Der süße Geschmack und seine Bedeutung im Wandel der Zeit

Jede Geschmacksrichtung – wobei der Mensch Rezeptoren für fünf Geschmäcker hat: salzig, sauer, süß, umami und bitter – ist, und das gilt gleichermaßen im Tierreich als auch für unsere menschlichen Ahnen, für etwas Bestimmtes zuständig. Unsere Vorfahren waren dabei allerdings auf ihren Geschmackssinn viel stärker angewiesen als wir heutige Menschen. Es war, so der Stand der wissenschaftlichen Theorie, die letzte Entscheidungshilfe, um sich für oder gegen eine Nahrung (schlucken oder ausspucken) zu entscheiden. Der Geschmackssinn kann so als chemischer Sensor für die Güte einer Nahrung betrachtet werden: Giftige Pflanzen schmecken oft bitter und Saures ist häufig unreif oder bakteriell verunreinigt. Der süße Geschmack hingegen signalisierte dem frühen Menschen etwas Positives, dass nämlich nährende Kohlenhydrate in der Nahrung vorhanden sind.

Die Vorliebe für den süßen Geschmack bringen wir schon ins Leben mit: Muttermilch schmeckt süß und Babys – mit unterschiedlichen Geschmäckern konfrontiert – quittieren ausschließlich den süßen Geschmack mit zufriedener Miene. Bei Bitter hingegen verziehen sie das Gesicht und bei Sauer schürzen sie die Lippen abwehrend.

Das Wohlgefühl, das mit dem süßen Geschmack verbunden ist, bietet einen – evolutionhär entstandenen – Anreiz zur Energieaufnahme, der über das Hungergefühl noch hinausgeht. Hirnphysiologisch ist mit dem Schmecken von Süßem die Ausschüttung körpereigener Opioide verbunden. Und entsprechend zeigen sich bei Urvölkern, die keine Süßigkeiten kennen, wenn sie erstmals mit Süßigkeiten in Kontakt kommen, eine regelrechte Zuckersucht (Zucker kann in diesem Sinne regelrecht als “Droge” angesehen werden).


Grundlegende Änderungen in den Ernährungsgewohnheiten

Drei grundlegende Änderungen in der Ernährungsweise trägt jeder Mensch in seinem entwicklungsgeschichtlichen Erbe. Die erste geht auf unsere Vorfahren, die Australopithecinen zurück, die sich – anders als andere Menschaffen – deutlich vielfältiger ernährten (abgelesen aus dem Abrieb der Zähne und Isotopenanalysen), was ihnen wahrscheinlich einen evolutionären Vorteil geboten hat.

Die zweite Änderung ereignete sich vor etwa 10.000 Jahren, als der Homo sapiens sesshaft und Bauer wurde. Seither bereicherten Getreide und Milch seinen Speiseplan, aber auch Süßes, das durch Obstanbau und Bienenhaltung – wenngleich noch immer in geringen Mengen – produziert werden konnte.

Mit dem Ende der allgemeinen Selbstversorgung und der bald industriellen Massenproduktion von Lebensmitteln begann der nächste Abschnitt in der menschlichen Ernährungsweise. Erstmals entstand ein Überfluss. Vor allem hochkonzentrierte Süßigkeiten waren – abgesehen von Honig – bis vor kurzem nicht Bestandteil des menschlichen Speiseplans. Dazu musste der Mensch aber erst lernen, die Süße aus Zuckerrohr und später auch aus der Zuckerrübe zu isolieren.

Die ersten Menschen, die Zucker geschleckt bzw. gekaut haben, waren die Bewohner Neugunieas, Neukalidoniens, der Salomonen und der australischen Küste. Sie sollen schon vor 15.000 Jahren Zuckerrohr (Saccarum officinarum), das dort heimisch ist, als Proviant in ihren Einbäumen mitgenommen haben. Durch Kauen von Zuckerrohr löst sich Saccharose, also Zucker, aus der Pflanze, die deshalb süßlich schmeckt und dem Körper Energie liefert. Jahrtausende dauerte es dann allerdings noch, bis der Rohrzucker vor etwa 8.000 Jahren Indien erreichte. Europäer kamen möglicherweise erstmals vor etwa 2.300 Jahren mit den Feldzügen von Alexander des Großen in Kontakt mit Zuckerrohr.


“Blutzucker”

Wegen der schwierigen Verarbeitung von Zucker (man hatte entdeckt, dass Zuckersaft kristallisiert viel länger haltbar ist) war Zucker in der Frühzeit der europäischen Kultur sehr selten und teuer, so dass er selbst für die römische Oberschicht kaum erschwinglich war. Plinius der Ältere berichtete deshalb, dass das “Indische Salz” “nur als Arznei” verwendet wurde. Und selbst im Mittelalter war Zucker noch ein Luxusgut der Eliten. Das änderte sich erst, als Christopher Kolumbus 1493 Zuckerrohrsetzlinge an Bord nahm und in der Karibik binnen weniger Jahre Plantagen heranwuchsen. Das Zeitalter des “Blutzuckers” brach an und es entstand der unmenschliche Dreieckshandel zwischen Europa (Manufakturprodukte), Afrika (Sklaven) und Amerika (Zuckerrohr). In den Hafenstädten Europas wurde der rohe Zucker in Siederreien gereinigt und verarbeitet (“raffiniert”) und seine Verbreitung nahm zu. Im 17. Jahrhundert schließlich entdeckten Reiche und Adelige die exotischen Getränke Tee, Kaffee und Kakao – und “würzten” sie mit Zucker.


Die Zuckerrüben erobern Europa

Wirkliche Breitenwirkung erreichte der Zucker aber erst als es Andreas Sigismund Marggraf – 1760 von Friedrich dem Großen an die Königlich-Preußische Akademie der Wissenschaften berufen – gelang, aus heimischen Rüben (Beta-Rüben, die bis in die Neuzeit als Arme-Leute-Essen und Tierfutter waren) Saccharose zu isolieren. Sein Assistent und Nachfolger Franz Carl Achard züchtete die erste “Zuckerrübe”, einen Rübensorte mit besonders hohem Saccharose-Gehalt und baute 1801 schließlich die erste Rübenzucker-Fabrik der Welt in Schlesien. 

In der Folge wurden m 19. Jahrhundert schließlich Marmeladen (Konfitüren) populär. Diese bedürfen enormer Mengen Zuckers – ein Hinweis darauf, dass dieser nun billig genug geworden war, um als Massenkonservierungsmittel verwendet zu werden.


Segen und Fluch

200.000 Jahre Appetit und Mangel (Knappheit des Angebots an Süßem) haben das menschliche Süßigkeitsverhalten geprägt, aber erst mit der Entdeckung Amerikas vor etwa 500 Jahren und der Züchtung der Zuckerrübe vor nicht mal 250 Jahren wurde Zucker in der westlichen Welt so allgegenwärtig, dass wir ihn heute – fälschlicherweise – für ein Grundnahrungsmittel halten. Und es gibt, so das Resüme des Zoologen John Krebs, trotz aller Probleme, die mit unserem heutigen hohen Zuckerverbrauch in Zusammenhang stehen, kein Entkommen aus dieser tief in uns verankerten Gier: “Mit unseren evolutionär vererbten Speisevorlieben und Essgewohnheiten passen wir einfach nicht in jene Nahrungswelt hinein, die wir uns selbst geschaffen haben.”