Das autobiographische Selbst. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

Das autobiographische Selbst lebt von der ständigen Reaktivierung und Darbietung ausgewählter Gruppen von autobiographischen Erinnerungen. Während im Kernbewusstsein der Selbst-Sinn aus dem subtilen, flüchtigen Gefühl des Erkennens erwächst, das mit jedem Pulsschlag des Bewusstseins neu geschaffen wird, entsteht der Selbst-Sinn des erweiterten Bewusstseins aus der schlüssigen, ständig wiederholten Darbietung von ausgewählten persönlichen Objekten, den Objekten unserer persönlichen Vergangenheit, die unsere Identität und unsere Personalität leicht begründen können. Autobiographische Erinnerungen werden vom Gehirn als Objekte behandelt, die in jene Beziehung zum Organismus treten können, die für das Kernbewusstsein charakteristisch ist. Damit rufen sie einen Pulsschlag des Kernbewusstseins hervor, ein Empfinden des Selbst-Erkennens.

schematische Darstellung

Das autobiographische Selbst tritt in Organismen auf, die mit einer beträchtlichen Gedächtnis- und Denkfähigkeit ausgestattet sind. Es ist aber nicht auf Sprache angewiesen und nicht mit Intelligenz (die Fähigkeit, Wissen erfolgreich zu manipulieren, so dass neue Reaktionen geplant und ausgeführt werden können) gleichzusetzen.

Das autobiographische Selbst ist darauf angewiesen, dass über längere Zeiträume die vielfältigen neuronalen Muster bereitgehalten werden, die das autobiographische Selbst beschreiben. Das Arbeitsgedächtnis bedeutet die dafür notwendige Fähigkeit, Vorstellungen so lange vor dem geistigen Auge zu halten, dass sie intelligent manipuliert werden können.

Das erweiterte Bewusstsein ist notwendig für die innere Entfaltung von erinnertem Wissen und für die anschließende Fähigkeit, dieses Wissen für Problemlösungen zu nutzen. Ein Organismus mit erweitertem Bewusstsein lässt erkennen, dass er komplexe Verhaltensweisen plant, nicht nur für den Augenblick, sondern auch über größere Zeiträume (wie Stunden, Tage, Wochen, Monate, Jahre). Ein Beobachter kann den Schluss ziehen, dass komplexe und angemessene Verhaltensweisen geplant waren, indem er die Geschichte des Individuums und den aktuellen Kontext berücksichtigt. Was eine Person tut, muss nicht nur unmittelbar, sondern auch in einem weiteren Kontext einen Sinn ergeben.


Die neuroanatomische Basis des autobiographischen Selbst

Die neuroanatomische Basis des autobiographischen Selbst lässt sich an Hand des theoretischen Gerüstes eines Vorstellungsraums und eines dispositionalen Raums darstellen:

  • Der Vorstellungsraum bezeichnet einen Raum, in dem Vorstellungen aller Sinnesmodalitäten explizit auftreten und der die manifesten mentalen Inhalte des Kernbewusstseins einbezieht.

Neuronale Muster, die die Basis von Vorstellungen sind, werden von Strukturen wie den frühen sensorischen Cortices verschiedener Modalitäten unterstützt.

  • Der dispositionale Raum bezeichnet einen Raum, der dispositionale Erinnerungen und Aufzeichnungen von implizitem Wissen enthält. Hier lassen sich in der Erinnerung Vorstellungen rekonstruieren, Bewegungen hervorrufen und die Verarbeitung von Bildern fördern. Dispositionen können die Erinnerung an eine Vorstellung enthalten, die bei einer früheren Gelegenheit wahrgenommen wurde und dazu beitragen, dass eine ähnliche Vorstellung aus dieser Erinnerung rekonstruiert wird. Dispositionen können auch bei der Verarbeitung einer aktuell wahrgenommenen Vorstellung behilflich sein – beispielsweise in Hinblick auf die Aufmerksamkeit, die der Verarbeitung gewidmet wird, und den Grad der anschließenden Verstärkung.

Cortices höherer Ordnung und verschiedene subcorticale Kerne enthalten Dispositionen, mit denen sich sowohl Vorstellungen als auch Handlungen generieren lassen. Dispositionen sind in Neuronenensembles enthalten, die als Konvergenzzonen bezeichnet werden.[1]Im Vorstellungsraum treten Vorstellungen aller Sinnesmodalitäten explizit auf. Die Inhalte einiger dieser Vorstellungen werden Gegenstand bewusster Erfahrung, während andere Vorstellungen unbewusst … weiterlesen

Die Unterteilung der Kognition in einen Vorstellungs- und einen dispositionalen Raum entspricht einer Unterteilung des Gehirns in:

  • Karten aus neuronalen Mustern, die in den frühen sensorischen Cortices, im limbischen Cortex und einigen subcorticalen Kernen aktiviert werden; und
  • Konvergenzzonen, die in den Cortices höherer Ordnung und in einigen subcorticalen Kernen lokalisiert sind.


Die Speicherung von Erinnerungen

Das Gehirn legt Erinnerungen weit verteilt an. Am Beispiel der Erinnerung an einem Hammer beschreibt Damasio, dass es in unserem Gehirn keinen bestimmten Ort gibt, wo wir einen Eintrag des Wortes Hammer finden, gefolgt von einer Definition dessen, was ein Hammer ist. Vielmehr gibt es zahlreiche Aufzeichnungen im Gehirn, die verschiedenen Aspekten unserer früheren Interaktion mit einem Hammer entsprechen: seiner Form, den typischen Bewegungen, mit denen wir ihn gehandhabt haben, der Art und Weise, wie die Hand sich formte, um den Hammer zu führen, dem Ergebnis der Handlung, den Wörtern, die ihn in den verschiedenen uns bekannten Sprachen bezeichnen etc. Diese Aufzeichnungen sind latent, dispositional, implizit und haben ihre Basis in verschiedenen neuronalen Gebieten der Cortexfelder höherer Ordnung. Diese Trennung ist durch die Struktur unseres Gehirns und durch die physische Beschaffenheit unserer Umwelt bedingt. Die Form eines Hammers visuell zu erfassen, ist nämlich etwas anderes, als sie beispielsweise zu ertasten. Die Muster, die wir zur Bewegung des Hammers verwenden, werden in einem anderen Cortexgebiet gespeichert als die Aufzeichnung der gesehenen Bewegung. Diese räumliche Trennung der Aufzeichnungen wirft allerdings kein Problem auf, weil die Vorstellungen, die in expliziter Form aus diesen Aufzeichnungen aufgerufen werden, nur in einigen wenigen Gebieten dargeboten und zeitlich so koordiniert werden, dass alle aufgezeichneten Komponenten bruchlos integriert zu sein scheinen.[2]Unser Gehirn speichert die Aufzeichnungen unserer persönlichen Erfahrungen in so vielen Cortexfeldern höherer Ordnung verteilt, wie erforderlich sind, um der Vielfalt unserer realen Interaktionen … weiterlesen

Wenn man aufgefordert wird, zu sagen, was das Wort Hammer bedeutet, so können wir augenblicklich und ohne Schwierigkeiten eine Definition liefern. Eine Basis für die Definition ist die rasche Entfaltung einer Reihe expliziter mentaler Muster, die diese verschiedenen Aspekte betreffen. Obwohl die Erinnerung an verschiedene Aspekte unserer Interaktion mit einem Hammer in separaten Teilen des Gehirns und in latenter Form aufbewahrt werden, sind diese verschiedenen Teile durch ihre Schaltkreise so eng miteinander koordiniert, dass die latenten und impliziten Aufzeichnungen sich rasch und in enger zeitlicher Abstimmung in explizite, wenn auch skizzierte Vorstellungen umwandeln lassen. Die Verfügbarkeit all dieser Vorstellungen ermöglicht uns, eine sprachliche Beschreibung des Objekts zu liefern, die uns als Grundlage einer Definition dient.


Das autobiographische Selbst als Prozess koordinierter Aktivierung

Den Forschungen von Damasio zufolge erwachsen die entscheidenden Elemente unserer Autobiographie aus einem immer wieder reaktivierten Netzwerk, das sich aus Konvergenzzonen in temporalen und frontalen Cortices höherer Ordnung sowie subcorticalen Kernen und denen der Amygdala rekrutiert. Die koordinierte Aktivierung dieses verteilten Netzwerkes wird von Thalamuskernen gesteuert, während die kontinuierliche Aktivierung der ständigen Komponenten auf die präfrontalen Cortexfelder angewiesen ist, die am Arbeitsgedächtnis beteiligt sind.

Kurz gesagt, ist das autobiographische Selbst ein Prozess koordinierter Aktivierung und Darbietung persönlicher Erinnerungen, die auf einem verteilten Netzwerk basieren. Die Vorstellungen, die diese Erinnerungen explizit repräsentieren, werden in mehreren frühen Cortices erzeugt und schließlich im Arbeitsgedächtnis längere Zeit bereitgehalten. Dabei werden sie wie jedes andere Objekt behandelt und gelangen dem Kernselbst zur Kenntnis, indem sie “Pulsschläge des Kernbewusstseins” erzeugen.

Die anhaltende Darbietung des autobiographischen Selbst ist der Schlüssel zum erweiterten Bewusstsein. Erweitertes Bewusstsein findet statt, wenn das Arbeitsgedächtnis gleichzeitig ein bestimmtes Objekt und das autobiographische Selbst aktiv hält, d.h. wenn sowohl ein bestimmtes Objekt als auch die Objekte der eigenen Biographie gleichzeitig Kernbewusstsein erzeugen.


Die Prägung des autobiographischen Selbst durch die häusliche, kulturelle und soziale Umwelt

Das autobiographische Gedächtnis entwickelt sich und reift unter dem herrschenden Schatten einer ererbten Biologie. Doch im Unterschied zum Kernselbst sind an der Entwicklung des autobiographischen Gedächtnisses viele Ereignisse beteiligt, die nicht nur von der Umwelt abhängig sind, sondern auch von ihr reguliert werden. Die Ereignisse, die die historische Vergangenheit und die antizipierte Zukunft eines Individuums konstituieren, werden in nicht geringem Umfang von der Umwelt geprägt.[3]Nach Damasio ist ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft. Auch die Verhaltensregeln und Grundsätze der Kultur, in der sich ein autobiographisches Selbst entwickelt, stehen selbstverständlich unter der Kontrolle der Umwelt. Gleiches gilt für das Wissen, das dem Individuum dazu dient, seine Autobiographie zu organisieren – ein Wissen, das von den Modellen für individuelles Verhalten bis zu den Fakten der Kultur reicht.


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Vorstellungsraum treten Vorstellungen aller Sinnesmodalitäten explizit auf. Die Inhalte einiger dieser Vorstellungen werden Gegenstand bewusster Erfahrung, während andere Vorstellungen unbewusst bleiben.    
Im dispositionalen Raum enthalten Dispositionen die Wissensbasis und die Mechanismen, durch die sich Vorstellungen im Gedächtnisabruf rekonstruieren lassen, durch die Bewegungen erzeugt werden können und durch die sich die Verarbeitung von Vorstellungen fördern lässt. Im Gegensatz zu den Inhalten des Vorstellungsraums befinden sich im dispositionalen Raum implizite Inhalte. Vorstellungsinhalte können wir erkennen (sobald das Kernbewusstsein aktiviert wird), während wir von den Dispositionsinhalten keine direkte Kenntnis erlangen können. Die Inhalte von Dispositionen sind nie bewusst und liegen nur in latenter Form vor. Dispositionen können aber vielfältige Wirkungen hervorrufen, wie z.B. die Ausschüttung von Hormonen in die Blutbahn oder die Kontraktion von Muskeln in der Viszera, in einer Extremität oder im Stimmapparat. Dispositionen enthalten einige Aufzeichnungen von einer Vorstellung, die bei einer früheren Gelegenheit real wahrgenommen wurde, und tragen dazu bei, eine ähnliche Vorstellung aus dem Gedächtnis zu rekonstruieren. Weiters sind Dispositionen an der Verarbeitung einer aktuell wahrgenommenen Vorstellung beteiligt, etwa indem sie beeinflussen, wie viel Aufmerksamkeit der aktuellen Vorstellung geschenkt wird. Wir sind uns nie des Wissens bewusst, das erforderlich war, um eine dieser Aufgaben zu erledigen, noch wissen wir um die Zwischenschritte, die ergriffen werden. Nur die Ergebnisse gelangen uns zur Kenntnis, z.B. ein Zustand des Wohlbehagens, Herzrasen, die Bewegung einer Hand, das Bruchstück eines erinnerten Lautes, die verarbeitete Version einer Landschaft, die gerade wahrgenommen wird.   
Unser gesamtes Gedächtnis, stammesgeschichtlich angelegt und von Geburt an verfügbar oder danach durch Lernen erworben, also alle unsere Erinnerungen an Dinge, Eigenschaften von Dingen, an Personen und Plätze, Ereignisse und Beziehungen, an Fertigkeiten, biologische Regulationen – an alles Erinnerbare – liegt in dispositionaler (impliziter, verborgener, nicht bewusster) Form vor und wartet darauf, eine explizite Vorstellung oder Handlung zu werden.         
Dispositionen sind keine Wörter. Sie sind abstrakte Aufzeichnungen von Möglichkeiten, Wörtern und Zeichen, die jedes Ding, jedes Ereignis oder jede Beziehung bezeichnen. Auch jene Regeln, nach denen wir Wörter und Zeichen zusammensetzen, liegen ebenfalls als Dispositionen vor und werden – z.B. beim Sprechen – als Vorstellungen und Handlungen zum Leben erweckt.
2 Unser Gehirn speichert die Aufzeichnungen unserer persönlichen Erfahrungen in so vielen Cortexfeldern höherer Ordnung verteilt, wie erforderlich sind, um der Vielfalt unserer realen Interaktionen Rechnung zu tragen. Und diese Aufzeichnungen sind durch neuronale Verbindungen eng koordiniert, so dass die Inhalte der Aufzeichnungen als Ensembles rasch und wirksam abgerufen werden und explizit gemacht werden können. Frische Eindrücke gelangen zunächst einmal in den Hippocampus (im vorderen Teil des Gehirns gelegen) und die umgebenden Temporallappen. Damit aus diesen frischen Eindrücken und Erfahrungen tatsächlich gespeichertes Wissen wird, muss eine Reihe von komplexen Prozessen ablaufen: Durch das Eintreffen von Reizen entsteht ein Gemisch aus chemischen Substanzen, das die Nervenzellen elektrische Signale abfeuern lässt. Der elektrische Impuls beginnt zwischen den Synapsen (Schaltstellen der Nervenzellen) zu kreisen. Dabei bewegt er sich in bestimmten, sich wiederholenden Bahnen und hinterlässt molekulare Spuren, die sich chemisch ins Gehirn einprägen. Die zuerst noch nicht stabil zusammengeschaltenen Nervenbahnen festigen sich. Es entstehen solide Verbindungen, die später zum Abrufen von Wissen beansprucht werden können. Örtlich verteilen sich diese Langzeit-Speichereinheiten über die gesamte Großhirnrinde.            
Die Konsolidierung erfolgt vor allem in Ruhephasen. Vor allem im Tiefschlaf ist das Gehirn weitgehend abgeschirmt von neuen Sinneseindrücken und kann Nervenzellen in Ruhe verknüpfen. Eine Nervenzelle ist bei diesem Vorgang der Konsolidierung nicht nur mit einer Erinnerung verbunden, sondern ist auch in andere neuronale Netze integriert.        
Einmal gefestigt, sind Langzeiterinnerungen zwar relativ stabil, dennoch aber dynamisch formbar – eine Erfahrung, die jeder von uns kennt, dass der Inhalt einer Erinnerung nicht dem ursprünglichen Erlebnis entsprechen muss. Ältere Erinnerungen können auch gezielt umgeschrieben werden, indem man einen Vorfall beispielsweise eine andere Konnotation (Bedeutung) gibt. Erinnerungen können auch nicht mehr zugänglich sein, weil man (bildlich gesprochen) das Stichwort vergisst, unter dem die Inhalte abgelegt wurden.
3 Nach Damasio ist ein Schlüsselaspekt der Selbst-Entwicklung das Gleichgewicht zweier Einflüsse: der gelebten Vergangenheit und der antizipierten Zukunft.