Antwort und Ergänzung zu Wilfried Rappeneckers Artikel „Shiatsu bei seelischen Problemen“ (Dr. Eduard Tripp)

Lieber Wilfried, im Shiatsu-Journal 61 und 62 erschienen die beiden Teile eines Artikels von Dir, in denen Du ausführlich viele Aspekte von Shiatsu bei psychischen/seelischen Problemen behandelst. Danke dafür und insbesondere dafür, dass Du damit die Aufmerksamkeit auf wichtige Themen in der Arbeit mit Shiatsu lenkst!

Gerne möchte ich in diesem Zusammenhang aus meinem Hintergurnd als Psychotherapeut und Shiatsu-Praktiker wie auch -Lehrender einen Punkt ansprechen, den Du in Deinem Artikel streifst, der aber meiner Meinung nach größere Aufmerksamkeit verdient in der Shiatsu-Praxis und (damit verbunden) auch in der Ausbildung.

Im Absatz über Übertragung und Gegenübertragung (Shiatsu-Journal 61) schreibst Du: „Solche Kräfte in der Beziehung zwischen Therapeut und Klient sind völlig normal. Sie sind an sich nichts Falsches und lassen sich auch gar nicht verhindern. Mitunter können sie sogar für die therapeutische Arbeit genutzt werden. Wir sollten ihnen allerdings nicht erlauben, unser therapeutisches Verstehen oder Handeln in stärkerem Maße zu beeinflussen. Dazu müssen wir sie frühzeitig erkennen und als Teil der Realität des Klienten oder unser selbst anerkennen.“[1]Wenn Du hier von Therapeut (und Therapie) sprichst, ist zu berücksichtigen, dass Shiatsu in Österreich ein gewerblicher Beruf ist und kein Heilberuf. In Österreich sprechen wir von … weiterlesen

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Hier liegt ein schwieriges Problem, die Frage nämlich, wie man Übertragungen bzw. – noch wesentlicher in diesem Zusammenhang – Gegenübertragungen als Betroffene/r überhaupt erkennt,[2]Einfach gesagt, geht es darum zu unterschieden, was eine adäquate, auf die Situation bezogene Reaktion ist, und wann eine Übertragung/Gegenübertragung stattfindet. Das heißt, wann sind es … weiterlesen damit sie unser Verstehen und Handeln nicht übermäßig beeinflussen können.

Die Psychoanalyse und die auf ihr beruhenden Therapiemethoden unterscheiden zwei Formen der Gegenübertragung. Zum einen sind dies Gefühle und Haltungen, die in der Shiatsu-PraktikerIn wachgerufen werden und die durch die Lebensgeschichte und Struktur der KlientIn geprägt sind und primär von ihr ausgehen. Sie sind, wenn die Therapeutin oder Shiatsu-PraktikerIn frei genug ist sie wahrzunehmen, ein gutes diagnostisches und therapeutisches Hilfsmittel. Schwierig hingegen wird es bei „Gegenübertragungen im engeren Sinne“, denn diese sind eine Folge unbewältigter innerer Konflikte und Defizite der BehandlerIn selbst. In diesem Falle verkennt die BehandlerIn die reale Begegnung, legt quasi projektiv ihre eigenen Wünsche und Ängste in die Beziehung und handelt ihnen entsprechend – und nicht situationsgemäß. Die Ursache dafür sind unbewältigte innere Konflikte und Defizite („neurotische Anteile“) der BehandlerIn (vgl.  Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie – Für die Anwendung von Shiatsu relevante therapeutische Konzepte).

Das Problem von Gegenübertragungen im engeren Sinne (und die damit verbundenen Reaktionen auf die KlientIn) ist ihre Unbewusstheit – in Worten und Handlungen ebenso wie in unwillkürlichen Körperreaktionen, die unser Gegenüber besonders rasch und unmittelbar durch die Berührung in der Shiatsu-Sitzung aufnimmt. Insbesondere wenn solche Mechanismen (und die ihnen zugrundeliegenden Haltungen und Erfahrungen) nicht bewusst sind, entfalten sie ihre Wirkungen – manchmal „harmlos“, ja durchaus auch mal „liebenswert“. In anderen Fällen sind sie aber leider problematisch bis hin zu verletzend und im schlimmsten Fall geradezu traumatisierend (bzw. retraumatisierend), weil in der Shiatsu-Begegnung eine besondere Vertrauenssituation und damit eine nahe Beziehung bestand. Das besonders Problematische daran ist, dass wir uns in dem Moment der wahren Ursache unserer Handlungen nicht bewusst sind. Wir empfinden sie als selbstverständlich, logisch, natürlich, gerechtfertigt (…) und/oder geben die Verantwortung dafür  (entweder ausdrücklich oder nur innerlich so wahrgenommen) unserer KlientIn.

Tiefsitzende Muster, die wir meist früh in unserem Leben erworben haben, können wir nur dann erkennen, wenn ein „Außen“ dies ermöglicht.[3]Wenn wir über viel (reflektierte) Selbsterfahrung verfügen, ist es wahrscheinlich, dass wir ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Reaktion wiedererkennen, die uns an andere Situationen … weiterlesen In der buddhistischen Tradition geht man deswegen davon aus, dass wir einen Meister brauchen, um am Weg der Erkenntnis – in der richtigen Richtung – voranzuschreiten, einen spirituellen Wegweiser, der uns unter anderem aufmerksam macht, wenn wir den Weg verlieren.[4]Möglicherweise, und es wird immer wieder davon berichtet, gibt es begnadete Menschen, die ihren Weg ohne spirituelle Führer finden (aber auch sie haben „LehrerInnen“, wenngleich auf andere … weiterlesen Ähnlich verhält es sich mit frühen Erfahrungen: Sie sind so tief in uns eingeprägt und so selbstverständlich, dass wir sie aus uns heraus nicht erkennen können, dass wir dazu Hilfe (und ein entsprechendes Setting) brauchen.

Auf gewisse Weise ist das Ziel von Shiatsu, vor allem wenn wir mit Menschen mit psychischen Problemen zu tun haben, sie darin zu unterstützen, sich in ihrem Sein zu erkennen und kennen zu lernen, sich anzunehmen als die, die sie sind, und einen guten Weg zu finden, ihre „Bestimmung“ (ihr Dao) zu leben: letztlich die zu werden, die sie in der Tiefe ihres Herzens sind. Das erfordert einen geschützten und fördernden (achtsamen) Raum, in dem sie sich erfahren können und entfalten – und  Unterstützung bekommen, wo sie sie benötigen, und auf eine Art und Weise, wie sie sie benötigen und annehmen können.

Ja manchmal, wie Du ausführst, kann es schon zu viel sein, wenn man einer KlientIn in einer emotional tief berührenden Situation ein Taschentuch reicht. Man vermittelt ihr damit vielleicht das Gefühl, dass man sie als zu schwach erachtet, selbst mit der Situation fertig zu werden. Oder dass es nicht ok wäre, verheult und verrotzt auf der Matte zu liegen oder zu sitzen. Oder unterbricht mit dieser Handlung ganz einfach den Fluss der Emotionen auf Seiten des KlientIn (…). Andererseits kann das Fehlen einer solchen Geste aber auch tief verletzen, Gefühle von Abgelehnt-Werden, Nicht-beachtet-Werden oder Wertlosigkeit auslösen. Auch das kann gut sein, wenn die KlientIn (und die Shiatsu-PraktikerIn) damit umgehen können und die „Bedingungen“ stimmen. Zu diesen Bedingungen gehört auch, dass sich die KlientIn mit diesen Gefühlen wirklich auseinandersetzen kann und nicht erst noch Unterstützung und Zeit braucht, um sich diesen Gefühlen – und Erfahrungen – zu stellen. Unter Umständen ist es nämlich vor allem der dringende Wunsch der BehandlerIn, das ihre KlientIn das schon kann und die damit möglicherweise überfordert wie ehrgeizige Eltern ihr Kind. Dieser Wunsch nach Selbständigkeit der KlientIn kann aber auch aus dem persönlichen, lebensgeschichtlich erworbenen Unvermögen der Shiatsu-PraktikerIn resultieren, solche Passivität und erlebte Hilflosigkeit noch länger auszuhalten (…).  Und auf der anderen Seite kann manchmal eine kleine Geste, für die KlientIn da zu sein und ihr, wie in diesem Beispiel, ein Taschentuch zu reichen, auch eine ganz neue Erfahrung in ihrer Welt sein. In einer Welt, in der die KlientIn in emotionalen Krisen immer auf sich allein gestellt war. Diese neue Erfahrung der Anteilnahme kann so überwältigend für die KlientIn sein, dass sie einen ganz großen Wendepunkt in ihrem Leben darstellt.

Leider gibt es keine fixen Regeln, was das richtige Verhalten, die richtige Antwort ist, nur ein Mitschwingen, ein Spüren in sich selbst, was es in der jeweiligen Situation gerade braucht – und das beruht vor allem auf der Selbsterfahrung der Shiatsu-Praktikerin und ihrer Freiheit von emotionalen Verletzungen und Defiziten in diesem „Bereich“. Wenn wir als BehandlerInnen da nicht offen sein können, mehr noch: uns schützen müssen, können wir unsere KlientIn an dieser Stelle emotional nicht adäquat begleiten. Wir greifen dann nicht auf positive innere Erfahrungen zurück, sondern auf problematische und schmerzhafte, z.B. fehlende Empathie in Krisen – Erfahrungen, die wir abwehren müssen, um (subjektiv) handlungsfähig zu bleiben und uns nicht (beispielsweise) mit dem Schmerz und dem Gefühl des Alleingelassen-Werdens (…) konfrontieren zu müssen. Oder wir ersetzen empathisches Einfühlen durch Konzepte, wenn uns dieser Bereich fremd ist, aufgrund von Defiziten in der eigenen Lebensgeschichte. Und auch wenn diese Konzepte nicht falsch sein mögen, fehlt ihnen doch eine notwendige empathische Qualität, ein Spüren was jetzt, in diesem Moment, das Richtige ist.

Schwieriger allerdings sind jene Reaktionsweisen der BehandlerIn, die von inneren, meist unbewussten Verletzungen (und Verarbeitungen) getragen sind und zum Ziel haben, eine für das eigene innere (emotionale) Gleichgewicht gefährliche Situation zu verhindern oder zu beenden. In diesem Moment bleibt kein Raum für empathisches Einfühlen in die Bedürfnisse der KlientIn und die Reaktionen der BehandlerIn gehen schnell auf Kosten der KlientIn. Manchmal sind es nur kleine Irritationen, nichts Gravierendes, manchmal aber entfaltet sich auch ein sehr destruktives, abwertendes, verletzendes Geschehen. Und das umso mehr, wenn wir Menschen mit Shiatsu behandeln, die schwerwiegende psychische/seelische Probleme haben und damit in der BehandlerIn auch besonders heftige Gefühlsreaktionen und Abwehrhaltungen auslösen können.[5]Im Beispiel mit dem Reichen des Taschentuchs haben wir es im Allgemeinen nicht mit einem schwerwiegenden Übertragungs-/Gegenübertragungsproblem zu tun. Dieses Beispiel hat sich nur deshalb … weiterlesen

Um Gegenübertragungen auf die Spur zu kommen, greift die psychotherapeutische Praxis auf Selbsterfahrung und Supervision zurück. Diese allerdings muss durch eine analytisch (psychotherapeutisch) geschulte und durch eigene Selbsterfahrung reflektierte LeiterIn durchgeführt werden, weil sonst die Gefahr besteht, dass wichtige Prozesse, die auch die LeiterIn unbewusst prägen, der Aufmerksamkeit, Reflexion und Erfahrung entgehen. Dieses Umstandes sollten wir uns in der Shiatsu-Praxis wie auch als Shiatsu-Lehrende bewusst sein – und entsprechend handeln, also Selbsterfahrung und Supervision für unsere professionelle Arbeit in Anspruch nehmen.[6]Vor allem, wenn heftige Emotionen auf Seiten der BehandlerIn oder massive Konflikte zwischen KlientIn und BehandlerIn auftreten.

Ein Beispiel, das im Bereich der Shiatsu-Ausbildung zu Tragen kommen kann[7]Und meiner Erfahrung zufolge auch immer wieder vorkommt., betrifft “autoritär sozialisierte” Shiatsu-LehrerInnen, d.h. LehrerInnen, die in autoritären Lebensumständen und Strukturen aufgewachsen sind und diese nicht verlassen konnten, vielmehr Wege gefunden haben, mit ihnen zu leben und – leider auch – weiterzugeben. Sie neigen dazu autoritäre Verhältnisse in ihren Ausbildungen zu etablieren. Diese Tendenz wird unter Umständen noch verstärkt durch das bei uns im Westen durchaus auch missverstandene Meister-Schüler-Verhältnis, das durch absolute Unterwerfung des Schülers unter den Meister gekennzeichnet ist. Wirklich offener Dialog hat da kaum Platz und Glaubens- und Wertesysteme können nur in begrenztem Maße hinterfragt werden. Das Verhältnis ist nicht gleichwertig, sondern autoritär – eine Situation, die dann auch wieder autoritär geprägte SchülerInnen anzieht, denen dieses Klima vertraut ist und die damit zudem in ihren Grundhaltungen bestärkt werden (oder auch SchülerInnen, die zu wenig Halt, zu wenig Leitlinien erfahren haben und deshalb dieses „Klima“ suchen). Der (meist) autoritäre Vater wird so durch die autoritäre LehrerIn in Gestalt einer „Über-Vaters“ oder einer „Über-Mutter“ ersetzt. So tritt beispielsweise an Stelle des autoritären (und kritisierten) Arztes der „allmächtige“ Shiatsu-Wissende, der sich über den Arzt erhebt, einem Guru gleich um die letzten Geheimnisse des Universums weiß und aus diesem Wissen heraus „unfehlbare“ Anleitungen gibt. Das zugrunde liegende hierarchische Prinzip bleibt, weil ein Hinterfragen der Strukturen (aus inneren und äußeren Ursachen heraus) nicht möglich ist, bis zum Ende der Ausbildung und meist darüber hinaus erhalten. Auf dieselbe Weise – gelernt in der Kindheit und bestätigt in der Shiatsu-Ausbildung – wird dann auch in den Praxen gehandelt: Die Shiatsu-PraktikerIn sagt, wo es langgeht. Sie weiß, was für ihre KlientInnen „das Beste“ ist – so wie Eltern dies für ihre Kinder zu wissen glauben.[8]Das mag ja manchmal stimmen, insbesondere wenn das Kind noch klein ist. Im Prozess des Erwachsen-Werdens und der Emanzipation von und mit den Eltern sind solche Vorgaben von außen allerdings weniger … weiterlesen Und wie sehr wissen wir alle doch tief in uns, dass wir selbst es sind, die wir unsere Bestimmung, unsere ganz persönliche Lebensweise (und auch Lebensziele) finden müssen. Diese zu finden, ist die manchmal sehr schwierige Aufgabe unserer KlientInnen, insbesondere bei psychisch/seelischen Problemen. Und sie dabei zu unterstützen ist die unsere als Shiatsu-PraktikerInnen – und um dafür gerüstet zu sein und nicht im Gegenteil unseren KlientInnen zu schaden, braucht es adäquate Selbsterfahrung  und professionelle Supervision – auch in der Ausbildung

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Wenn Du hier von Therapeut (und Therapie) sprichst, ist zu berücksichtigen, dass Shiatsu in Österreich ein gewerblicher Beruf ist und kein Heilberuf. In Österreich sprechen wir von Shiatsu-PraktikerInnen, wohingegen das Wort „Therapeut“ dem medizinischen Bereich vorbehalten bleibt.
2 Einfach gesagt, geht es darum zu unterschieden, was eine adäquate, auf die Situation bezogene Reaktion ist, und wann eine Übertragung/Gegenübertragung stattfindet. Das heißt, wann sind es Gefühle und Haltungen, die ihre Quelle in der Vergangenheit und nicht in der Gegenwart haben, nämlich in der konkreten Begegnung mit unserer KlientIn.
3 Wenn wir über viel (reflektierte) Selbsterfahrung verfügen, ist es wahrscheinlich, dass wir ein bestimmtes Gefühl oder eine bestimmte Reaktion wiedererkennen, die uns an andere Situationen erinnert, in denen sich später dann unsere unbewußt neurotische Beteiligung herausgestellt hat – und wir damit entsprechend gewarnt sind.
4 Möglicherweise, und es wird immer wieder davon berichtet, gibt es begnadete Menschen, die ihren Weg ohne spirituelle Führer finden (aber auch sie haben „LehrerInnen“, wenngleich auf andere Weise). Für die Mehrzahl der Menschen (und auch Shiatsu-PraktikerInnen) gilt das aber nicht. Sie brauchen Anleitungen und „Korrekturen“, um „Abweichungen vom Weg“ zu erfahren und voranschreiten zu können.
5 Im Beispiel mit dem Reichen des Taschentuchs haben wir es im Allgemeinen nicht mit einem schwerwiegenden Übertragungs-/Gegenübertragungsproblem zu tun. Dieses Beispiel hat sich nur deshalb angeboten, weil Du es in Deinem Artikel angeführt hast. Wirklich schwierige Konstellationen haben jedoch mit tiefen und gravierenden negativen Erfahrungen und/oder Defiziten zu tun – auf Seiten der BehandlerIn ebenso wie auf Seiten der KlientIn (hier kann man beispielsweise an Psychosen, Borderline-Zustände oder narzisstische Störugen denken, um im Sprachgebrauch der Psychoanalyse zu bleiben).
6 Vor allem, wenn heftige Emotionen auf Seiten der BehandlerIn oder massive Konflikte zwischen KlientIn und BehandlerIn auftreten.
7 Und meiner Erfahrung zufolge auch immer wieder vorkommt.
8 Das mag ja manchmal stimmen, insbesondere wenn das Kind noch klein ist. Im Prozess des Erwachsen-Werdens und der Emanzipation von und mit den Eltern sind solche Vorgaben von außen allerdings weniger hilfreich, im Gegenteil störend, weil sie eher den Widerstand fördern als ein Klima, in dem man sich finden und erfahren kann.