Bestimmung des Nährwerts von Nahrungsmitteln: Die Atwater-Faktoren

Die Atwater-Faktoren

Die Schätzungen von Nahrungsbrennwerten (Kalorienangabe) beruhen auf dem so genannten Atwater-System. Der amerikanische Chemiker Wilbur Olin Atwater (1844 bis 1907) wollte herausfinden, wieviel Kalorien in verschiedenen Lebensmitteln enthalten sind. Mit dem so genannten Bombenkalorimeter ermittelte er deshalb wie viel Energie in Form von Wärme freigesetzt wird, wenn typische Proteine (Eiweiße), Kohlenhydrate und Fette – d.h. die drei Hauptkomponenten menschlicher Nahrung – vollständig verbrannt werden und fand dabei heraus, dass bei den verschiedenen Typen jeder der drei Hauptkomponenten kaum größere Abweichungen auftraten. Durchschnittlich, so konnte er zeigen, liefern Proteine und Kohlenhydrate etwas 4 Kilokalorien pro Gramm, wohingegen Fette (Lipide) durchschnittlich 9 Kilokalorien pro Gramm enthalten.

Für die Bestimmung des Energiegehalts (Nährwert) von Nahrungsmitteln, ist es deshalb erforderlich, die Mengenanteile von Proteinen, Kohlenhydraten und Fetten zu bestimmen. Um den Mengenanteil an Proteinen zu bestimmen, griff Atwater auf den prozentualen Stickstoffanteil der Nahrungsmittel zurück, da 100 Gramm Proteine durchschnittlich (über alle Arten von Eiweißen) 16 Gramm Stickstoff enthalten.

Den Fettanteil bestimmte Atwater, indem er die Nahrungsmittel möglichst klein häckselte und sie mit Äther mischte, da Fette im Unterschied zu den anderen beiden Nahrungsmittelbestandteilen in Äther löslich sind. Durch Abwiegen der Menge der im Äther gelösten festen Fette und flüssigen Öle konnte (und diese Methode wird bis heute angewendet) Atwater den Fettanteil eruieren.

Schwieriger war die Bestimmung des Anteils an Kohlenhydraten – und bis heute gibt es kein (direktes) Verfahren dazu. Atwater verbrannte dazu das Nahrungsmittel vollständig, so dass nur noch mineralische Asche übrig blieb, die den anorganischen Anteil der Nahrung darstellt. Das Gewicht der Kohlenhydrate berechnete er dann nach der Formel „Trockengewicht des Lebensmittels minus Gewicht der Fette, der Proteine und der mineralischen Asche“.

Dann geht es noch darum herauszufinden, wie viel von den drei Hauptkomponenten der Nahrung aufgenommen werden. Um das zu ermitteln (wie viel der Nahrung verwertet wird) wog Atwater den Kot von Menschen, die eine genau abgemessene Kost verzehrt haben. Seinen Forschungen zufolge werden selten mehr als 10 Prozent der Nahrung nicht verdaut und die ermittelten Anteile innerhalb der drei Nährstoffklassen schwanken dabei so schwach, dass sie vernachlässigt werden können.

Die sich daraus ergebenden Atwater-Faktoren besagen, dass Proteine und Kohlenhydrate mit je 4 Kilokalorien pro Gramm und Fette mit 9 Kilokalorien pro Gramm zu Buch schlagen, wobei von einer Verwertung der Nahrung von zumindest 90 Prozent ausgegangen wird. Sie liegen Brennwertdatenbanken wie der National Nutrient Database des US-Landwirtschaftsministeriums und vielen Kalorientabellen zugrunde.


Das Atwater Specific-Factor System

Ernährungswissenschaftler haben aber schon vor einiger Zeit erkannt, dass das Atwater-System Mängel aufweist und es wurde deshalb 1955 als Atwater Spcecific-Factor System entsprechend modifiziert. Eingeflossen sind dabei unter anderem, dass die Brennwerte unterschiedlicher Proteintypen doch deutlicher schwanken als von Atwater angenommen wurde. So produziert das Protein in Hühnereiern 4,36 kcal/g, während das Protein in Naturreis nur 3,41 kcal/g erzeugt. Aber auch die Analyse der Nahrungszusammensetzungen wurde verbessert. Während Atwater noch von einem generellen 16prozentigen Stickstoffanteil von allen Proteinen ausging, weiß man heute, dass der Proteinanteil in Nudeln bei 17,54 Prozent liegt und der von Milcheiweiß bei 15,67 Prozent. Mit diesen Modifizierungen wurde das Atwater-System bezüglich spezifischer Faktoren zwar genauer, doch bleibt die Gesamtwirkung der Änderungen im Allgemeinen so gering, dass viele Ernährungswissenschaftler nach wie vor lieber mit (geringfügig modifizierten) allgemeinen Faktoren rechnen.


Schwächen des Atwater-Systems

Vor allem zwei große Schwächen, so Richard Wrangham („Feuer fangen“) weist das Atwater-System (und alle seine Modifikationen) für Wrangham auf: Zum einen wird die für die Verdauung notwendige Energie nicht berücksichtigt und zum anderen wird vernachlässigt, dass der verdaute bzw. nicht verdaute Anteil stark abhängig ist von der Art der Nahrung.

Verdauung ist ein energieintensiver Prozess. Wenn wir essen, dann steigt unsere Stoffwechselrate um bis zu 25 Prozent – abhängig natürlich von der Art der Nahrung. Nahrung wird, anders als im Bombenkalorimeter, das Atwater für seine Bestimmung benutzte, nicht verbrannt, sondern mühsam abgebaut. Für diesen komplexen Ablauf wird Energie verbraucht, wobei der Verbrauch abhängig ist von der Art der Nahrung. So kostet die Verdauung von Protein mehr Energie als die von Kohlenhydraten. Die wenigste Energie allerdings erfordert der Fettabbau. Je höher der Anteil an Proteinen in einer Nahrung beispielsweise ist, desto größer ist dann also der Energieaufwand. Entsprechend den heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen sind zähe, feste Kost, große Nahrungsteile, eine große Mahlzeit und kaltes Essen energieaufwendiger als weiche Nahrung, kleine Nahrungsstücke, mehrere kleine Mahlzeiten und warmes Essen. Um z.B. einen nusshaltigen Müsliriegel mit einer Energiemenge von 300 kcal zu verdauen, muss der Körper mehr Energie investieren, als wenn er ein Stück zuckerhaltigen Kuchen mit 300 kcal verdaut. Netto bleibt also nach dem Verzehr des Müsliriegels von den 300 kcal weniger übrig als nach dem Genuss des Kuchens. Deshalb könnte der Blick auf die Nährwertangaben von Lebensmitteln zum Trugschluss führen, dass bestimmte Speisen “Dickmacher” sind, obwohl der Körper netto gar nicht übermäßig viel Energie durch sie aufnimmt. Und umgekehrt können manche Speisen auch in ihrer „dickmachenden“ Wirkung unterschätzt werden, da ihre Verdauung dem Körper nur sehr wenig abverlangt.

Darüber hinaus gibt es Unterschiede bei den Individuen. So benötigen, wie Untersuchungen zeigen, schlankere Menschen für die Verdauung mehr Energie als übergewichtige. Ob der geringere Energieaufwand für die Verdauung das Übergewicht bewirkt oder umgekehrt ist, so Wrangham, noch nicht geklärt. Auf jeden Fall ist es aber nachweislich so, dass die gleiche aufgenommene Kalorienmenge eine übergewichtige Person stärker zunehmen lässt als eine schlanke Person.

Bei der Verdauung kann sehr viel Energie verloren gehen, wie der britische Ernährungswissenschafter Geoffrey Livesey gegenüber der Wissenschaftszeitschrift „New Scientist“ ausführte, doch sind diese „Kosten“ auf den Lebensmittel-Etiketten nirgends aufgeführt. Auf 5 bis 25 Prozent beziffert er den Unterschied, der sich zwischen Kalorienmenge und effektiver Kalorienzufuhr bei der Verdauung ergeben kann. So zum Beispiel bei den Ballaststoffen: Nach Liveseys Berechnung liefert 1 Gramm Ballaststoffe dem Körper nicht 2 Kilokalorien, wie normalerweise angegeben, sondern lediglich 1,5 Kilokalorien – weil sich an den gesunden Fasern erst die Darmmikroben gütlich tun, bevor auch wir unseren Anteil bekommen. Ähnliches gelte für Eiweiße: Von 4 auf 3,2 kcal, also um 20 Prozent, sollte laut Livesey ihr Energiegehalt reduziert werden, denn dieser Anteil geht verloren, wenn sich die Eiweiße in Aminosäuren aufspalteten.

Der zweite Schwäche des Atwater-Systems beruht auf dessen Annahme, dass der Anteil der verdauten Nahrung stets derselbe ist, unabhängig davon, in welcher Form die Nahrung aufgenommen wird (flüssig oder fest, große oder kleine Stücke), ob sie viel oder wenig Ballaststoffe enthält oder ob sie roh oder gekocht ist. Atwater hatte angenommen, dass der Anteil der Nahrung, die unverdaut wieder ausgeschieden wird, bei höchstens zehn Prozent liegt und ziemlich konstant ist. Das ist aber nicht korrekt, wie etwa bei Getreide nachgewiesen werden konnte. Hier hängt die Verdaulichkeit stark davon ab, wie fein es gemahlen wird. Bei grob gemahlenem Getreide können bis zu 30 Prozent des Mehls wieder unverdaut ausgeschieden werden, wohingegen besonders fein gemahlenes Mehl fast vollständig aufgenommen werden kann.

Die Verdaulichkeit von Nahrungsmitteln ist aber nicht nur abhängig von ihrem physikalischen Zustand, sondern auch von den Eigenschaften anderer Nahrungsmittel, die zugleich aufgenommen werden. So ist beispielsweise Eiweiß leichter verdaulich, wenn es zusammen mit faserreicher Kost aufgenommen wird. Über die Auswirkung des Garungsgrades (von roh bis völlig durch) hingegen gibt es nur wenig gesichertes Wissen, wenngleich allgemein anerkannt ist, dass rohe Lebensmittel dem Körper weniger Nettoenergie zuführen als gekochte Nahrung. Rohe Nahrungsmittel benötigen mehr Energie für die Verdauung und zudem wird ein höherer Anteil unverdaut wieder ausgeschieden.

Wie viel der Körper von einem Lebensmittel aufnimmt, hängt also auch von der Konsistenz ab. Ein Vollkornbrötchen mit Kürbiskernen und eine Kinderschnitte mögen beide etwa 250 Kalorien zählen; dass der „Brennwert“ des weichen Kindersnacks letztlich trotzdem überwiegt, ist damit zu erklären, dass der Körper beim Verdauen des härteren Vollkornbrötchens viel mehr Energie aufbringen muss. Japanische Forscher haben diesen Effekt in einem Experiment mit Ratten nachgewiesen: Während einer bestimmten Zeit fütterten sie einer Gruppe von Tieren das übliche Körnerfutter, der anderen Gruppe aber eine weichere Form, die viel weniger gekaut werden musste. Das Ergebnis war, dass die Ratten mit der „Soft-Version“ nach 22 Wochen fettleibig waren, die anderen hingegen nicht.

Am meisten aber wird ein Lebensmittel durch das Kochen beeinflusst. Gekochtes verwertet der Körper grundsätzlich besser als Rohkost. Mehr noch: „Kochen verleiht dem Essen Energie“. Als eigentliche Triebfeder der Menschwerdung wird darum die Erfindung des Kochens angesehen. Indem sich die „Kosten der Nahrungsaufnahme“ verringerten, stand dem werdenden Menschen im Laufe seiner Evolution mehr Energie zur Verfügung (was sich, so Wrangham, vor allem in einer deutlichen Zunahme an Hirnmasse und einer Verkleinerung des Verdauungsapparats auswirkte). Bei Fleisch zum Beispiel entfalten sich durch die Hitze die komplex strukturierten Proteine und werden so umgewandelt, dass sie der Körper leichter aufnehmen kann. Auch bei Gemüse oder Milchprodukten steigt die Energiebilanz beträchtlich, wenn die Speisen gekocht sind. In einem Tierexperiment konnte z.B. gezeigt werden, dass die Kalorienaufnahme bei gekochten Karotten um bis zu 40 Prozent höher ist als bei rohen.

Insgesamt gibt es nur wenige konkrete Informationen (Werte) über die Unterschiede im Energieaufwand und in der Verdaulichkeit von Nahrungsmitteln, so dass viele (die meisten) Ernährungswissenschaftler auch weiterhin dazu neigen, an den allgemeinen Atwater-Faktoren festzuhalten – und damit irreführende Werte anführen, weil weder die physikalischen Eigenschaften der Nahrungsmittel noch ihre Darreichungsform berücksichtigt werden, was dazu führt, dass wir, im Gegensatz zu naturbelassenen oder nur geringfügig verarbeiteter Nahrung, heute oftmals regelrechte Nährstoffextrakte zu uns nehmen – und diesen Unterschied nicht (oder nur sehr wenig) beachten.