Auf dem Weg zum Ki (Alena Maria Schneider)

Als gefragt wurde, ob ich etwas über das Thema “Shiatsu als Energiearbeit” für das DAO-Sonderheft “Shiatsu” schreiben wolle, und ich nachsann, wie um alles in der Welt man sich sprachlich verständlich über so ein Thema äußern kann, kam ein Anruf von einer alten Freundin. Diese erzählte mir, dass sie jetzt Heilpraktikerin sei und vor allen Dingen Energiearbeit praktiziere. Das stimmte mich sehr neugierig. Ich fragte sie aus, versuchte etwas zu erfahren über das, was sie da nun eigentlich mache. Ich musste, wie so oft in solchen Gesprächen, feststellen, dass ich trotz meines brennenden Interesses und meines Wohlwollens (schließlich arbeite ich im Shiatsu und Qigong auch dauernd mit Energien und habe keinen Grund, das als “Spinnkram” abzutun) nichts Konkretes, Formulierbares erfuhr, was über Allgemeines wie: “Es geht sehr tief, es passiert ganz viel, es berührt mich sehr…” hinausginge. Und meine Freundin ist gewiss nicht doof und hat viel gelernt!

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Einen Satz von ihr möchte ich als Motto meiner Ki-Episoden aus dem Shiatsu-Alltag zu diesem Thema voranstellen: “…und dann arbeite ich damit und mache das und denke: Also eigentlich ist das doch verrückt …” Wie vertraut ist mir doch diese innere Bemerkung. Und ich möchte wetten, dass auch viele der verehrten Leser und Leserinnen, die in ähnlicher Richtung arbeiten, sich so oder ähnlich schon geäußert oder immerhin insgeheim so gedacht haben. Schließlich sind wir in unserem Kulturkreis nicht aufgewachsen mit einem selbstverständlichen Einbeziehen der Lebensenergie Ki in unsere Wirklichkeit. Ki gehört zunächst nicht in unsere Sprache, unser Denken und unsere Wahrnehmung, wenngleich wir unbewusst sicher immer schon eine Beziehung dazu hatten. Ich frage mich manchmal, ob die Kinder, die heute in den Kreisen aufwachsen, in denen man Energiearbeit, Qigong, Taijiquan, Shiatsu etc. praktiziert und von Energie spricht, als Erwachsene eine selbstverständlichere und natürliche Beziehung zur Realität Ki haben werden.

Meine ersten bewussten und benennbaren Erlebnisse mit Ki-Wahrnehmung hatte ich beim Taijiquan und mit Bäumen. Die erste Erfahrung teile ich, wie ich heute nach etlichen Jahren eigenen Unterrichtens weiß, mit sehr vielen: Es ist das staunende Entdecken, dass zwischen meinen leeren, einander zugewandten Händen etwas ganz Lebendiges und Eigenartiges geschieht, das fließt, pulsiert, sich ausweitet, sich zusammenzieht, ja sogar unwillkürlich meine Hände und Arme spürbar bewegt. Faszinierend!

Die andere Erfahrung überkam mich bei einem Spaziergang im Park, bei dem mich geradezu überfallartig die Erkenntnis ergriff, dass die Bäume eine Ausstrahlung von Energie um sich haben, in die ich beim Spazierengehen hineinlief und wieder hinaus. Jeder Baum hatte dabei eine sehr eigene Ausstrahlung, die sich in Kraft, Wärme, Bewegung und Fließrichtung von anderen unterschied. Das passierte mir in einer Zeit, in der noch nicht allenthalben von Energie oder Ki die Rede war, aber ungeachtet dessen musste ich in meiner Aufregung Freunden davon erzählen. Die fanden mich dann schon ein bisschen komisch.

Das Auftauchen von Ki-Erfahrungen quasi aus dem Nichts ist beeindruckend – ähnlich beeindruckend wie der Moment, wo man Buchstaben anschaut und plötzlich merkt, das heißt H A U S – ich kann lesen!!! Ich weiß noch, wie mein älterer Bruder bei einem Weg durchs Dorf, vom Leseblitz getroffen, auf einem Schild das Wort ESSO las. Wie habe ich ihn bewundert! Und als er mir dann diese Zauberei liebevollerweise auch beibrachte und bei mir der Blitz einschlug, was für ein schöner Schreck des Erkennens! Ähnlich ist das mit der Arbeit mit Ki. Nur dass halt die meisten Menschen lesen können und deine Erfahrung teilen, dass komische Zeichen Wörter bedeuten. – Wenn du aber feststellst, dass im Leber-Meridian Turbulenzen sind … tja, dann solltest du dir schon überlegen, wem gegenüber du damit rausplatzt.

In den ersten Jahren meines Lebens mit Taijiquan, Qigong und Shiatsu war mein Bedürfnis, von meinen aufregenden Entdeckungen zu erzählen, groß. Es gab immer wieder Stufen der Entwicklung, wo neue Wahrnehmungsqualitäten sich öffneten. Ich hatte gerade angefangen, Shiatsu zu lernen, und rätselte, wie wohl die Leute darauf gekommen waren, sich auf die Meridianverläufe zu einigen. Es hätte ja auch so eine Geschichte wie in dem Märchen “Des Kaisers neue Kleider” sein können, wo ein paar Schlaumeier versuchen, den Rest der Welt für dumm zu verkaufen. Zu dem Zeitpunkt blühender Skepsis nahm ich an einem Intensivkursus “Kranich-Qigong” teil. Weiß der Kuckuck, wie es zuging, aber danach gab es für mich nicht mehr den geringsten Zweifel, dass diese Meridiane eine maßgeblich vorhandene sinnlich wahrnehmbare Tatsache sind. Für die einen war das Schnee von gestern, für andere Einbildung, für mich war es umwerfend, und ich musste es in alle Himmelsrichtungen erzählen.

Inzwischen bin ich stiller geworden, etwas vorsichtiger und auch ein bisschen gelassener – außerdem fehlen mir oft die Worte. Wenn man mich allerdings fragt, so fällt mir doch die eine oder andere Geschichte ein.

Im Shiatsu-Kursus äußern sich Teilnehmer und Teilnehmerinnen oft besorgt darüber, ob sie denn die nötigen Fähigkeiten, sozusagen die Begabung, hätten, ein Ki bezogenes Shiatsu zu lernen. Sie fragen sich, ob sie denn auch spüren, was sie spüren sollten. Diese zweifelnde Suche nach dem “richtigen Spüren” ist zwar nur zu verständlich, aber dennoch ein Holzweg.

Ki-Wahrnehmung ist etwas höchst Individuelles, und hier hinkt der Vergleich mit dem Lesenlernen. Man kann sich nicht so ohne weiteres objektiv darüber verständigen. Man kann sich annähern, wenn man eine eher künstlerische Sprache gebraucht, die wie die Poesie auf Bilder und Klang zurückgreift, und die den persönlichen Eindruck hoch bewertet. Unsere Neigung, nach wissenschaftlicher Objektivität zu suchen, wird nach meiner bisherigen Erfahrung dem Spiel mit dem Ki nicht gerecht.

Ein Schlüssel auf dem Wege zum Ki ist also: Traue deiner eigenen Wahrnehmung und lerne sie kennen. Des Weiteren lässt sich Ki-Wahrnehmung nicht suchen. Sie kommt, wie es ihr passt. Und je mehr du ihr auflauerst, desto spröder sucht sie die Verborgenheit. Man darf sich nicht kirre machen lassen, wenn wahre Koryphäen (gelegentlich auch mal ein Angeber) einem was vom Ki erzählen, und man selbst “dumm” dabei steht, nichts sieht, nichts spürt und sich dann entscheiden muss, ob man jetzt lieber ein bedeutungsvolles Gesicht aufsetzt oder schlicht wie das Kind (um noch mal auf das Märchen “Des Kaisers neue Kleider” zurückzukommen) sagt: “Ich seh’ da aber nichts.” Bei zweien meiner Lieblingslehrer gab es jede Menge solcher Situationen: Wir machen z. B. Haradiagnose und sollen also aufgrund von Berührung auf dem Bauch eine Aussage darüber machen, wo sich Fülle bzw. Leere ausdrücken. Und während wir innerlich noch zwischen Wahrnehmen, Denken und Meinen herumirren, wirft die Lehrerin einen Blick auf unser Modell und befindet, es sei doch ganz klar: Hier ist die Fülle und da die Leere. Und dann fasst sie mal eben beiläufig irgendwo hin, und schwuppdiwupp – ist die Imbalance ausgeglichen. Toll. Ich aber sitze da, staune und sehe einen von einem grünen Pullover bedeckten Bauch. Kurz: Da muss man durch. Und wer die (Ki-)Wahrnehmung eines anderen Menschen nachmachen will, sitzt im Dunkeln.

Ich habe Shiatsu über einen handwerklichen Weg gelernt und unterrichte es auch so. Das heißt, der Weg geht von den Aspekten aus, die äußerlich erlernbar sind, wie Haltung, Bewegung, Techniken, Meridianverläufe etc., und schafft damit einen handhabbaren Rahmen für Erfahrung und Wahrnehmung. Übung und Erfahrungen sammeln sind das A und O.

Wer an seiner Fähigkeit, auf Ki einzugehen, zweifelt, sollte sich klarmachen, dass ein Mensch, der als Musiker tagtäglich Stunden an seinem Instrument verbringt, selbstverständlich ein viel feineres Gehör entwickelt, das auf Nuancen eingeht, die für andere gar nicht vorhanden sind. Oder: Künstler und Laien betrachten zusammen ein zeitgenössisches Gemälde – die Künstler werden es mit ganz anderen Augen sehen als ich zum Beispiel – Ratlosigkeit im Blicke. Also heißt die Devise: Übe und gib dem Ki eine Chance.

Ich habe meine helle Freude an Situationen im Shiatsu-Kursus, wenn die Teilnehmer und Teilnehmerinnen überrascht dem Ki begegnen – oder besser umgekehrt, es begegnet ihnen: Sie biegen um die nächste Ecke und laufen dem Ki in die Arme. Plötzlich ist jemandem klar: Hier bin ich auf dem Magenmeridian, und hier kann ich nur daneben sein, denn da ist er eindeutig nicht. Oder in meinem allerersten Kursus zu Ki bezogenem Shiatsu: Ich versuchte, meiner Gruppe viele, viele Erfahrungen zur Verfügung zu stellen, ohne von Kyo oder Jitsu (Leere und Fülle) zu sprechen, und dann kam der Moment, wo die einzelnen begannen, mit ihren persönlichen Worten Kyo und Jitsu zu beschreiben – die Tür war offen, herrlich!

Wo auch immer man ist auf dem sehr individuellen Weg Shiatsu: Die Wahrnehmung ändert sich und entsprechend die eigene Kunstfertigkeit im Dialog mit dem Ki. Es ist schön zu sehen, wie Menschen dabei kreativ ihren eigenen Stil entwickeln: Es entspricht ihnen selbst, ob sie ein eher körperliches Shiatsu machen oder eines, das sehr energiebezogen ist. Manche entwickeln sich dabei weg von dem, was wir üblicherweise noch Shiatsu nennen, arbeiten mit immer feineren Berührungen oder ganz in der Aura.

Am wichtigsten finde ich dabei die Authentizität, die Ehrlichkeit und Einfachheit des Praktizierenden. Es ist gut, der eigenen Wahrnehmung zu trauen. Und es ist gut, sich zu vergewissern, dass man “nicht auf einem Trip” ist, sich und anderen nichts vormacht. Und das ist fast ein Koan, ein schier unlösbares, aber sehr inspirierendes Rätsel. Wie so vieles beim Shiatsu!

Die Wirklichkeit, die Wirklichkeit trägt wirklich ein Forellenkleid und dreht sich stumm und dreht sich stumm nach andren Wirklichkeiten um.

(Andre Heller)

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© Alena Maria Schneider leitet in Hamburg den Frühlingsgarten (22763 Hamburg, Bei der Rolandsmühle 6, Tel. +49 40 881 32 09, http://www.fruehlingsgarten.org), ein Studio für Taichi, Qigong und Shiatsu. Sie ist von der GSD zur Ausübung von Shiatsu Praxis und Lehre anerkannt und Autorin des Buches “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung” (Verlag Ganzheitlich Heilen, 2005)