Bindung prägt unser Leben. Bindungstheorie nach John Bowlby

John Bowlby (1907-1990), englischer Psychiater und Psychoanalytiker, beschreibt in den 1950er Jahren, wie ein Kind während des ersten Lebensjahres auf der Grundlage eines biologisch angelegten Verhaltenssystems eine starke emotionale Bindung zu einer Hauptbezugsperson entwickelt. Er schuf damit ein Konzept, das als Bindungstheorie (insbesondere nach den empirischen Untersuchungen seiner Mitarbeiterin Mary Ainworth) Eingang in die psychoanalytische/therapeutische Theorie fand. Wenn sich die Hauptbeziehungsperson entfernen will, „protestiert“ das Kleine, es fängt an zu weinen, ruft, krabbelt hinterher und klammert sich fest. Dieses Verhalten des letztlich hilflosen Säuglings ist angeboren und sicherte schon vor Hunderttausenden von Jahren sein Überleben. Und da nicht nur der Mensch, sondern auch alle Säugetiere und selbst Vogeljunge Bindungsverhalten zeigen, wurde dieses Verhalten wohl schon sehr früh in der Evolution genetisch verankert.

Das Bindungsverhalten besteht aus verschiedenen beobachtbaren Verhaltensweisen wie Lächeln, Schreien, Festklammern, Zur-Mutter-Krabbeln, Suchen der Bezugsperson etc. Konkretes Bindungsverhalten wird bei Wunsch nach Nähe oder in „Alarmsituationen“ aktiviert. Letztere werden von emotionalem Stress begleitet, beispielsweise bei zu großer Distanz zur Bezugsperson, bei Unwohlsein, Schmerz und Angst, wobei abgewiesene Bindungswünsche das bindungssuchende Verhalten verstärken.


Bindungspersonen

Meist ist es die Mutter, die in der menschlichen Entwicklung zur Hauptbindungsperson wird. Bald schon aber können weitere Personen dazukommen, wie der Vater, die Großeltern, die große Schwester, der große Bruder oder die Tagesmutter.

In der Regel akzeptiert der Säugling nicht mehr als drei bis vier Bindungspersonen gleichzeitig, die wie in einer Pyramide ihrer Bedeutung entsprechend angeordnet sind. Die Hauptbezugsperson steht dabei ganz oben. Ihr Zuspruch wird bei größerer Angst, Bedrohung oder Schmerzen vehement eingefordert. Das muss nicht immer die Mutter sein, zumal die Spitzenposition durchaus auch wechseln kann. Ist die aktuell bevorzugte Bindungsperson nicht verfügbar, lässt sich das Kleinkind unter leichtem Protest auch von der „zweitbesten“ Bindungsperson trösten.


Inneres Arbeitsmodell

Generell zeigt sich, dass nicht die Quantität einer Beziehung den Ausschlag für die Entwicklung einer bestimmten Bindung gibt, sondern die Qualität. Die frühen Erfahrungen mit der/den Bezugsperson/en werden zu repräsentionalen Systemen zusammengefasst, die Bowlby als „innere Arbeitsmodelle“ bezeichnet. Sie regulieren als internalisierte Bindungserfahrungen das Verhalten des Kindes zur Bezugsperson und strukturieren später das Verhalten und Erleben in allen emotional relevanten Beziehungen einschließlich der zu sich selbst (inwieweit jemand Nähe und Sicherheit in einer Beziehung erwartet und inwieweit er sich selbst der Zuwendung, Liebe und Aufmerksamkeit wert fühlt, also Nähe zulassen kann).

Das „inner working model“ beinhaltet die individuellen frühen Bindungserfahrungen sowie die daraus abgeleiteten Erwartungen, die ein Kind gegenüber menschlichen Beziehungen hegt. Sie dienen dazu, das Verhalten der Bindungsperson zu interpretieren, und ihr Verhalten vorherzusagen. Nach der Entwicklung im ersten Lebensjahr, werden die „inner working models“ zunehmend stabiler und bilden sich zu Bindungsrepräsentationen aus.

Wesentlich ist, dass die sich entwickelnden Bindungstypen aus der Eltern-Kind-Beziehung hervorgehen und somit eine zwischenmenschliche Qualität spiegeln, in die das Verhalten beider Seiten einfließt. Dabei ist für die spätere Bindungsqualität die Feinfühligkeit (adäquates und promptes Reagieren auf die Äußerungen und Bedürfnisse des Säuglings) der Bezugspersonen entscheidend.


Entwicklung des Bindungsverhaltens

Bindungsverhalten entwickelt sich im ersten Lebensjahr. Bis zur sechsten Lebenswoche kann dabei die Bindungsperson beinahe beliebig wechseln. Dann entsteht – etwa gleichzeitig mit dem ersten personenbezogenen Lächeln – eine zunehmend festere Bindung zu einer oder mehreren Personen (wie Mutter, Vater, Geschwister, Pflegemutter u.a.m.).

Auch ältere Kinder zeigen typisches Bindungsverhalten sobald sie sich körperlich oder seelisch gefährdet fühlen – das kann ein Sturz sein, ein bellender Hund oder nach dem ersten Lebensjahr auch ein nächtlicher Angsttraum. Immer steht das Bedürfnis nach Bindungssicherheit im Vordergrund. Erst wenn es befriedigt ist (z.B. durch Blick- oder körperlichen Kontakt der durchaus von kurzer Dauer sein kann), entsteht der Wunsch, die Umwelt zu erkunden. Erst dann wird das Explorationssystem aktiviert (und damit das Erkundungsverhalten), wobei die Bindungsperson als „sicherer Hafen“ fungiert, in dem das Kind bei gefühlter Gefahr zurückkehren kann (und sich durch Blickkontakt auch häufig „rückversichert“).

Typisch zeigt sich eine sichere Bindung im Alter zwischen 11 und 18 Monaten bei einer Trennung von der Bindungsperson. Verlässt die Bindungsperson den Raum, protestiert ein sicher gebundener Säugling in der Regel und weint vielleicht sogar. Er lässt sich durch eine „fremde Person“ kaum oder gar nicht beruhigen und begrüßt die zurückkehrende Bindungsperson freudig.


Vierphasenmodell der Bindungsentwicklung

Bowlby unterscheidet in der Entwicklung der Bindung vier Phasen (1969):

  • Vorphase: bis ca. 6 Wochen
  • Personenunterscheidende Phase: 6. Woche bis ca. 6./7. Monat
  • Eigentliche Bindung: 7./8. bis 24. Monat
  • Zielkorrigierte Partnerschaft: ab 2 / 3 Jahren

 
Unsicher ambivalente Bindung

Können – auch welchem Grund auch immer – die Bindungs- und Erkundungswünsche des Säuglings von den Eltern nicht angemessen und zuverlässig beantwortet werden, kommt es zu Störungen in der Entwicklung. Werden die Bedürfnisse des Kindes beispielsweise einmal befriedigt, ein anderes Mal hingegen negiert, entwickelt das Kind gegenüber der Bindungsperson unsicher ambivalente Gefühle. Solche Kinder sind einerseits von der Suche nach Nähe geprägt und andererseits von Distanzierung, aus Angst erneut zurückgewiesen zu werden, und verhalten sich damit widersprüchlich-anhänglich an die Bezugsperson.

Sie können auf Grund ihrer Erfahrungen, dass sie die Bindungspersonen als unzuverlässig und deren Reaktionen als nicht nachvollziehbar und nicht vorhersagbar erlebt haben, nicht einschätzen, wie eine Bindungsperson in einer bestimmten Situation handeln oder reagieren wird. Das Kind ist deshalb viel damit beschäftigt, herauszufinden in welcher Stimmung die Bezugsperson gerade ist, was sie will und braucht, damit es sich anpassen kann – was zu einer Einschränkung des Erkundungsverhaltens führt. Bezugspersonen sind, was den Aufbau einer positiven Erwartungshaltung verhindert, oft auch dann nicht (im Sinne des Bedürfnisses des Kindes) verfügbar, wenn sie in der Nähe sind.

Bei Trennung wirken solche Kinder massiv verunsichert, weinen, laufen zur Tür und sind kaum zu beruhigen. Bei Wiederkehr der Bindungsperson zeigen sich abwechselnd anklammerndes und aggressiv-abweisendes Verhalten und sind nur schwer zu beruhigen. Als Erwachsene scheinen sie in früheren Beziehungen gefangen („unsicher-präokkupiert“, „bindungsverstrickt“), berichten über diese inkohärent und mit negativer affektiver Besetzung.


Unsicher vermeidende Bindung

Wird das Bindungsverhalten hingegen meistens missachtet, fördert das einen unsicher vermeidenden Bindungsstil. Die Trennung von der Bezugsperson scheint dem Säugling dann gar keinen Kummer zu bereiten und ihre Rückkehr wird weitgehend ignoriert. Sie zeigen eine Pseudounabhängigkeit und ein auffälliges Kontakt-Vermeidungsverhalten, indem sie sich primär mit Spielzeug im Sinne einer Stress-Kompensationsstrategie beschäftigen. Auf dem ersten Blick wirken solche Kinder deshalb gelassen und „pflegeleicht“, doch haben sie letztlich nur gelernt, ihren seelischen Schmerz nicht auszudrücken.

Es fehlt ihnen die Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit der Bindungsperson. Sie entwickeln eine Erwartungshaltung, dass ihre Wünsche grundsätzlich auf Ablehnung stoßen und ihnen Liebe und Unterstützung nicht zustehen. Aus der belastend-bedrohlichen Situation des wieder Zurückgewiesen-Seins/Werdens retten sich Kinder, die häufig Zurückweisung erfahren haben, deshalb vorwiegend durch Beziehungsvermeidung. Als Erwachsene äußert sich dieser Bindungsstil in einer hohen Distanz zu Bindungsthemen. Beziehungen werden meist idealisiert und Widersprüche schwer erkannt.


Sichere Bindung

Kinder mit einer sicheren Bindung können Nähe und Distanz der Bindungsperson angemessen regulieren. Sie entwickeln auf Grund von elterlicher „Feinfühligkeit“ eine große Zuversicht in die Verfügbarkeit der Beziehungsperson. Im Erwachsenenalter entspricht dies einem sicher-autonomen Bindungsstil.

Bei Trennung reagieren Kinder mit einer sicheren Bindung kurzfristig irritiert und weinen unter Umständen, wenn die Bezugsperson den Raum verlässt. Sie sind traurig, dass die Bindungsperson nicht bei ihnen ist, gehen aber davon aus, dass sie zurück kommt, lassen sich trösten und beruhigen sich schnell wieder. Bei Rückkehr der Bindungsperson laufen sie dieser entgegen und begrüßen sie freudig.


Empirische Untersuchungen

Ein empirischer Hinweis findet sich in den Untersuchungen von Gottfried Spangler und Klaus E. Grossmann zu Beginn der 1990er Jahre: Bei unsicher gebundenen Einjährigen steigt im Speichel die Konzentration des Stresshormons Cortisol beim Weggehen der Mutter stärker an und bleibt auch nach der Rückkehr der Mutter länger erhöht als bei sicher gebundenen. Diese Ergebnisse lassen den Rückschluss zu, dass unsicher gebundene Säuglinge zwar durchaus Angst fühlen, ihnen aber keine funktionierende Bewältigungsstrategie zur Verfügung steht.

Repräsentative Stichproben zeigen, dass nur etwa 65 Prozent aller Einjährigen eine sichere Bindung an die Mutter und 55 Prozent an den Vater haben – viele Kinder also unsicher gebunden sind. Und vergleichende Untersuchungen zeigen, dass Kinder mit einer sicheren Bindung in Notsituationen eher auf die Hilfe von anderen vertrauen und diese auch stärker einfordern als unsicher gebundene. Sie schließen mehr Freundschaften und können in Krisen und Konflikten differenzierter reagieren und diese besser bewältigen.

Für junge Eltern bedeuten die Ergebnisse der Bindungsforschung, dass für das Kind in den ersten Lebensmonaten wichtig ist, dass eine Bindungsperson verlässlich verfügbar ist. Das hat nichts mit Verwöhnen zu tun, vielmehr ist ein Säugling oft schlicht damit überfordert, seine Gefühle (etwa Ängste beim Einschlafen) allein zu regulieren. Er lernt dies nur, indem eine vertraute Person ihm zunächst dabei hilft. Dazu gehört – aus der Sicht der Bindungspsychologie – dass empfohlen wird, ein Baby bei nächtlichem Weinen immer unmittelbar zu trösten und so sein evolutionär verwurzeltes Bedürfnis nach Sicherheit im Dunklen zu befriedigen – was auch Untersuchungen von Ian St James-Roberts von der University of London 2006 nahelegen: Babys, die unmittelbar getröstet werden, weinen auf lange Sicht weniger als solche, deren Eltern sich vorgenommen haben, sie im ersten Lebensjahr auf selbständiges Durchschlafen zu trainieren.

Insbesondere ein Netz von drei bis vier Bindungspersonen, denen das Kind vertraut, gibt ihm eine besonders starke Sicherheitsbasis. Es ist allerdings günstig, wenn kleine Kinder nicht zu lange am Tag fremdbetreut werden, damit die Eltern die wichtigsten Bindungspersonen bleiben. Bleiben Säuglinge beispielsweise täglich zehn Stunden einer Kleinkindbetreuung, so klammern sie sich beim Abholen an die Tagesmutter, rufen nachts nach ihr und lassen sich von der Mutter kaum trösten.


Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens und prägt es

Bindungsverhalten verändert sich im Laufe des Lebens. Bei älteren Kindern und Erwachsenen ist das „ursprüngliche“, direkt beobachtbare Bindungs- und Explorationsverhalten im Sinne von Annäherung und Entfernung von Bindungspersonen nicht mehr so offensichtlich. Dennoch hat die Forschung auf Basis der Bindungstheorie Zusammenhänge zwischen frühem Bindungsverhalten und dem Verhalten älterer Kinder, Jugendlicher und Erwachsener gefunden.

Wie wichtig eine sichere Bindungserfahrung ist zeigt eine Langzeitstudie von Emmy Werner von der University of California in Davis (2001), die einen ganzen Säuglingsjahrgang auf der hawiianischen Insel Kaua´i 40 Jahre lang begleitete: Kinder, die mit wenigstens einer Person eine länger andauernde verlässliche Bindung erlebten, entwickelten eine gewisse psychische Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegen spätere Belastungen, ja sogar gegen traumatische Erfahrungen. Sie haben eine höhere Vulnerabilitätsschwelle, d.h. jene Schwelle, ab der ein Mensch Belastungen nicht mehr verarbeiten kann und eine psychische Störung oder körperliche Erkrankung (infolge der Dekompensation) entwickelt.


Bonding und Attachment

In der englischen Sprache unterscheidet man die Bindung der Eltern an das Baby (Bonding), die Bereitschaft der Eltern sich emotional auf das Kind und seine Signale einzulassen, und die Bindung des Babys an die Eltern (Attachment), das Vermögen des Kindes sich bei der Suche nach Schutz an seine Bindungsperson zu wenden.

Das Bonding, die Bindung der Eltern an das Kind, baut sich schon während der Schwangerschaft auf, wobei sich elterlicher Stress auf diesen Prozess nachweislich negativ auswirkt, weil er die emotionale Bereitschaft verringert, sich auf den Säugling einzulassen. Möglicherweise beeinflussen pränatale Belastungen auch die Gefühlsregulation des Kindes – Untersuchungen deuten darauf hin, so z.B. die Untersuchung von Harald Wurmser (Technische Universität München 2007), der nachweisen konnte, dass Kinder von Müttern, die während der Schwangerschaft unter starken Ängsten gelitten hatten, länger weinten und sich schwieriger beim Thema Essen und Schlafen verhielten.

Das Bindungssystem, das im Laufe der Kindheit entwickelt wird, bleibt während des ganzen Lebens aktiv. Langzeituntersuchungen belegen, dass ein ursprünglich ungünstiges Bindungsmuster sehr oft beibehalten wird. Eltern beispielsweise, die einen unsicheren Bindungsstil verinnerlicht haben, fällt es in der Folge oft auch schwer, die Bedürfnisse ihres Babys zu erkennen. Sie interpretieren dessen Signale häufiger falsch und tragen auf diese Weise zu einer unsicheren Bindung ihrer Kinder bei. Langzeituntersuchungen aus den 1980er Jahren in Deutschland und den USA zeigen auf, dass ca. 75 Prozent der einjährigen Kinder von Müttern mit einer sicheren Bindungshaltung ebenfalls sicher gebunden sind, solche von Müttern mit einem unsicheren Bindungsstil hingegen ebenso häufig ein unsicheres Bindungsmuster entwickeln.


Plastizität des Bindungsverhaltens

Das individuelle Bindungsverhalten/der Bindungstyp eines Neugeborenen entsteht durch die Anpassung an das Verhalten der zur Verfügung stehenden Bindungspersonen. Hierbei bilden die ersten sechs Lebensmonate die Phase stärkster Prägung. Es kann jedoch von einer gewissen Veränderbarkeit (Plastizität) ausgegangen werden: Das Bindungsverhalten ändert sich durch entsprechende Erfahrungen vor allem im Verlauf der Kindheit und Jugend. Hierbei haben sich bestimmte, die Bindung betreffende Schutz- und Risikofaktoren (wie eine im späteren Leben sich ergebende sichere Bindung oder – andererseits – Psychotraumata) als wichtige Einflüsse erwiesen. Im Erwachsenenalter gilt es als relativ konstant und bestimmt spätere enge Beziehungen, Die frühe Interaktion mit den primären Bindungspersonen zeigt eine Tendenz zur Generalisierung.


Wiederholung der eigenen (negativen) Erfahrungen

Viele Menschen haben in ihrer Kindheit traumatische Erfahrungen gemacht, die bis ins Erwachsenenleben ungelöst bleiben – oft verbunden mit der Hoffnung, dass mit ihrem eigenen Baby “alles gut wird“: Sie wollen liebevolle Eltern sein (sehen sich in ihrer Zukunftsprojektion als solche) und hoffen, dass ihre seelischen Verletzungen durch ihr eigenes Kind „geheilt“ werden. Diese Hoffnung erfüllt sich aber meist nicht, vielmehr im Gegenteil: Traumatische Erfahrungen und die dazugehörigen Affekte werden von den Kindern in den Eltern unbewusst und unbeabsichtigt wachgerufen – beispielsweise durch sein Weinen, seine Suche nach Zärtlichkeit, Wutanfälle oder auch seine Forderung nach Nähe – und führen, wenn dies beim Erwachsenen unbewusst und unkontrolliert geschieht, vielfach zu einer Reinszenierung des früheren Familiendramas, in der das Kind ungewollt (und unbewusst) in die Doppelrolle des „Provokateurs“ und Opfers gedrängt wird. Im schlimmsten Fall kommt es zu einer Wiederholung von Gewalt. Die Eltern können den Kummer des Babys nicht ertragen, weil es sie – und das geschieht völlig unbewusst – an die eigenen Momente der Verzweiflung aus der Kindheit erinnert.


Desorganisierte Bindung

Bindungsstörungen, wie sie beispielsweise nach emotionaler Vernachlässigung, physischer oder sexueller Gewalt, auftreten, sind von unsicheren Bindungsstilen abzugrenzen, die als „Anpassungen im Normbereich“ gesehen werden können. Kinder mit einer Bindungsstörung entwickeln sich emotional und motorisch langsamer oder sind in diesen Bereichen sogar stark beeinträchtigt. Sie zeigen ein deutlich desorganisiertes, nicht auf eine Bezugsperson bezogenes Verhalten. Hauptmerkmale sind bizarre Verhaltensweisen wie Erstarren, Im-Kreis-Drehen, Schaukeln und andere stereotype Bewegungen. Daneben treten – seltener – auch Mischformen auf, wie z.B. gleichzeitig intensives Suchen nach Nähe und deren Ablehnung.

Beim Erwachsenen zeigt sich eine gedankliche Inkonsistenz und Irrationalität bei bestimmten Themen wie Tod und Trennung. Es fällt solchen Menschen schwer, sich in Bedürfnisse, Gedanken und Absichten anderer einzufühlen, sie verhalten sich bei Konflikten aggressiver, können schlecht vertrauensvolle Beziehungen eingehen und neigen eher zu psychischen Erkrankungen. Ohne therapeutische Interventionen können Bindungsstörungen kaum aufgelöst werden.


Ursachen für desorganisierte Bindungen

Bowlby sieht in der längeren Trennung des Kindes von seinen Bezugspersonen (psychische Deprivation) den Ausgangspunkt für eine pathologische Entwicklung. Gemeint sind damit Zeiten von mehreren Wochen, mindestens aber zwei Monaten. Erfolgt die Wiedervereinigung mit der Bezugsperson vor dieser Frist, verschwinden die Störungen wieder und das Kind ist in der Lage, die normale Entwicklung aufzuholen. Allerdings besteht hier die Gefahr von verborgenen Störungen, die erst im späteren Leben in Erscheinung treten, wie z.B. eine erhöhte Depressionsanfälligkeit. In Ausnahmefällen führt schon eine kürzere Trennungsphase zu bleibenden psychischen Beeinträchtigungen.

Andauernde Trennung von einer Bindungsperson löst nach Bowlby einen mehrphasigen Trauerprozess aus, im Zuge dessen die Trennung mehr oder weniger gut verwunden wird. Notwendige Momente der Trauer sind die (unrealistische) Suche nach der Bezugsperson sowie Aggression und Wut, die sich auch auf die verlorene Bezugsperson richten. Ziel des Trauerprozesses ist es, die Abwesenheit der Bindungsperson zu akzeptieren.

Einer oder mehrere Beziehungsabbrüche können bei Kindern dazu führen, generell keine engere Beziehung mehr aufzunehmen oder ein stark ambivalentes Verhältnis zu nahen Beziehungen zu entwickeln. In einem solchen Fall fallen diese Kinder dadurch auf, dass sie gar kein Bindungsverhalten zeigen.


Undifferenziertes Bindungsverhalten

Neben dem völligen Fehlen von Bindungsverhalten ist zudem das „undifferenzierte Bindungsverhalten“ auffällig, das auch als „soziale Promiskuität“ bezeichnet wird. Solche Kinder unterscheiden nicht zwischen den Bindungspersonen und zeigen keine Zurückhaltung gegenüber fremden Personen. Sie verhalten sich gegenüber unterschiedlichen Personen und Fremden nahezu gleich, wenn ihr Bindungssystem aktiviert wird.


Primäre Quelle

Gehirn & Geist 9/2011