Kern-Selbst und autobiographisches Selbst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

Das autobiographische Selbst entwickelt sich aus dem flüchtigen Kern-Selbst

Die flüchtigen Momente der Erkenntnis unseres Kern-Selbst, in denen wir unsere Existenz entdecken, bilden Tatsachen, die dem Gedächtnis überantwortet werden, kategorisiert und zu anderen Erinnerungen in Beziehung gesetzt. Infolge dieser komplexen Lernprozesse bildet sich ein autobiographisches Gedächtnis, ein Bündel dispositionaler Aufzeichnungen, die speichern, wer wir körperlich, emotional und verhaltensmäßig waren, sowie Aufzeichnungen, die festhalten, wer wir in Zukunft zu sein beabsichtigen. Dieses gebündelte Gedächtnis können wir im Laufe unseres Lebens erweitern und abändern. Werden diese rekonstruierten Vorstellungen explizit gemacht, so werden sie zum autobiographischen Selbst, das mit dem nichtbewussten Proto-Selbst in jedem gelebten Augenblick verbunden ist.

Das autobiographische Selbst beruht grundlegend auf dem autobiographischen Gedächtnis, das aus impliziten Erinnerungen an viele Momente individueller Erfahrung in der Vergangenheit und an die antizipierte Zukunft besteht. Die unveränderlichen Aspekte in der Biographie eines Menschen (z.B. wo man geboren wurde, wer die Eltern sind, wichtige Ereignisse, was man mag und nicht mag etc.) bilden die Grundlage des autobiographischen Gedächtnisses. Das autobiographische Gedächtnis wächst ständig mit der Lebenserfahrung und lässt sich auch teilweise abwandeln, um neuen Erfahrungen Rechnung zu tragen. Gruppen von Erinnerungen, welche die Identität und Personalität beschreiben, können bei Bedarf als neuronale Muster reaktiviert und als Vorstellungen explizit gemacht werden, und jede reaktivierte Erinnerung erzeugt ihr eigenes pulsierendes Kern-Bewusstsein. Das Ergebnis ist jenes autobiographische Selbst, dessen wir uns bewusst sind.


Unterschiede zwischen Kern-Selbst und autobiographischen Selbst

Kern-Selbst
 
Autobiographisches Selbst
 
Der flüchtige Protagonist des Bewusstseins wird für jedes Objekt erzeugt, das den Mechanismus des Kern-Bewusstseins auslöst. Da ständig auslösende Objekte vorhanden sind, wird es fortlaufend erzeugt und erscheint dauerhaft in der Zeit.
 
 Das autobiographische Selbst beruht auf permanentem, aber dispositionalen Aufzeichnungen von Kern-Selbst-Erfahrungen. Diese Aufzeichnungen können als neuronale Muster aktiviert und in explizite Vorstellungen umgewandelt werden. Die Aufzeichnungen können durch weitere Erfahrungen partiell abgeändert werden.  
Der Mechanismus des Kern-Selbst ist auf das Vorhandensein des Proto-Selbst angewiesen. Biologisch gesehen ist das Wesen des Kern-Selbst die Repräsentation des Proto-Selbst im Zustand der Veränderung in einer Karte zweiter Ordnung.Das autobiographische Selbst ist auf das Vorhandensein eines Kern-Selbst angewiesen, damit es seine schrittweise Entwicklung beginnen kann.
Zudem ist das autobiographische Selbst auf den Mechanismus des Kern-Bewusstseins angewiesen, damit es durch die Aktivität seiner Erinnerungen Kern-Bewusstsein erzeugen kann.

Die Inhalte des autobiographischen Selbst können nur dann erkannt werden, wenn für jeden dieser zu erkennenden Inhalte das Kern-Selbst und das Erkennen immer wieder neu aufgebaut werden. In den frühen Stadien unserer Existenz gibt es kaum mehr als wiederholte Zustände des Kern-Selbst. Mit wachsender Erfahrung jedoch weitet sich das autobiographische Gedächtnis aus, und das autobiographische Selbst kann sich entfalten.[1]Möglicherweise gehen die Phasen, die in der kindlichen Entwicklung beobachtet werden, auf eine sprunghafte Erweiterung des autobiographischen Gedächtnisses und eine sprunghafte Entfaltung des … weiterlesen


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Möglicherweise gehen die Phasen, die in der kindlichen Entwicklung beobachtet werden, auf eine sprunghafte Erweiterung des autobiographischen Gedächtnisses und eine sprunghafte Entfaltung des autobiographischen Selbst zurück.