Erklärung aller bekannten Krankheiten und auf alle Lebenssituationen angewendet. Die Gesetzmäßigkeiten von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen erlaubten den Menschen eine Einordnung in ein übergeordnetes Geschehen und verhießen ihm durch Anpassung an diese natürlichen und regelhaften Abläufe ein Leben ohne Krankheiten.


Vorbehalte gegen die neue Medizin

So revolutionär das neue medizinische Verständnis auch war, wurde es von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung doch nicht geteilt. Und auch innerhalb der damaligen Elite waren nicht alle von der neuen Medizin überzeugt. Ein wahrscheinlich mindestens ebenso großer Teil von ihr lehnte sie ab.

Dazu muss man sich vergegenwärtigen, dass der kranke Organismus dem Beobachter zwar Zeichen gibt, dass sich ein als normal aufgefasster Zustand in einen unnormalen, als krank angesehenen Zustand gewandelt hat. Die Ursachen dieses Wandels und ihre Abläufe, die in seinem Inneren unsichtbar stattfinden, teilt er ihm aber nicht mit. Alle Körpervorgänge müssen von außen erkannt werden, durch Beobachtung der Veränderungen an Haut, Zunge, Mundgeruch, Puls u.ä.m. Daraus zieht der Arzt seinen Schluss, verknüpft das Wissen um das Sichtbare mit dem Wissen um das Unsichtbare, um Kranksein und Gesundsein zu verstehen. Ein Arzt bewegt sich damit auf dem Boden einer Theorie von Abläufen im Körper. Sie ist zentraler Bestandteil der Medizin, denn sie ermöglicht es, frühzeitig Vorgänge im Körper als „krankhaft“ zu erkennen – schon bevor sie zu einer Beeinträchtigung führen.[14]Eine frühe Darstellung dieses Verständnisses stammt von Sima Qian aus der Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert vor Christi, der eine Biographie über Bian Que verfasste. Eines Tages wurde … weiterlesen


Das gesellschaftliche Vorbild

Der Herrscher von Qin, der sich nach dem Sieg über seine Rivalen „Erster Kaiser von Qin“ (Qin Shi Huang Di; 221 bis 204 v.Chr.) nannte, schuf innerhalb weniger Jahre aus den früher kulturell und wirtschaftlich weitgehend eigenständigen Teilstaaten ein integriertes Ganzes. Er ließ den Nord-Süd-Kanal bauen, der die bisher getrennten Kulturzentren verband, und verordnete eine gemeinsame Schrift, eine gemeinsame Spurbreite, gemeinsame Gewichte und Maße und vieles andere mehr. Damit schuf er die Grundlage für den dauernden Austausch von Gütern und Menschen in seinem Reich und einen aus mehreren Einzelteilen zusammen gesetzten Organismus, in dem jeder Teil zum Wohl des Ganzen beiträgt. Alle Bereiche sind miteinander verknüpft. Und wenn der Verkehr auf den Straßen reibungslos läuft und Waren ausgetauscht werden können, dann ist der staatliche Organismus gesund.

Dieser neue staatliche Organismus bot, so Paul Unschuld, die Grundlage für die neue Sicht auf den menschlichen Organismus. Die verschiedenen Ansichten zu den Funktionen der Organe entsprangen nicht der Beobachtung des Körpers, sondern hatten ihren Ursprung in der Sicht auf den neuen Staat. Der Organismus des Menschen, so postulierten die Schöpfer der neuen Medizin, beruht auf denselben Strukturen wie der Organismus des geeinten Staates. Das Wort, das sie für „heilen“ verwendeten, war daher folgerichtig dasselbe Wort, das auch für „regieren“ und „ordnen“ benutzt wurde. Und „Krankheit“ im menschlichen Organismus wurde dem „Chaos“, der sozialen Unruhe im staatlichen Organismus gleichgesetzt.


Die Bedeutung von Dämonen, Geistern und Kleinstlebewesen im Wandel der Medizin

Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen waren in der chinesischen Heilkunde über lange Zeit hinweg wesentliche Krankheitsursachen. In der neuen Medizin fand dieses alte Wissen keinen Platz mehr.[15]Die Theorie von den Kleinstlebewesen als Krankheitsursache überlebte aber in der auch weiterhin, vor allem im Umfeld des Daoismus praktizierten Kräuterheilkunde. Dieser Paradigmenwechsel von der Bedrohung durch einen grundsätzlich bösen Feind[16]Die dämonologisch begründete Heilkunde geht grundsätzlich davon aus, dass neben den lebenden Menschen eine Vielzahl von in der Regel übelwollenden Dämonen existieren, die zwar ehemals … weiterlesen, dem man nur durch Abschreckung, Vertreibung und Tötung beikommt, hin zur neuen Medizin, deren Krankheitsursachen in bioklimatischen Einflüssen, ungünstigen Ernährungsweisen und übermäßigen Emotionen liegt, war vom Zeitgeist geprägt. Die „neuen Krankheitserreger“ fügten sich der Moral. Jeder Mensch, der sein Verhalten sittlich ordnet, wozu auch die Anpassung an die Gesetze der Natur zählt, kann davon ausgehen, kein Opfer dieser Krankheitsursachen zu werden.[17]Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen handeln unmoralisch, halten sich nicht an Gesetze und schlagen zu, egal ob ihr Opfer sich gut oder schlecht benommen hat. Jeder kann ihr Opfer werden. Diese Beeinflussung des Schicksals durch das eigene Verhalten ließ es (wieder) lohnend erscheinen, moralisch und sittlich zu leben. Wenn Sitten und Moral den Menschen selbstverständlich sind, wenn jeder Mensch sich nach Rang und Stand verhält, dann, so die Philosophie des Antiken China, herrschen Frieden und Harmonie in Staat und Organismus.

Maßhalten war ein zentraler Aspekt der neuen Geisteshaltung: Maßhalten beim Essen und Trinken und Maßhalten im Umgang mit dem anderen Geschlecht. Auch Maßhalten bei den Emotionen wurde für wichtig erachtet, denn jede Gemütsäußerung ist mit einem Organ verbunden und kann es schädigen. Wird eines der Organe durch übermäßige emotionale Beanspruchung zu sehr geschwächt, dann entsteht Leere in ihm, in die ein Krankheitsfaktor von außen eindringen kann. Aber selbst wenn man sich einmal falsch verhalten hat, gibt es Möglichkeiten zur „Rückkehr in den Frühling“.[18]Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen handeln unmoralisch, halten sich nicht an Gesetze und schlagen zu, egal ob ihr Opfer sich gut oder schlecht benommen hat. Jeder kann ihr Opfer werden. Diese Möglichkeit bestand aber nicht bei irreversiblen Schäden durch Kleinstlebewesen, weshalb diese Theorie nicht in die Sichtweise der neuen Medizin gepasst hat.


Arzneikunde und neue Medizin

In den neuen Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen zur Erklärung von physiologischen und pathologischen Vorgängen im Körper fand die Arzneimittelkunde trotz ihres hohen Standards (eine große Zahl verwendeter Substanzen, viele technische Aufbereitungen unterschiedlicher Arzneien und eine große Bandbreite von Indikationen) kaum Beachtung.[19]Die Substanzen der Arzneimitteltherapie wurden – in einer deutlichen Parallele zu den daoistischen Sozialvorstellungen – in drei Gruppen unterteilt. Die oberste und vornehmste Gruppe der Arzneien … weiterlesen Für Paul Unschuld liegt die Ursache dafür in der schon oben ausgeführten grundlegenden Ausrichtung der neuen Staatsphilosophie. Die Nadelbehandlung (Akupunktur) war – wie das ideale politische Handeln – vor allem für die Vorbeugung von Krisen bestimmt, weniger für bereits ausgebrochene Krankheiten.[20]Während die Nadelbehandlung bei Erkrankungen im Frühstadium eingesetzt wurde, um eine Umkehrung des pathologischen Prozesses zu bewirken, wurden manifeste Erkrankungen durch Diätetik und … weiterlesen

Etwa 200 nach Christi versuchte Zhang Zhongjing (auch Zhang Ji genannt, ca. 150 bis 219) erstmals eine Brücke zwischen der Arzneikunde und der neuen Medizin zu schlagen. Er wandte die neuen Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen auch auf die Wirkungen der Arzneisubstanzen im Körper an.[21]Das Shanghan zahing lun (Über verschiedene durch Kälte verursachte Erkrankungen) von Zhang Zhong Jing wurde wahrscheinlich bereits im 3. Jahrhundert durch Wang Shuhe, spätestens jedoch im 11. … weiterlesen Sein Versuch blieb jedoch bis ins 11. Jahrhundert ein Einzelfall, und die medizinischen und pharmazeutischen Traditionen der chinesischen Heilkunde blieben über lange Zeit unverbunden.


Volksmedizin

So wie in Europa bis ins 19. Jahrhundert hinein nur ein kleiner Teil der Bevölkerung einen manchmal durchaus fragwürdigen Nutzen aus dem Können der an Universitäten ausgebildeten Ärzte ziehen konnten, waren auch in China diejenigen Ärzte, die Literatur lesen konnten und diese in ihrer heilkundlichen Praxis auch zur Anwendung brachten, in der Minderheit. Ihre Hilfeleistung kam nahezu ausschließlich der gebildeten Oberschicht zugute.

Welches Wissen die Heilkundigen der breiten Volksmassen beherrschten und auf welche Weise sie die Krankheiten ihrer Patienten behandelten, ist weithin unbekannt. Einen kleinen Einblick in das heilkundliche Alltagsleben Chinas gewährt das Chuanya (Aneinanderreihung des Außergewöhnlich Feinen) von Zhao Xuemin (ca. 1720 bis 1805). Das 1851 erstmals verlegte Werkt beruht auf Aufzeichnungen eines ansonsten unbekannten Wanderarztes namens Zong Boyun sowie weiterer Quellen der Volksmedizin.

Auffallend in diesem Text ist, dass die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen fast vollständig fehlen. Für Paul Unschuld ist das allerdings nicht weiter überraschend, denn allein die gebildete Oberschicht der Kaiserzeit lebte in einem Umfeld, in dem die Vorstellungen von einer ewigen Gesetzmäßigkeit der Abläufe im Universum und im menschlichen Organismus überzeugend wirken konnten. Nur sie lebten in einem Bewusstsein, dass es dem einzelnen Menschen obliegt und vorhersehbaren Nutzen einbringt, sich in die gesellschaftliche Ordnung einzufügen. Denn nur wer sich in diese Ordnung einfügte, konnte sich seiner Laufbahn oder zumindest existentieller Sicherheit gewiss sein.

Die Lebenswelt vor allem der Landbevölkerung war hingegen vollkommen anders. Auch noch so großer körperlicher Einsatz konnte nicht verhindern, dass unvorhergesehene Katastrophen sie um die Früchte ihrer Arbeit oder gar ums Leben brachten. Oft waren die Katastrophen auch durch Eingriffe einer korrupten Verwaltung bedingt. Und so kennzeichnete die gesellschaftliche und „medizinische“ Heilkunde der unteren Volksschichten vor allem das Bemühen, sich mit den Mächtigen zu arrangieren.[22]Das Chuanya unterteilt die Arzneimittelwirkungen in solche, die im Körper aufsteigen, solche, die im Körper absinken, und solche, die einen Krankheitsverlauf oder einen organischen Zusammenhang … weiterlesen


Das Ende der Han-Dynastie und beginnende Kritik am Konfuzianismus in der Zeit der Tang-Dynastie

Mit dem Untergang der Han-Dynastie (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) erlebte China wechselnde Herrscher, die sich jedoch der hohen chinesischen Kultur anpassten. Der kulturelle Boden blieb damit unverändert. Der große Kanon der antiken Literatur wurde zwar zeitgemäß neu gedeutet, blieb aber in seiner Substanz erhalten. Im Wesentlichen unverändert blieb auch die Herrschaftsstruktur, der Kaiserstaat mit seiner Bürokratie. Und durch die enge Vertrautheit eines Gebildeten mit der Geschichte Chinas und ihren geistigen Ursprüngen blieben die alten Ideale und Grundstrukturen bestehen: Konstanz trotz allen Wandels.

Die Tang-Dynastie (618 bis 907) war eine der blühendsten Epochen chinesischer Geschichte. Sie führte wieder zusammen, was mit dem Ende der Han-Zeit auseinanderbrach und war eine Zeit intensiver Beziehungen zu fremden Ländern und Kulturen. Waren kamen aus weit entfernten Ländern in das Reich, und die großen Städte bildeten Sammelbecken für Angehörige vieler Völker und Religionen.

Im medizinischen Bereich allerdings kam es zu keinerlei Neuerungen. Die Berührungen mit den Heilkunden fremder Länder hatten kaum Einfluss auf die chinesischen Medizintheorien.[23]Spuren der griechischen Vier-Säfte-Lehre finden sich beispielsweise in den Werken von Sun Simiao (581 bis 682?), einem der bedeutendsten Ärzte Chinas. Es gab aber auch kritische Stimmen in dieser Zeit. Li Ao (gestorben 844) veröffentlichte eine Schrift, in die er – eingepackt in eine medizinische Metapher – den Konfuzianismus kritisierte, der keine Metaphysik und keine Wärme des Verständnisses, der Gnade und der Verzeihung anbietet. Mit dem Knöterich, einer in den Arzneibüchern nicht beschriebenen Pflanze, verband er die Geschichte eines alten, zeugungsunfähigen Mannes, der in der Wildnis dem Trunk verfallen einschläft und am Morgen zwei Stängel einer ihm bislang unbekannten Pflanze sieht, die sich gegenseitig umwinden. Die mit vielen Anspielungen gespickte Geschichte läuft letztlich darauf hinaus, dass der impotente Trinker für den Konfuzianismus steht. Die beiden Pflanzen symbolisieren den Daoismus und den Buddhismus. Der Mann folgt dem Rat seiner Freunde, nimmt ein Extrakt der beiden Pflanzen ein und hat bald zahlreiche Söhne.[24]Viele Ärzte haben diese Geschichte allerdings nicht als Metapher erkannt, so dass sich – teilweise bis in die Gegenwart – die unrichtige Meinung erhalten hat, dass Knöterich weißes Haar wieder … weiterlesen


Der Neokonfuzianismus der Song-Dynastie

Etwa drei Jahrhunderte später wurde das umgesetzt, was Li Ao empfohlen hatte. Es entwickelte sich der Neokonfuzianismus, die so genannte „Song-Lehre“. Die Philosophen der Song-Zeit[25]Die nördliche Song-Dynastie dauerte von 960 bis 1127, die südliche Song-Dynastie von 1127 bis 1270. Wichtige Philosophen dieser Zeit waren Zhang Zai (1020 bis 1077), die Brüder Cheng Hao (1032 bis … weiterlesen schufen Kosmologien zur Verknüpfung der Menschenwelt mit der Natur und erschufen eine Metaphysik, die in Konkurrenz zu den buddhistischen Lehren treten konnte: Alle Menschen sind Brüder, sind miteinander verbunden und einander verpflichtet. Ein neues Bild der Welt entstand, in dem die Beschäftigung mit Menschen gleichberechtigt zur Beschäftigung mit Dingen wurde.

Zur selben Zeit (1126/27) besetzten die Dschurdschen, Steppennomaden, den Norden Chinas und lösten eine Flüchtlingswelle in den Süden aus. Die Einwohnerzahlen der südlichen Städte wuchsen in die Millionen und die wirtschaftlichen Zentren lagen nun geballt im Süden. Die rasch wachsende Komplexität der ökonomischen Struktur beeinflusste vor allem Handel und Verkehr.

Im Bereich der Medizintheorie blieben die Auswirkungen des Neokonfuzianismus und der veränderten wirtschaftlichen und sozialen Strukturen nur geringfügig.  Letztlich bestätigte sich in der Song-Zeit nur das Bild, das schon im Huang Di Neijing entworfen wurde: Regionen sind verbunden und tauschen Waren auf vielen Wegen aus.

Veränderungen betrafen nahezu nur die Verbindung der konfuzianistisch-legalistisch inspirierten Medizin mit der bislang im Umkreis des Daoismus angesiedelten Arzneimittelkunde. Die chinesische Regierung eröffnete im 11. Jahrhundert staatliche Apotheken für Fertigrezepturen[26]Erste Hinweise auf (Vorläufer von) Apotheken finden sich in der Han-Zeit, wobei der Flaschenkürbis, die Kalebasse (hulu) bis heute Symbol der Arzneikunde geblieben ist. und veröffentlichte 1078 eine Sammlung von Standardrezepturen (Taiyin fang, Rezeptvorschriften des Kaiserlichen Medizinalamtes).

Diese waren so gestaltet, dass (gebildete) Kranke ihre Beschwerden mit einer Tabelle mit den Indikationen der Rezepte vergleichen konnten. In der Apotheke konnte man dann die gewünschte Rezeptur kaufen.[27]Um Fälschungen vorzubeugen, verfügte die chinesische Regierung im Jahr 1136, dass alle von staatlich beaufsichtigten Apotheken für Fertigrezepturen ausgegebenen Produkte mit einem Markenzeichen zu … weiterlesen Der Weg des Patienten führte direkt in die Apotheke, der berufsmäßige Arzt war damit überflüssig.[28]Den um Moral besorgten Konfuzianern war der Arztberuf grundsätzlich fragwürdig. Hilfe im Krankheitsfall wurde als Menschenpflicht, insbesondere Kindespflicht betrachtet. Berufstätige Ärzte … weiterlesen

Die Pharmakologie, die sich infolgedessen geradezu als Gegenbewegung zur Entmachtung der Ärzte durch die Apotheker entwickelte, vermittelte den Ärzten das Wissen, wo und wie Arzneien im Körper wirken.[29]Kritisch merkt Paul Unschuld an, dass die Befundung des Arztes, z.B. einer Nieren-Yin-Schwäche bis heute nicht überprüfbar ist. Es gibt keine objektiven Deutungsmuster. Letztlich wurde nicht eine … weiterlesen Sie baute auf dem Werk von Zhang Zhong Jing (Zhang Ji)[30]Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert kam es geradezu zu einer Renaissance der Werke von Zhang Zhong Jing. Es entstanden zahlreiche Neuauflagen und Kommentare seiner Abhandlung über die … weiterlesen auf und vermittelte ein Wissen, das die Apotheker nicht hatten.

1111 bis 1117 wurde das Shengji zonglu (Gesamtverzeichnis der Hilfestellung der Weisen) publiziert, eine Rezeptsammlung, in der alles bisher veröffentlichte Wissen zusammengefasst wurde. Fast 20.000 Rezepte wurden so erfasst, Rezepturen von Ärzten ebenso wie Vorschriften aus dem gemeinen Volk, Bannsprüche aus dem Bereich der Dämonologie und astrologische Empfehlungen.[31]Das Shengji zonglu enthält eine der umfangreichsten Sammlungen von als heilwirksam angesehenen Bannschriftzeichen. Erst die Ausgaben dieses Werks in der Volksrepublik China verzichteten auf die … weiterlesen

Die neue Pharmakologie baute auf dem Werk von Zhang Zhong Jing (Zhang Ji) auf, der schon etwa 200 nach Christi die ersten Schritte unternommen hatte, eine wissenschaftliche Pharmakologie zu erschaffen. Die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen wurden nun auch auf die Erklärung der Wirkung von Arzneidrogen im Organismus angewendet.


Die Sinnentleerung des Neokonfuzianismus in der Ming-Dynastie

Nach der Herrschaft der Mongolen, die zu einem Niedergang der Wirtschaft führte, kam wieder ein Chinese auf den Kaiserthron und begründete die Ming-Dynastie (1368 bis 1644). Die Beamtenprüfungen, die nun als elitäres Instrument zur Unterdrückung der unteren Volksschichten galten, wurden so sehr vereinfacht, dass praktische Fähigkeiten wichtiger wurden als literarische Bildung. Der von den Herrschenden geförderte Neokonfuzianismus wurde zunehmend sinnentleert. Seine Aneignung bestand vor allem darin, Texte auswendig zu lernen und in der Prüfung vorzutragen. Das Lernen wurde damit zur Formsache, die Inhalte ohne prägenden Einfluss auf späteres Denken und Handeln. Bildung wurde zu Scheinbildung, und zugleich wurden die Standesunterschiede verwischt, so dass die Herrschenden zunehmend mit den Ansichten der weniger Privilegierten in Berührung kamen.

Schon in der Song-Zeit hatten gelehrte Mediziner und Naturbeobachter die neue Freiheit genutzt, das vorhandene Wissen zu erweitern. Dabei gelangten sie allerdings zu unterschiedlichen Ergebnissen. Jeder fand andere Gründe, warum die Menschen krank werden, und jeder verkündete, immer auf der Grundlage der klassischen Theorien, eigene Rezepte, dem Kranksein vorzubeugen und Krankheiten zu heilen. Es kam zu einem Nebeneinander unterschiedlicher Ansätze, in dem keine der vielen Lehrmeinungen zumindest auch nur zeitweilig dominierte.[32]Liu Wansu (1110 bis 1200) fand die Ursache für Erkrankungen in einer Überhitzung des Körpers, Zhang Congzheng (1156 bis 1228) in einem Eindringen pathogener Einflüsse (die allesamt mit … weiterlesen Diese Individualisierung setzte sich in der Ming-Zeit sogar noch weiter fort und verlor auch in der nachfolgenden Epoche nichts an Kraft.


Die Rückkehr der Empirie in der Qing-Dynastie

Als das Steppenvolk der Mandschu China eroberte und die Qing-Dynastie (1644 bis 1911) begründete, bleiben auf dem ersten Blick die Strukturen dieselben wie eh und je. Die Mandschu ließen sich von der Lebensart der Chinesen durchdringen.[33]Ein offensichtliches Zeichen der Fremdherrschaft des Reitervolkes aus dem Norden war allerdings der den Chinesen aufgezwungene Zopf.

Unter den Kaisern Kangxi (1662 bis 1723) bis Qianlong (1736 bis 1796) blühte das Land in jeder Hinsicht, dann jedoch begann der Niedergang der Dynastie. Die neokonfuzianischen Song-Lehren erschienen zunehmend suspekt und wurden als Grund für die Unfähigkeit gesehen, das eigene Land zu regieren. Gu Yanwu (1613 bis 1682) betrachtete das leere Theoretisieren der Beamten als Ursache dafür, dass ihnen die Fähigkeit fehlt, die politischen Realitäten einzuschätzen und das Land vor Unheil zu bewahren. Vor allem die Einflüsse von Daoismus und Buddhismus auf den Konfuzianismus wurden als fatal angesehen. Und im medizinischen Bereich wurde die Pharmakologie als untaugliche Theorie erachtet, die Arzneiwirkungen erklären zu können. Es folgte eine Rückkehr zu den empirischen Erfahrungen, zu den sichtbaren Wirkungen der Substanzen.


Der Abstieg der Akupunktur

1601 erschien das Zhenjiu dacheng („Große Enzyklopädie des Nadelns und Brennens“) von Yang Jizhou (1522 bis 1620), dennoch aber geriet die Akupunktur in der Mitte des zweiten Jahrtausends zunehmend in den Hintergrund. Um 1500 schrieb Wand Ji, ein namhafter Arzt und Autor, dass niemand mehr Akupunktur praktizieren könne. Auch ein weiterer berühmter Arzt und Autor, Zhang Jiebin (ca. 1563 bis 1640) stellte fest, dass es keine Experten in der Akupunktur mehr gäbe. Xu Dachun (1693 bis 1771) zufolge ließen sich mit Akupunktur wunderbare Heilungen erzielen, sie sei aber der Missachtung verfallen und würde nicht mehr häufig praktiziert.[34]Xu Dachun: Yixue quanliu lun (Über Ursprung und Entwicklung der Medizin), 1757.

Die Akupunktur war – im Unterschied zur Pharmakologie, die lange Zeit ganz ohne Deutung auskam – untrennbar mit den Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen verbunden und geriet mit ihrer Ablehnung immer mehr in Vergessenheit.[35]Inwieweit die Akupunktur ohne Handlungsanweisung durch die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen, die Xu Dachun bezweifelte und ablehnte, stabile Wirkungen zeigen kann, ist bis … weiterlesen Lediglich in der Volksmedizin und innerhalb gewisser Routinen fand die Akupunktur noch einen Platz. Die Volksmedizin nahm auf, was von der Elite verworfen wurde.

Xu Dachun zufolge gab es noch zwei weitere Gründe für die nachlassende Bedeutung der Akupunktur: Erstens ist sie schwieriger zu erlernen als die Arzneikunde, und zweitens wollten die Menschen nicht mehr gestochen werden. Eine Arznei, die eingenommen wird, erschien ihnen viel unproblematischer.


Friseure und Masseure beschleunigen den Abstieg der Akupunktur

1822 wurde aus dieser Entwicklung heraus die weitere Anwendung der Akupunktur als zu unsicher untersagt. Zudem setzte noch eine weitere Entwicklung ein, die den Abstieg der Akupunktur noch beschleunigte: Der Eintritt der Friseure in die Heilkunde.[36]Ähnlich hatten die Barbiere in Europa Jahrhunderte lang, in manchen Teilen Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert, einen festen Platz im Spektrum der Heiler.

Die Friseure, deren Dienste in der Qing-Zeit unentbehrlich waren, weil die Mode bei den Männern verlangte, sich den Kopf von der Stirn bis zur Kopfmitte kahl zu scheren, begannen ihren Kunden nun auch Massagen anzubieten. Tuina, Massage durch Ziehen und Schieben, erreichte binnen kurzer Zeit große allgemeine Beliebtheit. Tuina war billig, sicher und nahezu ohne Nebenwirkungen. Ein geschickter Masseur konnte mit wenigen Handgriffen so manche medizinische Wirkung auslösen und damit auch teure Arzneikosten sparen.

Während Akupunktur kostspielig, schmerzhaft und oft auch gefährlich war, konnten mit Tuina auch Kinder gefahrlos und effektiv behandelt werden. Selbst der Kaiser ließ sich mit Massagen behandeln, was zu einer weiteren Verbreitung dieser Therapie führte und der Akupunktur Kunden entzog.


Die Begegnung mit der westlichen Medizin

Die kulturelle Oberschicht Chinas hatte etwa zwei Jahrtausende lang an einer Medizin festgehalten, die ihre Vorstellungen den Strukturen der antiken Reichseinigung und den gesellschaftspolitischen Idealen der konfuzianischen und legalistischen Sozialphilosophie verdankte. Die sozialen Strukturen waren nun schon seit Jahrhunderten erstarrt, ihre Inhalte zu leeren Worthülsen verkommen. Die Strukturen des antiken Reichs hatten sich überlebt. Als Konsequenz wankte das Kaiserreich im 19. Jahrhundert und fiel zu Anfang des 20. Jahrhunderts (1911). Völlig neue Formen des gesellschaftlichen Lebens waren jetzt gefordert.

Auch in der Medizin existierte schon seit längerem kein homogenes System von Ideen und Praktiken mehr. Es gab vielmehr eine in unzählige Fraktionen zersplitterte Heilkunde. Auf diesem Hintergrund ereignete sich die Begegnung mit der europäischen Medizin, die sich in vielem zwar deutlich von der chinesischen unterschied, von so manchen Grundideen her jedoch vertraut war: Wer den im Körper und in der Natur herrschenden Grundgesetzen folgt, so das Verständnis in Ost und West, der überlebt und bleibt gesund. Die Natur ist unerbittlich, und es ist deshalb die Aufgabe der Medizin, die Menschen vor dieser Unerbittlichkeit zu schützen. Und auch die damals im Westen neue Theorie von den feindseligen Keimen, die vom Körper ferngehalten werden müssen, war in China schon seit Jahrtausenden Kernbestandteil des heilkundlichen Denkens.

1835 eröffnete der US-amerikanische Missionar und Arzt Peter Parker (1804 bis 1888) eine augenheilkundliche Praxis in Kanton. Seine chirurgischen Eingriffe waren so eindrucksvoll, dass die Kranken bei ihm Schlange standen. Bald kamen weitere ärztlich gebildete Missionare nach China und lockten mit der Aussicht auf Behandlung körperlicher Leiden die Chinesen in ihre Praxen – (auch) in der Hoffnung, sie von dort in ihre Kirchen umzuleiten. Und bald wagten sich auch die ersten Chinesen in die USA, um diese neue, fremde Medizin zu studieren.[37]1929 waren bereits 9.000 chinesische Ärzte mit einer Ausbildung in westlicher Medizin registriert. 1960 waren es knapp 160.000 und 1971 standen 700.000 Betten in Spitälern für westliche Medizin … weiterlesen


Die Abwendung von der traditionellen Medizin

Der vermutlich erste europäische medizinische Text, der in chinesischer Sprache veröffentlicht wurde, war eine kleine anatomische Abhandlung des Jesuiten Johann Schreck (1576 bis 1630).[38]Veröffentlicht wurde die Schrift, die durch die anatomischen Studien von Vesalius (Andreas von Wessel) beeinflusst war, erst nach Johann Schrecks Tod von Bi Gongchen (Taixi renshen shuogai, … weiterlesen Mitte der 1850er Jahre schrieb der englische Arzt Benjamin Hobson ein mehrbändiges Werk zur Einführung in die westliche Wissenschaft und Medizin, das er mit Hilfe von Guan Maocai ins Chinesische übersetzte (Xiyi luelun, Übersicht über die westliche Medizin). Sowohl die technischen Errungenschaften wie auch eine Medizin, die sich dieser Technik bediente, war in China unbekannt und beeindruckend.[39]Hobson bot detaillierte Einblicke ins Körperinnere, wie sie in China bislang unbekannt waren, legte Operationen dar und stellte auch die dazugehörigen chirurgischen Instrumente dar. Besonders überzeugend waren die Erfolge der westlichen Medizin im Kampf gegen die große Pest im Jahre 1910 in der Mandschurei. Hier war es der Bakteriologe Wu Lien-Teh, der die Epidemie wirksam in die Schranken wies.

Parallel zu der damit beginnenden Wiedergabe von Texten westlicher Autoren in chinesischer Sprache erschienen zunehmend auch Schriften chinesischer Autoren, die es sich zum Ziel gemacht hatten, westliche und chinesische Medizin zu vereinen. Tang Zonghai (1847 bis 1897) verfasste als einer der ersten klassisch gebildeten Ärzte ein Werk der Zhongxi-(chinesisch-westlichen-)Medizinliteratur. Sein Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens) von 1884 forderte „das Alte zu schätzen, dem Alten aber nicht blind zu vertrauen“ und sich zugleich der westlichen Medizin nicht zu verschließen.

Für die Elite Chinas deutete alles darauf hin, dass nur westliche Technik und westliche Medizin den „kranken Mann China“ wieder zu Kräften bringen können. Zweitausend Jahre chinesischer Kulturtradition, so sah es eine immer größere Zahl chinesischer Reformer, fanden ihr Ende. Beschleunigt durch die Demütigung Chinas von den imperialen Mächten nach dem 1. Weltkrieg fiel deshalb die Entscheidung, westliche Wissenschaft und Technik kompromisslos anzunehmen.[[40]Diese Haltung wurde auch durch das Beispiel Japans bestärkt, das sich mit den Meji-Reformen des Jahres 1868 erfolgreich der westlichen Zivilisation geöffnet hatte. Hohn und Spott ergossen die Reformer über die eigene heilkundliche Tradition. Die chinesische Medizin wurde gleichsam zum Symbol der veralterten Denkweise der Väter und Vorfahren.[41]Im Unterschied zum Fortschrittsverständnis der westlichen Welt ist die Geschichte der chinesischen Heilkunde nicht so sehr die Abfolge immer neuer Erklärungsmodelle (einhergehend mit einem Wandel … weiterlesen Und so kam es Ende der 1920er-Jahre sogar zu einer Gesetzesinitiative, die traditionelle Medizin ganz zu verbieten. Sie scheiterte aber am Widerstand der Bevölkerung, der chaotischen innenpolitischen Lage während des Bürgerkriegs und an der japanischen Invasion.


Rückbesinnung auf die alten Lehren

Nach dem Sieg der kommunistischen Volksbefreiungsarmee und der Gründung der Volksrepublik China im Jahr 1949 berief man sich auf das Vermächtnis des Volkes, auf das Erbe der traditionellen Medizin, um die „Vorteile beider Systeme“ zu nutzen.[42]Seit dem Ende der 70er-Jahre gilt eine Politik der „Drei Wege“, in dem sich westliche Medizin und traditionelle Medizin in ihrem eigenen Rahmen fortentwickeln sollen. Den dritten Weg beschreiten … weiterlesen Zugleich aber wurden die alten Lehren von innen her ausgehöhlt, distanziert als Versuch betrachtet, das Metaphysische und Religiöse zu verlassen, um sich den Naturwissenschaften zu öffnen. Von 1950 bis 1975, so Paul Unschuld, haben Kommissionen das alte Ideengebäude „entkernt und völlig neu von innen aufgebaut“.[43]Aus den alten Traditionen wurden vor allem diejenigen Anteile herausgelöscht, die an die religiösen und metaphysischen Vorstellungen der Vergangenheit erinnern und aus heutiger … weiterlesen Versatzstücke aus der Vergangenheit wurden sorgsam zusammengefügt, so dass sie nicht mehr mit der Wirklichkeit der neuen Medizin des Westens kollidieren. Dabei entspricht der Neuaufbau in seiner inneren Logik dem modernen wissenschaftlichen Denken. Das alte, so typisch chinesische Sowohl-als-auch wurde durch das Entweder-Oder westlicher Denkart ersetzt. Zigtausende Bücher verschiedenster Denkstile und hunderttausende Buchkapitel mit heterogenen Inhalten wurden in „dünne Übersichten“ kondensiert.


Die Traditionelle Chinesische Medizin im Westen

Westliche Besucher Chinas, insbesondere nach der Öffnung Chinas Mitte der 1970er Jahre, lernten mit Staunen Akupunktur- und Kräuterbehandlungen kennen sowie die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen.[44]Die theoretischen Inhalte und klinischen Anwendungen der chinesischen Medizin haben in Europa seit dem 17. Jahrhundert Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahre 1682 veröffentlichte der Arzt Andreas Cleyer … weiterlesen Aus den Zusammenfassungen wurden wieder viele dicke Bücher, die den westlichen Menschen die Botschaft des Wissens einer mehrtausendjährigen Kultur kündeten.

Schlagworte wie Ganzheitlichkeit, Natur und Lebensenergie wirkten im Westen vielversprechend in einer Zeit, in der Chemie, Physik und Technik in den schrecklichen Verdacht gerieten, nicht geeignet zu sein, die anstehenden Probleme der Menschheit zu lösen. Energiekrisen, bevorstehende Naturzerstörung, Chemie in den Lebensmitteln und aggressive Methoden in der Medizin führten zu einer Hinwendung zu naturheilkundlichen Verfahren, bei denen Kräuter benutzt werden und Nadeln, die man nach ihrem Gebrauch wieder entfernt. Die traditionelle chinesische Medizin[45]Der Begriff „Chinesische Medizin“ oder „Traditionelle Chinesische Medizin“ hat mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Bedeutungen (Paul U. Unschuld, … weiterlesen bot sich hier gleichsam als säkularisierte Religion an[46]Säkular in dem Sinne, dass im System von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen die zentralen Fragen der Einbindung in das große Ganze beantwortet werden: „Warum bin ich?“, „In welchem … weiterlesen, die Sinn vermittelt und die organische Lebenskraft in den Mittelpunkt von Diagnostik und Behandlung stellt.

In der westlichen Medizin hat sich die Technik zwischen Arzt und Patient geschoben. Obwohl damit ein ungeheurerer Fortschritt im Erkennen der Wirklichkeit der Krankheit verbunden ist, vermissen viele Menschen den Arzt, der sie persönlich behandelt und dabei auch ihr persönliches Schicksal in Betracht zieht. Die „Apparatemedizin“ macht Angst und fördert damit auch das Streben nach einer Alternative. Als eine solche Alternative bietet sich die Traditionelle Chinesische Medizin (TCM) an – in Gestalt der Akupunktur, in der sich nichts Unpersönliches zwischen Arzt und Patient drängt, und in Gestalt der „Kräutertherapie“, die natürliche Produkte verwendet.[47]Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung handelt es sich bei der heute angewendeten chinesischen Arzneimitteltherapie nicht um eine „Kräutertherapie“, da auch viele mineralische und tierische … weiterlesen

Genau betrachtet wurde die TCM aber vom Westen, so Paul Unschuld, nicht einfach übernommen, sondern als Heilkunde im Westen neu geschaffen. Sie baut im Wesentlichen auf westlichen Ängsten und Bedürfnissen auf und benutzt Teile und Aspekte der chinesischen Medizin.[48]Das es ausschließlich europäische und amerikanische Autoren sind, deren Bücher im Westen Erfolg haben, führt Paul Unschuld vor allem darauf zurück, dass den chinesischen Autoren die spezifischen … weiterlesen

Ein zentraler Aspekt der TCM im Westen ist ihre Ausrichtung als sanfte und ungefährliche Methode. Sie wird auf diese Weise der westlichen, gefährlichen und zuweilen auch tödlichen Medizin gegenübergestellt und benutzt aus diesem Grund auch kaum militärisches Vokabular. Sie spricht davon, dem Organismus seine Harmonie zurückzugeben, Yin und Yang zu balancieren und Energien auszugleichen. Sie verheißt Frieden, Harmonie und Empathie, schließlich, so Paul Unschuld, geht es ihr ja auch darum, Ängste zu beruhigen. Für die historische chinesische Medizin war eine kämpferische Sprache über die Jahrtausende jedoch selbstverständlich. Der Gebrauch von Arzneien beispielsweise wurde üblicherweise mit dem Einsatz von Soldaten im Krieg verglichen.[49]Im Westen hielt eine vergleichbare militärische Terminologie erst mit dem Siegeszug von Bakteriologie und Immunologie Einzug in die Medizin.

Die Traditionelle Chinesische Medizin als sanfte und ungefährliche Methode einer westlichen Medizin gegenüberzustellen, die viele Opfer fordert, vergleicht, wie es Paul Unschuld formuliert, Äpfel mit Birnen. Zu verschieden sind die Anwendungsgebiete, um westliche Medizin und chinesische Medizin gegeneinander abzuwägen. In vielen Bereichen ist die TCM erfahrungsgemäß und nachweislich nicht wirksam oder wird dort gar nicht angewendet. Und auf der anderen Seite gibt es auch bei der Anwendung der chinesischen Medizin zahlreiche Risiken, Schäden und (wenngleich selten) sogar Todesfälle.[50]Ursachen dafür sind z.B. verunreinigte Kräuter (Pflanzenschutzmittel, Unkrautvertilgungsmittel, Schwermetalle etc.), falsche Dosierungen (z.B. bei der Gabe von Aconit, Eisenhut) oder die Auslösung … weiterlesen


Und die Zukunft?

Ganz im Sinne seines Ansatzes sieht Paul Unschuld das Leuchten der Theorie der chinesischen Medizin im Lichte des Wahrscheins. Sie spricht Ängste, Wünsche und Hoffnungen an, gibt dem Leiden einen Sinn und verspricht – ohne Chemie, Technologie und „Kriegsführung“ mit Kollateralschäden – eine Rückkehr in das große Gleichgewicht. Und ohne Zweifel wirkt die TCM auf die Menschen im Westen, und zwar nicht nur auf das Gemüt, sondern ganz real auch auf den Körper. Sie beseitigt Schmerzen und so manche Leiden und sie schafft zufriedene Patienten und Behandler. Darin unterscheidet sie sich nicht von anderen Traditionen. Auch Hildegard von Bingen, Paracelsus, Franz Anton Mesmer, Samuel Hahnemann und viele andere mehr hatten glückliche, zufriedene Patienten und lebten im Bewusstsein ihrer therapeutischen Erfolge.[51]Einschränkend fügt Paul Unschuld dazu: Wenn es sich nicht gerade um einen Oberschenkelhalsbruch oder Malaria handelte, aber bei den meisten Alltagsleiden.

Von Anfang an wirkte die TCM durch ihre (westlich überformte) Theorie überzeugend und beruhigend. Der klinische Erfolg kam damit geradezu unvermeidlich. Es ist unbestreitbar, dass die TCM wirkt, ihren Platz gefunden hat im klinischen Alltag des Westens. Und schon zeichnen sich auch hier durchaus unterschiedliche Entwicklungen ab, die mal mehr zu den historischen Quellen zurückkehren (und moderne, naturwissenschaftliche Erkenntnisse kaum bis gar nicht berücksichtigen), mal mehr westliche Erfahrungen integrieren, so dass westliche und östliche Ansätze zusammenfließen.

Vielleicht sollten wir auch in dieser Situation die chinesischen Klassiker beherzigen und uns der Aussage von Tang Zonghai[52]Tang Zonghai: Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens), 1884. anschließen: Das Alte schätzen,  ihm aber nicht blind vertrauen und sich zugleich neuen Erkenntnissen nicht verschließen.


Quellen

  • Paul U. Unschuld (2003): Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck.
  • Paul U. Unschuld (1995): Huichun. Chinesische Heilkunde in historischen Objekten und Bildern. Prestel Verlag. 

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Dr. Paul Unschuld, geb. 1943, ist Direktor des Horst-Görtz-Instituts für Theorie, Geschichte und Ethik Chinesischer Lebenswissenschaften, Charité-Universitätsmedizin Berlin (http://www.charite.de/hgi). Er ist Master of Public Health (1974) und habilitierte in Geschichte der Pharmazie (1979), Geschichte der Medizin (1982) und Sinologie (1983).

Der Artikel nimmt Bezug auf sein Buch, erschienen 2003: Was ist Medizin? Westliche und Östliche Wege der Heilkunst. C.H. Beck.

2 Auch in der modernen Medizin ist nur ein Teil der Heilbehandlungen in diesem Verständnis als medizinisch anzusehen. In der Orthopädie, so schätzt Unschuld, beruhen etwa 95 Prozent aller medizinischen und physiotherapeutischen Anwendungen nicht auf biochemischen und biophysikalischen Erklärungsmodellen, vielmehr auf Übereinkunft und Erfahrung: Sie führen zu einer Besserung der Beschwerden der Patienten.
3 Während der Zeit der Streitenden Reiche wurden die Lehren von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen entwickelt. Obwohl sich diese beiden Theorien zunächst getrennt entwickelt haben und, wie Paul Unschuld annimmt, auch miteinander konkurrierten, wurden sie während der frühen Han-Zeit (206 v. Chr. bis 221 n. Chr.) zu einem komplexen Ideensystem zusammengefasst. Seit dieser Zeit bilden sie die naturgesetzliche Grundlage der chinesischen Medizin, einer „Medizin der systematischen Entsprechungen“.
4 Der sieht die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Beachtung jeden gleichermaßen betreffenden Gesetzesnormen garantiert. Für den Konfuzianismus wiederum beruht die gesellschaftliche Harmonie vor allem auf der Beachtung der jeder gesellschaftlichen Schicht zukommenden Verhaltensnormen. Und der Daoismus sieht im Gegensatz dazu die gesellschaftliche Harmonie vor allem durch die Befolgung der von der Natur gegebenen Gesetzmäßigkeiten bewahrt. Ein wichtiges Merkmal des Daoismus ist zudem das Bestreben, möglichst ohne zu altern die eigene Lebensspanne zu verlängern. Die daraus resultierende Suche nach Elixieren und Kräutern, die zur Unsterblichkeit verhelfen, führte zur Beschäftigung mit natürlichen Substanzen und auch chemischen Verfahrensweisen.
5 Die Han-Zeit begann 206 vor Christi Geburt und endete 221 nach Christi Geburt.            
Bekannt sind  vor allem die Funde aus Mawangdui (in der heutigen Provinz Hunan, nahe der Landeshauptstadt Changsha) aus dem Jahre 168 vor Christi. In den heilkundlichen Mawangdui-Manuskripten werden prognostische und diagnostische Prinzipien und Verfahrensweisen beschrieben. Dazu gehören gymnastische Übungen, Kleinchirurgie bei Hämorrhoiden, Bäder, Kompressen, Kauterisieren mit brennenden Kräuterkegeln, Massage und vor allem die Anwendung von Arzneidrogen.     
Die Akupunktur wird in keinem der Mawangdui-Texten erwähnt. Die früheste Nennung dieses Verfahrens findet sich im Shiji („Aufzeichnungen eines Histographen“) von Sima Qian um 90 v. Chr. Wie Paul Unschuld (1995) ausführt, gibt es keine ernstzunehmenden Hinweise, dass die Akupunktur zur Zeit der Han-Dynastie verbreitet gewesen wäre, vielmehr scheint – zumindest bis ins 2. Jahrhundert vor Christi – der Aderlass das Mittel der Wahl gewesen zu sein, um eine „Fülle“ zu behandeln.
6 Würmer fand man damals ebenso wie heute immer wieder auch im Stuhl. In manchen Teilen Chinas, so Unschuld, sind Würmer noch heute so verbreitet, dass die dortigen Bewohner davon ausgehen, dass ein gesunder Mensch von Würmern befallen sein muss, damit seine Verdauung funktioniert. Zu viele dürfen es aber auch nicht sein.      
Kleinstlebewesen befallen beispielsweise, das konnten die Menschen der Frühzeit immer wieder beobachten, das Getreide, so dass die Körner „krank“ werden, verfaulen und absterben. Ähnliches wurde bei Menschen „gesehen“, die an Lepra leiden und gleichsam von innen her verfaulen. Auch hier, so glaubte man, sind Kleinstlebewesen am Werk.
7 Ähnliche Vorstellungen finden sich auch in unserer Kultur, weshalb wir von einem Schlaganfall sprechen (ein Schlag, der uns gleichsam aus dem Nichts trifft) oder vom Hexenschuss.
8 Eine Bannformel mit einem Befehl des Herrschers der neun Himmel beispielsweise lautet: „Der Herdgott ist freudig gestimmt; der Lenker des Schicksals bereitet Freude“ (zitiert nach Paul U. Unschuld 1995, S. 9). Die Erklärung dazu liegt darin, dass in der chinesischen Antike die Vorstellung herrschte, dass der Herdgott einmal im Jahr in den Himmel aufsteigt, um dort von den guten und bösen Taten der Mitglieder des Haushalts, dessen Herd er bewohnt, zu berichten. Als Folge sendet der Himmel dann Glück oder Unglück herab.
9 Das erste chinesische Arzneibuch, das im 1. oder 2. Jahrhundert vor Christi verfasst wurde und uns heute in einer um das Jahr 500 nach Christi von Tao Hongjing (452 bis 536) verfassten Version vorliegt (Shennong bencaojing jizhu), unterscheidet 365 Substanzen aus dem pflanzlichen, tierischen und mineralischen Bereich.   
Grabfunde in Mawangdui brachten einen arzneilichen Text zutage (Wushien bingfang, Rezepte gegen 52 Erkrankungen), in dem 224 natürliche und künstlich hergestellte Substanzen angewendet werden: 106 pflanzliche, 65 tierische (wie z.B. getrocknete Seidenwürmer gegen Krankheiten im Bereich der Geschlechtsorgane), menschliche (wie z.B. Muttermilch oder Schweiß der Haut bei Verbrennungen oder Kopfhaar bei Verletzungen und gegen Hauterkrankungen) und 15 mineralische Substanzen (wie z.B. Zinnober bei Hauterkrankungen oder Salz gegen Krämpfe nach einer Verletzung, bei Lepra, Harndrang und Harnverhalten). Dazu kamen noch 10 Gegenstände aus dem täglichen Leben (wie z.B. zerschlissene Strohmatten bei verschiedenen Verletzungen und gegen Warzen oder die erste Monatsbinde einer Frau gegen Verbrennungen und eine bestimmte Art von Hämorrhoiden). 
Die nachfolgenden Jahrhunderte brachten eine ständige Zunahme der als wirksam bekannten Arzneidrogen. Opium, das später gleichsam zu einem Synonym für den Niedergang Chinas wurde, erscheint erstmals im Bencao Gang Mu von Li Shizhen. Opium, das nicht zuletzt auch der sexuellen Stimulation diente, wurde von Li Shizhen aber vor allem gegen Durchfall empfohlen.
10 Das Huang Di Neijing besteht aus zwei Teilen, dem Suwen (Elementare Fragen) und dem Lingshu (Göttliche Achse). Die wissenschaftliche Forschung zeigt, dass das Werk aus Textstücken verschiedener Autoren und Zeiten zusammengesetzt ist und sein ältester Kernbereich aus dem 2. Jahrhundert vor Christi stammt. Möglicherweise allerdings sind einige der dort geäußerten Vorstellungen von der Verursachung von Krankheiten durch „Wind“ noch etwas älter. Viele Inhalte jedoch stammen aus den nachfolgenden Jahrhunderten.   
Bereits im 2. Jahrhundert nach Christi suchte ein unbekannter Autor mit dem Nanjing (Klassiker schwieriger Probleme) die heterogenen Inhalte des Huang Di Neijing in ein straffes System zu bringen und dokumentierte auch eine Pulsdiagnostik mit 15 Pulsen gemäß den Fünf Wandlungsphasen. Bis ins 14. Jahrhundert galt das Nanjing als die wichtigste Quelle der antiken Medizintheorie. Erst in der Ming- und Qing-Dynastie wurde das Nanjing zu einem bloßen Kommentarwerk des Huang Di Neijing herabgewürdigt.     
Der uns heute vorliegende und seit der Song-Zeit (960 bis 1270) allen Nachdrucken und Kommentaren zugrunde liegende Text erfuhr seine endgültige Bearbeitung erst im Kaiserlichen Amt für Medizinische Literatur im 12. Jahrhundert. Allein in Japan haben sich in einer Tempelbibliothek umfangreiche Teile einer früheren Version aus dem 8. Jahrhundert erhalten.
11 Später wurde der Begriff des „Außenspeichers“ durch den Terminus „Amtssitz des Gouverneurs“ oder „Palast“ ersetzt. Jedem dieser Paläste ist ein Gouverneur zugeordnet, der über „die Beherrschten“ bestimmt. So residiert umhüllt von der Gallenblase die Leber und ist verantwortlich für das Wohl der Sehnen und Muskeln. Dem „Palast“ des Dickdarms ist der „Gouverneur“ Lunge zugeordnet, die Haut und Körperbehaarung regiert. 
Noch etwas später wurde eine weitere Hierarchie eingeführt. Das Herz wurde mit dem Herrscher, die Lunge mit dem Kanzler, Milz und Magen mit Speicherbeamten, die Leber mit einem General gleichgesetzt. Jedes Organ erhielt auf diese Weise eine Position in der bürokratischen Organisation des Organismus.
12 Die älteren Teile des Huang Di Neijing sind noch durch die Anwendung von Aderlass geprägt. Erst später wich der Aderlass, bei dem sichtbares Blut entfernt wird, der Behandlung mit feineren Nadeln (Akupunktur), bei der das unsichtbare Qi reguliert wird.
13 Bei der Anwendung von „Nadeln“ in der Frühzeit der chinesischen Medizin darf man nicht an die heute bekannte Akupunktur mit ihren feinen (und bruchsicheren) Nadeln denken. Die „Nadeln“ der Frühzeit sind vergleichbar mit „Mini-Schwertern“ oder „Mini-Lanzen“, teilweise waren es auch nur „angespitzte Steine“.
14 Eine frühe Darstellung dieses Verständnisses stammt von Sima Qian aus der Wende vom zweiten zum ersten Jahrhundert vor Christi, der eine Biographie über Bian Que verfasste. Eines Tages wurde dieser zur Audienz beim Herrscher von Qin vorgelassen und machte diesen darauf aufmerksam, dass er krank sei und einer Behandlung bedürfe. Der Herrscher von Qin antwortet, dass er nicht krank sei. Die weitere Geschichte endet mit dem Tod des Herrschers und einer Erklärung von Bian Que über den dem Laien verborgenen Krankheitsverlauf.
15 Die Theorie von den Kleinstlebewesen als Krankheitsursache überlebte aber in der auch weiterhin, vor allem im Umfeld des Daoismus praktizierten Kräuterheilkunde.
16 Die dämonologisch begründete Heilkunde geht grundsätzlich davon aus, dass neben den lebenden Menschen eine Vielzahl von in der Regel übelwollenden Dämonen existieren, die zwar ehemals menschliche Seelen waren, aber – anders als die Ahnen – lebenden Menschen nicht mehr verwandtschaftlich zugeordnet werden können. Der Mensch steht unter einer ständigen Bedrohung durch diese Dämonen und muss sich schützen, um nicht Unheil zu erleiden.
17, 18 Dämonen, Geister und Kleinstlebewesen handeln unmoralisch, halten sich nicht an Gesetze und schlagen zu, egal ob ihr Opfer sich gut oder schlecht benommen hat. Jeder kann ihr Opfer werden.
19 Die Substanzen der Arzneimitteltherapie wurden – in einer deutlichen Parallele zu den daoistischen Sozialvorstellungen – in drei Gruppen unterteilt. Die oberste und vornehmste Gruppe der Arzneien („Herrscher“) diente der Langlebigkeit und nährte die Lebensfunktionen (ähnlich wie es als Aufgabe des Herrschers gesehen wurde, das staatliche Gesamtsystem zu harmonisieren, selbst aber nicht aktiv in die Geschäfte der Staatsführung einzugreifen). Die unterste Gruppe („Gehilfen“) wurde mit den Bütteln des Staates verglichen, die die Todesstrafe ausführten. Sie galten als giftig und schienen für die Therapie akuter Erkrankungen geeignet. Die mittlere Gruppe („Minister“) enthielt Substanzen beider Arten.
20 Während die Nadelbehandlung bei Erkrankungen im Frühstadium eingesetzt wurde, um eine Umkehrung des pathologischen Prozesses zu bewirken, wurden manifeste Erkrankungen durch Diätetik und Arzneikunde behandelt. Der erste Schritt einer Behandlung, so Sun Simiao (581 bis 682?) in seinem Buch Qianjin yifang, ist die Behandlung mit Lebensmitteln. Erst wenn diese keinen Erfolg haben, werden Arzneidrogen eingesetzt: „Der Weg, eine Krankheit zu heilen, führt allein über Arzneidrogen“ (Paul U. Unschuld 1995, S. 22). Die Akupunktur wird hier überhaupt nicht in Erwägung gezogen.
21 Das Shanghan zahing lun (Über verschiedene durch Kälte verursachte Erkrankungen) von Zhang Zhong Jing wurde wahrscheinlich bereits im 3. Jahrhundert durch Wang Shuhe, spätestens jedoch im 11. Jahrhundert in zwei inhaltlich ähnliche, jedoch strukturell verschiedene Werke geteilt: Zum einen das Shanghan lun (Über Kälteschaden), das 133 Rezepte allein zur Behandlung kältebedingter Erkrankungen beschreibt und die Theorie von Yin und Yang in die Betrachtung dieser Erkrankungen einführt, und zum anderen das Jingui yaolije fang lun (Über die essentliellen Rezepte aus der goldenen Truhe), das 262 Vorschriften gegen vielerlei andere Erkrankungen zusammenfasst.
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Das Chuanya unterteilt die Arzneimittelwirkungen in solche, die im Körper aufsteigen, solche, die im Körper absinken, und solche, die einen Krankheitsverlauf oder einen organischen Zusammenhang (z.B. im Fall eines lockeren Zahns) unterbrechen. Zusätzlich beschreibt das Chuanya so genannte Banndrogen zur Bekämpfung von Krankheitserregern, die den Körper oder die Sinne von außen zu belästigen oder zu schädigen und gelegentlich auch in den Körper einzudringen vermögen.            
In den nachfolgenden Kapiteln werden weitere Heilverfahren beschrieben wie Bannschriftzeichen, Banntechniken, Totenerweckung, lebensrettende Maßnahmen (z.B: bei einem Schädelbruch), Nadelverfahren (Akupunktur), Brennverfahren (Moxibustion), Räucherverfahren, Pflaster, Dämpfe, Waschungen, Hitzekompressen und Atemtechniken. Das abschließende Kapitel mit dem Titel „Spielereien mit Arzneidrogen“ beschreibt „Verfahren, um vom Weingenuss nicht betrunken zu werden“, „Pillen, die Hunger und Durst unterdrücken“, „Verfahren, um Tintenschriftzeichen aus Dokumenten zu entfernen“, „Pillen, die Dämonen sichtbar werden lassen“ u.ä.m.       In der Einleitung zum Chuanya schreibt Zhao Xuemin noch erläuternd, dass er manche ihm unsicher oder problematisch erscheinende Praktiken des Zong Boyun nicht in sein Buch aufgenommen hat, wie z.B. das „Pflanzen“ von Krankheiten in gesunden Menschen, um aus der Behandlung derselben Gewinn zu ziehen.

23 Spuren der griechischen Vier-Säfte-Lehre finden sich beispielsweise in den Werken von Sun Simiao (581 bis 682?), einem der bedeutendsten Ärzte Chinas.
24 Viele Ärzte haben diese Geschichte allerdings nicht als Metapher erkannt, so dass sich – teilweise bis in die Gegenwart – die unrichtige Meinung erhalten hat, dass Knöterich weißes Haar wieder schwärzt und alte Menschen wieder jung macht.
25 Die nördliche Song-Dynastie dauerte von 960 bis 1127, die südliche Song-Dynastie von 1127 bis 1270. Wichtige Philosophen dieser Zeit waren Zhang Zai (1020 bis 1077), die Brüder Cheng Hao (1032 bis 1085) und Cheng Yi (1033 bis 1107) sowie Zhu Xi (1130 bis 1200).
26 Erste Hinweise auf (Vorläufer von) Apotheken finden sich in der Han-Zeit, wobei der Flaschenkürbis, die Kalebasse (hulu) bis heute Symbol der Arzneikunde geblieben ist.
27 Um Fälschungen vorzubeugen, verfügte die chinesische Regierung im Jahr 1136, dass alle von staatlich beaufsichtigten Apotheken für Fertigrezepturen ausgegebenen Produkte mit einem Markenzeichen zu versehen sind.
28 Den um Moral besorgten Konfuzianern war der Arztberuf grundsätzlich fragwürdig. Hilfe im Krankheitsfall wurde als Menschenpflicht, insbesondere Kindespflicht betrachtet. Berufstätige Ärzte machten daraus jedoch einen Gelderwerb.        
Es war in China durchaus üblich, dass Ärzte ihre Diagnosen kostenlos anboten und ihren Unterhalt mit dem Verkauf der Arzneimittel verdienten. Und seit jener Zeit gibt es in China Ärzte, die als Angestellte in der Apotheke sitzen (wenn sich nicht der Apotheker selbst als Arzt betätigt), diagnostizieren und Rezepte schreiben.             
Ein Sprichwort jener Zeit lautete: „Der Apotheker hat zwei Augen: Mit dem einen sieht er die Krankheiten und mit dem anderen die passenden Arzneien. Der Arzt hat nur ein Auge. Es sieht nur die Krankheiten, kennt aber keine Arzneien. Der Patient ist völlig blind. Er kennt weder seine Krankheiten noch die passenden Arzneien.“
29 Kritisch merkt Paul Unschuld an, dass die Befundung des Arztes, z.B. einer Nieren-Yin-Schwäche bis heute nicht überprüfbar ist. Es gibt keine objektiven Deutungsmuster. Letztlich wurde nicht eine (verbindliche) Pharmakologie geschaffen, sondern nachdem grundsätzliche Spielregeln aufgestellt waren, haben viele kreative Ärzte diese für sich angewendet. So konnte es vorkommen (und kommt bis heute vor), dass ein Arzt etwas als Yin-Eigenschaft einschätzt, was ein anderer Arzt als Yang-Eigenschaft betrachtet. Viele unterschiedliche Modelle entstanden, objektive und verbindliche Maßstäbe gab und gibt es nicht.
30 Zwischen dem 12. und 15. Jahrhundert kam es geradezu zu einer Renaissance der Werke von Zhang Zhong Jing. Es entstanden zahlreiche Neuauflagen und Kommentare seiner Abhandlung über die kälteverursachten Erkrankungen. Ergänzt wurden seine Erkenntnisse in jener Zeit durch Modelle für Erkrankungen infolge von Hitze oder Feuchtigkeit Bis heute bilden die Erkenntnisse von Zhang Zhong Jing in Japan die tragfähigste Grundlage der Anwendung chinesischer Arzneimittelkenntnisse.     
Das wohl bekannteste, enzyklopädisch angelegte Arzneibuch der traditionellen chinesischen Medizin, das Bencao gang mu aus dem Jahr 1596 von Li Shizhen (1518 bis 1593) beschreibt etwa 1900 Arzneidrogen.
31 Das Shengji zonglu enthält eine der umfangreichsten Sammlungen von als heilwirksam angesehenen Bannschriftzeichen. Erst die Ausgaben dieses Werks in der Volksrepublik China verzichteten auf die Wiedergabe dieses Aspekts der traditionellen chinesischen Medizin.
32 Liu Wansu (1110 bis 1200) fand die Ursache für Erkrankungen in einer Überhitzung des Körpers, Zhang Congzheng (1156 bis 1228) in einem Eindringen pathogener Einflüsse (die allesamt mit „angreifen und abführen“ zu behandeln seien) und Li Gao (1180 bis 1251?) in Funktionsstörungen von Milz und Magen.
33 Ein offensichtliches Zeichen der Fremdherrschaft des Reitervolkes aus dem Norden war allerdings der den Chinesen aufgezwungene Zopf.
34 Xu Dachun: Yixue quanliu lun (Über Ursprung und Entwicklung der Medizin), 1757.
35 Inwieweit die Akupunktur ohne Handlungsanweisung durch die Theorien von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen, die Xu Dachun bezweifelte und ablehnte, stabile Wirkungen zeigen kann, ist bis heute umstritten. Seit den 1970er Jahren werden vielerorts Versuche unternommen, die althergebrachten chinesischen Theorien durch neuzeitlicher naturwissenschaftliche Deutungen zu ersetzen – bislang ohne bemerkenswerte Ergebnisse, wie Paul Unschuld anmerkt.
36 Ähnlich hatten die Barbiere in Europa Jahrhunderte lang, in manchen Teilen Deutschlands bis ins 20. Jahrhundert, einen festen Platz im Spektrum der Heiler.
37 1929 waren bereits 9.000 chinesische Ärzte mit einer Ausbildung in westlicher Medizin registriert. 1960 waren es knapp 160.000 und 1971 standen 700.000 Betten in Spitälern für westliche Medizin zur Verfügung.
38 Veröffentlicht wurde die Schrift, die durch die anatomischen Studien von Vesalius (Andreas von Wessel) beeinflusst war, erst nach Johann Schrecks Tod von Bi Gongchen (Taixi renshen shuogai, Erläuterung des menschlichen Körpers aus dem fernen Westen).
39 Hobson bot detaillierte Einblicke ins Körperinnere, wie sie in China bislang unbekannt waren, legte Operationen dar und stellte auch die dazugehörigen chirurgischen Instrumente dar.
40 Diese Haltung wurde auch durch das Beispiel Japans bestärkt, das sich mit den Meji-Reformen des Jahres 1868 erfolgreich der westlichen Zivilisation geöffnet hatte.
41 Im Unterschied zum Fortschrittsverständnis der westlichen Welt ist die Geschichte der chinesischen Heilkunde nicht so sehr die Abfolge immer neuer Erklärungsmodelle (einhergehend mit einem Wandel der praktischen Anwendungen), als vielmehr – zumindest bis zu diesem Zeitpunkt – eine stete Bereicherung bereits vorhandener Erkenntnisse. Dem (westlichen) Konzept des Fortschritts steht in China eine Realität der Wissenserweiterung gegenüber, die alte Ansichten nicht als veraltert ansieht, sondern neues Wissen stets dem älteren nur hinzufügt.
42 Seit dem Ende der 70er-Jahre gilt eine Politik der „Drei Wege“, in dem sich westliche Medizin und traditionelle Medizin in ihrem eigenen Rahmen fortentwickeln sollen. Den dritten Weg beschreiten vor allem Praktiker der chinesischen Medizin, deren Ziel es ist, moderne diagnostische und therapeutische Methoden in ihre Arbeit einzubeziehen und mit traditionellen Behandlungen abzurunden oder zu verbessern.
43 Aus den alten Traditionen wurden vor allem diejenigen Anteile herausgelöscht, die an die religiösen und metaphysischen Vorstellungen der Vergangenheit erinnern und aus heutiger naturwissenschaftlicher Sicht absurd erscheinen.
44 Die theoretischen Inhalte und klinischen Anwendungen der chinesischen Medizin haben in Europa seit dem 17. Jahrhundert Aufmerksamkeit erfahren. Im Jahre 1682 veröffentlichte der Arzt Andreas Cleyer die erste Übersetzung (in lateinische Sprache) eines medizinischen Werks aus China.
45 Der Begriff „Chinesische Medizin“ oder „Traditionelle Chinesische Medizin“ hat mehrere, teilweise sehr unterschiedliche Bedeutungen (Paul U. Unschuld, 1995).             
Zum einen bezeichnet er die historische Realität einer vielschichtigen Heilkunde, die im Laufe der vergangenen drei Jahrtausende aus magischen und religiösen Anfängen unter steter Aufnahme neuer Ideen und Kenntnisse und gleichzeitiger Beibehaltung alter Vorstellungen weiterentwickelte und auch in den Nachbarländern Chinas (wie etwa Japan, Korea oder Vietnam) Eingang fand. Sie bedeutet in diesem Verständnis ein weites Spektrum zum Teil widersprüchlicher Auffassungen über Kranksein und Gesundsein.     
Zum zweiten werden mit der Bezeichnung „Chinesische Medizin“ die Inhalte entsprechender Literatur aus der Volksrepublik China sowie die alltägliche Realität der dort praktizierten traditionellen Medizin erfasst. Seit den 50er-Jahren ist in der Volksrepublik China eine „chinesische Medizin“ (Xiyi) entwickelt worden, die sich vor allem in der Abgrenzung zur westlichen Medizin (Zhongyi) versteht und die zugleich all die traditionellen Anteile chinesischer Heilkunst nicht mehr aufweist, die den Behörden auf der Grundlage naturwissenschaftlicher Kriterien nicht mehr vertretbar erscheinen.   
Drittens beanspruchen zahlreiche amerikanische und europäische Autoren, die auf Grundlage von Schulungen bei chinesischen, japanischen oder anderen Lehrern und ausgehend von eigenen Erfahrungen jeweils unterschiedliche Auffassungen entwickelt haben, für ihre Interpretationsversuche die Bezeichnung „Chinesische Medizin“.
46 Säkular in dem Sinne, dass im System von Yin und Yang und den Fünf Wandlungsphasen die zentralen Fragen der Einbindung in das große Ganze beantwortet werden: „Warum bin ich?“, „In welchem Verhältnis stehe ich zum Universum?“, „Was mache ich richtig, was mache ich falsch?“ und „Wie wird es weitergehen?“ Zugleich aber gibt es das Numinose nicht, die Sphäre der geheimnisvollen, verborgenen und unnennbaren Wirklichkeit –  also keine Götter, Geister, Ahnen und Dämonen.
47 Entgegen der weit verbreiteten Vorstellung handelt es sich bei der heute angewendeten chinesischen Arzneimitteltherapie nicht um eine „Kräutertherapie“, da auch viele mineralische und tierische Produkte eingesetzt werden.
48 Das es ausschließlich europäische und amerikanische Autoren sind, deren Bücher im Westen Erfolg haben, führt Paul Unschuld vor allem darauf zurück, dass den chinesischen Autoren die spezifischen Ängste der Bürger westlicher Industrienationen fremd sind.
49 Im Westen hielt eine vergleichbare militärische Terminologie erst mit dem Siegeszug von Bakteriologie und Immunologie Einzug in die Medizin.
50 Ursachen dafür sind z.B. verunreinigte Kräuter (Pflanzenschutzmittel, Unkrautvertilgungsmittel, Schwermetalle etc.), falsche Dosierungen (z.B. bei der Gabe von Aconit, Eisenhut) oder die Auslösung des Epstein-Barr-Virus durch bestimmte Pflanzenkombinationen, der wahrscheinlich für die hohe Verbreitung von Kehlkopfkrebs in Südchina verantwortlich ist.
51 Einschränkend fügt Paul Unschuld dazu: Wenn es sich nicht gerade um einen Oberschenkelhalsbruch oder Malaria handelte, aber bei den meisten Alltagsleiden.
52 Tang Zonghai: Zhongxi huitong yijing jingyi (Die wichtigsten Inhalte der medizinischen Klassiker im Zusammenfluss [der Kenntnisse] Chinas und des Westens), 1884.