Das Gesunde fördern – Shiatsu als Therapie ist mehr als Behandeln (Peter Itin)

Anna (fiktiver Name), eine alleinstehende Frau im mittleren Alter, hatte nach einer Mobbing-Phase ihren Arbeitsplatz verloren und seither keine neue Anstellung mehr gefunden. Nach einer Brustkrebs-Behandlung, bereits ihrer zweiten (Operation, Chemotherapie und Bestrahlung), kam sie ins Shiatsu, weil die Narbe immer noch schmerzte, und weil sie sich generell erschöpft und energielos fühlte. Im Erstgespräch gab sie an, dass sie das Vertrauen in ihren Organismus und in die Menschen verloren hätte. Sie sei von ihrem Bekanntenkreis nicht ernst genommen und verstanden worden und hätte sich deshalb von allen zurückgezogen. Eigentlich sei sie eine Kämpfernatur, meinte sie. Davon war allerdings nichts mehr zu spüren. Sie fühlte sich und wirkte deprimiert, ohne Lebensfreude, resigniert, und „abgelöscht”.

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Shiatsu ist für mich mehr als eine Behandlung. Das prozessbegleitende Gespräch und die Anleitung von Übungen gehören für mich genauso zu Shiatsu, wenn meine Unterstützung eine ganzheitliche sein soll. Alle drei Elemente – Behandlung, Gespräch, Übungen – sind gleichwertig und erfolgen mit der gleichen Professionalität, auch wenn der zeitliche Umfang und Anteil unterschiedlich ist. Alle drei Elemente sind zudem in eine gemeinsame Ausrichtung und Arbeitsphilosophie integriert, für die ich den Begriff „CARE-Prinzip” formuliert habe. Der englische Begriff „care” hat mit Sorgfalt und Verantwortlichkeit zu tun, entsprechend dem Anspruch, den ich an meine Arbeit lege. CARE als Abkürzung steht für Gore, Achtsamkeit, Ressourcen und Empowerment.


Core – mit dem Herzen in Kontakt

Es gibt einen innersten Kern in jedem Menschen, der nicht durch äussere Bedingungen geprägt ist. Diesen Kern bezeichnen wir beispielsweise als unser göttliches Wesen, unsere Buddhanatur, als unsere Seele, unser Selbst oder unser tiefstes Wesen. Er wird auch mit dem Herzen und der Herzqualität in Verbindung gebracht. Der Kern in uns weiß intuitiv ganz genau, was in schwierigen Situationen zu tun ist, was gut, richtig und wichtig ist. Wer mit seinem Kern verbunden ist, kann alles so sehen und annehmen, wie es ist, sich mit Allem verbunden fühlen. Dieser Kern wird immer wieder bedroht und verletzt. Wir Menschen entwickeln deshalb im Laufe des Lebens Mechanismen im Denken, Fühlen, Sprechen und Handeln, um ihn schützen: wir weichen Konflikten aus, wir ärgern uns über andere und schieben ihnen die Schuld zu, wir versuchen andere zu manipulieren, usw. Schutzstrategien werden verinnerlicht, automatisiert und zu Charaktermerkmalen. Sie zeigen sich als energetische Muster mit hohem Beharrungsvermögen, als stabile Ungleichgewichte in den Meridianenergien, und sie drücken sich im Körper aus.

Als Therapeut richte ich mein Bewusstsein darauf aus, innerlich mit dem innersten Wesenskern der Klientin in Kontakt zu treten, mit ihrer tiefen Lebensfreude, ihrem Potential, ihrem Lebensfunken. Masunaga hat von der „Begegnung von Herz zu Herz” gesprochen. Ich verbinde mich mit den „vier unbegrenzten Geisteszuständen” von bedingungsloser Liebe, Mitgefühl, Lebensfreude und Gleichmut, die Buddha als heilende Energien bezeichnete. Ich habe die Vorstellung, auch die Klientin und ihre ganze Geschichte und Situation in dieses Feld einzubetten, so dass sie sich empathisch wahrgenommen, voll akzeptiert und sicher fühlt und ihr Herz einen Raum erhält, sich wie eine Blume öffnen zu dürfen. Ich verstehe meine Aufgabe nicht darin, etwas aktiv und mit eigenem Willen zu tun, zum Beispiel den Rücken der Klientin mithilfe von cleveren Techniken zu entspannen. Meine Aufgabe besteht vielmehr darin, Rahmenbedingungen zu erschaffen, dass der Wesenskern der Klientin sich entspannen und öffnen kann. Jede Berührung meiner Behandlung versteht sich somit als ein Angebot, auf das der Organismus der Klientin reagieren kann. Im Gespräch versuche ich, die Klientin zu ermuntern, einfache Übungen in den Alltag zu integrieren, die ihr erlauben, gut mit ihrem Innersten in Berührung zu kommen. Beispielsweise erkannte meine Klientin Anna ihre Neigung zu Resignation und Klagen. Sie begann auf meine Empfehlung hin ein „Tagebuch der Freude und der Dankbarkeit” zu führen, in welchem sie jeden Abend die schönsten und wichtigsten Erlebnisse des Tages festhielt. Diese Praxis bewirkte, dass sie immer mehr in der Lage war, das wertzuschätzen und bewusst zu kultivieren, was ihre Seele und Sinne nährt. Sie begann, weitere Rituale zu entwickeln, beispielsweise das Abendessen im Schein einer Kerze einzunehmen.


Achtsamkeit – mit der Gegenwart in Kontakt

Achtsamkeit heisst zunächst: „Ich nehme alles wahr, wie es ist, und es ist, wie es ist.” Achtsamkeit ist Präsenz im Hier und Jetzt, volles Bewusstsein. Ich empfahl der Klientin das Büchlein „Ich pflanze ein Lächeln” von Thich Nhat Hanh, das auf eine poetische und liebevolle Weise zeigt, wie wir Achtsamkeit in den Alltag integrieren können. Anna erprobte die Gehmeditation, die darin besteht, mit der ganzen Aufmerksamkeit beim Gehen zu sein und jede Bewegung und das Gewicht des Körpers auf den Füssen zu spüren. Beim Gehen im Freien übte sie sich darin, ihre Sinneseindrücke bewusst wahrzunehmen, also das, was sie sah, hörte, und roch. Mithilfe dieser und weiterer Achtsamkeitsübungen gelang es ihr immer mehr, sich zeitweise von ihren permanent präsenten Sorgen über die Zukunft und ihren Enttäuschungen über die Vergangenheit zu lösen und sich freudvolle Momente und unbelastete Freiräume zu schenken. Achtsamkeit bedeutet auch, schwierige Gefühle liebevoll wahrzunehmen (Thich Nhat Hanh sagt zum Beispiel „umarme Deine Wut”). Man soll ihnen jedoch keine weitere Energie zuführen und deshalb beispielsweise keine Medieninhalte konsumieren, die „unheilsame Energien” wie Angst, Hass und Schuldzuweisungen schüren. Achtsamkeit ist das Bindeglied zwischen Core und Ressourcen. Achtsamkeit ist auch das bewusste Sprechen und Handeln, das Nähren von heilsamen Energien wie Freude, Frieden und Verstehen. Achtsamkeit im Shiatsu heisst, mit der Klientinin Resonanz zu sein und die Resonanzwirkungen in sich selbst wahrzunehmen, also eigene Körperempfindungen, Gefühle und Gedanken, die während des Behandeins auftauchen.


Ressourcen – mit den Kraftquellen in Kontakt

Der französische Begriff meint wörtlich „zurück zur Quelle” und nimmt Bezug zur unerschöpflich fliessenden Kraft des Wassers. In der Gesundheitsförderung wird zwischen inneren und äusseren Ressourcen unterschieden. Innere Ressourcen sind dem Menschen innewohnende Stärken, Kompetenzen und Fähigkeiten, auf die er sich abstützen kann. Als äussere Ressourcen wirken bei¬spielsweiseandere Menschen (Familie, Freunde, Therapeutinnen), die Umwelt (Tiere, Kunstwerke, Natur) und stabile Rahmenbedingungen (Finanzen, Wohnung, Rechtsstaat). Es war mehr als deutlich, dass Anna bei Therapiebeginn von wesentlichen Ressourcen abgeschnitten war. Sie war ohne Arbeit, machte sich finanzielle Sorgen und hatte kein tragfähiges soziales Netzwerk mehr. Sie wirkte kraftlos, apathisch und resigniert. Eine wichtige Aufgabe bestand somit darin, sie zu Quellen der Kraft hinzuführen. Im Gespräch entwickelte die Klientin die Idee, ihre kreativen, zeichnerischen Fähigkeiten wieder zur Entfaltung zu bringen, die ihr in der Jugend viel Freude bereitet hatten, und einen Mal-Kurs zu besuchen, um neue Menschen kennen zu lernen. Ich zeigte ihr zudem einfache Qi Gong-Übungen, die hilfreich sind, um den Geist zu beruhigen, sich zu zentrieren, Grenzen zu setzen und mehr innere Gelassenheit und Stabilität zu gewinnen.

In der Shiatsu-Behandlung können wir Meridianenergien als Ressource verstehen und ansprechen. Ich stelle in der Hara-Diagnose die Frage, welcher Meridian mit seiner Energie zur Verfügung steht, um das Potential der Klientin zu stärken und zu entfalten. Es gibt verschiedene weitere interessante Möglichkeiten, Ressourcenarbeit explizit ins Shiatsu zu integrieren. Als ein Beispiel sei erwähnt, dass sich die Klientin einen Wohlfühlort vorstellt und ich mich in der Behandlung auch auf dieses Stimmungsbild ausrichte.


Empowerment – mit der Handlungsfähigkeit in Kontakt

Der Begriff Empowerment heißt wörtlich übersetzt „Ermächtigung”. Ich wollte die Klientin Anna in Lage versetzen, ihre Krise eigenständig zu bewältigen und ihr Leben wieder aktiv und selbstverantwortlich in die Hand zu nehmen. Vor jeder Shiatsu-Behandlung übte ich mit Anna die Taiji Quan-Partnerübung „schiebende Hände”, damit sie ihre Widerstandskraft spüren und sich wieder mit ihrem „kämpferischen Naturell” verbinden konnte. Ich bat sie, sich ein Bild davon zu machen, wie sie ihr Leben in 3 – 5 Jahren gestalten möchte, was ihrem Leben Perspektive und Sinn geben könnte, und wie erste Schritte in diese Richtung aussehen müssten. Es war mir wichtig, mithilfe von Fragen zu bewirken, dass sie Einsichten und Lösungen von sich aus formulierte. Es war für sie beispielsweise eine Herausforderung, die erlernten Qi Gong-Übungen in den Alltag zu integrieren und regelmässig zu praktizieren. Ich fragte sie beharrlich nach ihrer Übungspraxis und stand ihr ermunternd bei, Formen zur Anpassung des Tagesablaufs zu finden.

In der Standortbestimmung nach sechs Behandlungen meinte Anna, dass es ihr nun deutlich besser gehe. Sie könne aber nicht genauer beschreiben wie und weshalb. Für mich war die Verände¬rung jedoch mehr als offensichtlich. Ihre Haltung wirkte nun auf¬recht. Ihre Augen funkelten wieder: Lebenswille und Lebensfreude waren zurückgekehrt. Auch wenn die Gesprächstührung und das Zeigen von Übungen viel weniger Zeit in Anspruch nehmen als die Shiatsu-Behandlung, so zeigt das Beispiel, dass ihre Bedeutung nicht zu unterschätzen ist. Sie verstärken die Wirkung von Shiatsu und führen zu einer nachhaltigen Veränderung von Lebensführung, Lebensfreude und Wohlbefinden.


Quelle

  • Shiatsu Journal Nr. 61

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© Peter Itin. Autor von Shiatsu als Therapie, BoD 2008, Leiter von Shiatsu-Kursen an verschiedenen Schulen in der Schweiz, in Deutschland, Frankreich und Italien. Langjähriger Berater der Shiatsu Gesellschaft Schweiz (SGS). Mitinitiant des schweizerischen Berufsabschlusses KomplementärTherapie und war Vertreter im Internationalen Shiatsu-Netzwerk (ISN)