Die Wahrnehmung eines Objektes. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

So etwas wie eine reine Wahrnehmung eines Objektes in einem Sinneskanal, wie etwa dem Sehen, gibt es nicht. Die gleichzeitig erfolgenden Veränderungen (z.B. Anpassungsbewegungen in den Muskeln, die die Linse und Pupille steuern, in den Muskeln, die für die Stellung des Augapfels verantwortlich sind, in den Muskeln, die Kopf, Hals und Rumpf bewegen; Signale, die aus den emotionalen Reaktionen auf ein bestimmtes Objekt erfolgen; Veränderungen der glatten Muskulatur der Viszera u.a.m.) sind nicht nur fakultative Begleiterscheinungen, vielmehr rekonstruieren wir bei der Erinnerung an ein Objekt nicht nur eine Farbe oder eine Form, sondern auch die Wahrnehmungstätigkeit, die das Objekt verlangte, und die begleitenden emotionalen Reaktionen, egal, wie geringfügig sie waren. Die Vorstellungen, die sich in unserem Geist bilden, signalisieren dem Organismus immer auch die eigene Beteiligung am Zustandekommen der Vorstellung und rufen emotionale Reaktionen hervor. Die Beteiligung des Organismus, vor allem im motorischen und emotionalen Bereich, gehört untrennbar zu unserem Geist und zu unserer Wahrnehmung.

Die Organismusperspektive, die sich aus der Wahrnehmung der Beteiligung des eigenen Organismus ergibt, ist wesentlich für die Vorbereitung von Handlungen an Objekten, die in der Vorstellung geprägt werden. So ist beispielsweise die konkrete Perspektive zu einem herannahenden Fahrzeug notwendig für die Planung einer Bewegung, um diesem auszuweichen. Zugleich entsteht damit auch das automatische Empfinden der individuellen Urheberschaft, denn der Umstand, dass man mit einem Objekt interagiert, lässt es plausibel erscheinen, dass man selbst es ist, der auf das Objekt einwirkt.

Das somatosensorische System

Das somatosensorische System wird im allgemeinen nur mit dem Tastsinn und den Empfindungen in Muskeln und Gelenken in Verbindung gebracht. Tatsächlich aber ist es gar kein einzelnes System, sondern eine Verbindung aus mehreren Subsystemen, die zu verschiedenen Zeiten der Evolution entstanden sind. Diese Systeme übermitteln dem Gehirn Signale und informieren es jeweils über ganz verschiedene Aspekte des Körpers. Trotz der unterschiedlichen Mechanismen, die für die Signalgebung verwendet werden (verschiedene Nervenfasern, unterschiedliche Relaisstationen im Zentralnervensystem, chemische Substanzen in der Blutbahn) arbeiten alle Systeme parallel und genau aufeinander abgestimmt, um von Augenblick zu Augenblick auf mehreren Ebenen des Zentralnervensystems, von Rückenmark und Hirnstamm bis zur Großhirnrinde, unzählige Karten[1]Eine neuronale Karte bedeutet ein Muster aktivierter Nervenzellen, die in einer bestimmten Beziehung zu einem Objekt oder Ereignis stehen. der mehrdimensionalen Aspekte des Körperzustandes anzulegen.

Unterscheiden lassen sich drei große Bereiche:

  • das System des inneren Milieus und der Viszera,
  • das System des Bewegungsapparates und das Vestibularsystem und
  • das System des Feintastsinns.

Alle drei Subsysteme können sowohl eng zusammen als auch in relativer Unabhängigkeit voneinander arbeiten. Entscheidend ist, dass das System des inneren Milieus und der Viszera, das sich mit dem Inneren des Organismus befasst, unter normalen Bedingungen ständig aktiv ist und den Zustand der innersten Aspekte des Körpers an das Gehirn sendet. Aber auch der Bewegungsapparat informiert normalerweise ständig, selbst dann, wenn keine aktiven Bewegungen stattfinden, das Gehirn über den Zustand des Bewegungsapparates.


Das System des inneren Milieus und der Viszera

Das System des inneren Milieus und der Viszera hat die Aufgabe, Veränderungen in der chemischen Umwelt der Zellen überall im Körper zu registrieren. Ständig erzeugen diese introzeptiven Signale (ein Teil dieser Signale kommt ganz ohne Nervenfasern und -bahnen aus) vielfältige Karten des inneren Milieus, so zahlreich wie die Dimensionen, in denen das Innere gemessen werden kann.

Chemische Stoffe, die sich in der Blutbahn ausbreiten, wirken, sofern sie die Blut-Hirn-Schranke[2]Die Blut-Hirn-Schranke sorgt dafür, dass viele chemische Stoffe nicht ins Gehirn eindringen können, womit eine direkte Beeinflussung der Neuronen hinter der Schranke durch diese Stoffe verhindert … weiterlesen überwinden können, direkt auf das Gehirn (z.B. Strukturen wie den Hypothalamus) ein. Andere Moleküle, die die Blut-Hirn-Schranke nicht überwinden können, wirken auf besondere Stellen des Gehirns ein, wo diese Schranke fehlt – auf die so genannten zirkumventrikulären Organe[3]Zu den zirkumventrikulären Organen gehören z.B. Areapostrema (im Hirnstamm) und Subfornikalorgane (in der Großhirnhemisphäre).       Das Eingetauchtsein des Gehirns in das chemische Milieu … weiterlesen. Die chemisch erregten Neuronen in diesen Arealen übermitteln ihre Nachrichten dann an andere Neuronen (die auch hinter der Blut-Hirn-Schranke liegen).

Nervenzellen und -bahnen werden vom System des inneren Milieus und der Viszera benutzt, um Signale zu übertragen, die wir schließlich als Schmerz wahrnehmen, aber auch um Informationen über die pH-Werte und die Konzentration von Sauerstoff und Kohlendioxid zu kartieren.[4]Manche Werte, wie pH-Werte sowie die Sauerstoff- und Kohlendioxidkonzentration, werden somit doppelt – über den chemischen Signalweg und über die Nervenbahnen – kartiert.

Schließlich signalisiert dieses System noch den Zustand der glatten Muskulatur, die autonomer Kontrolle (im Bereich von Hirnstamm, Hypothalamus und den limbischen Kernen) unterworfen ist.


Das System des Bewegungsapparates und das Vestibularsystem

Das System des Bewegungsapparates übermittelt dem Zentralnervensystem den Zustand der Muskeln, die die beweglichen Teile des Skeletts (d.h. die Knochen) verbinden. Diese propriozeptiv-kinästhetischen Signale bilden – vom Rückenmark bis zur Großhirnrinde – auf mehreren Ebenen viele Karten über den Zustand der Muskeln. Ergänzt werden diese somatosensorischen Informationen durch das Vestibularsystem, das die Raumkoordinaten des Körpers abbildet.


Das System des Feintastsinns

Die Signale des Feintastsinns beschreiben die Veränderungen, die spezialisierte Sensoren in der Haut erfahren, wenn wir ein Objekt berühren und beispielsweise in Hinblick auf Oberflächenbeschaffenheit, Form, Gewicht und Temperatur untersuchen. Während das System von innerem Milieu und Viszera also weitgehend mit der Beschreibung innerer Zustände befasst ist, hat das System des Feintastsinns vor allem die Aufgabe, äußere Objekte an Hand von Signalen zu beschreiben, die an der Körperoberfläche erzeugt werden.


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Eine neuronale Karte bedeutet ein Muster aktivierter Nervenzellen, die in einer bestimmten Beziehung zu einem Objekt oder Ereignis stehen.
2 Die Blut-Hirn-Schranke sorgt dafür, dass viele chemische Stoffe nicht ins Gehirn eindringen können, womit eine direkte Beeinflussung der Neuronen hinter der Schranke durch diese Stoffe verhindert wird.
3 Zu den zirkumventrikulären Organen gehören z.B. Areapostrema (im Hirnstamm) und Subfornikalorgane (in der Großhirnhemisphäre).       
Das Eingetauchtsein des Gehirns in das chemische Milieu ist von großer Bedeutung. So hängt beispielsweise die Wirkung von Substanzen wie Oxytocin, das entscheidend ist für Verhaltensweisen von der Sexualität über Bindungsverhalten bis zur Geburt, von dieser Übertragungsart ab.
4 Manche Werte, wie pH-Werte sowie die Sauerstoff- und Kohlendioxidkonzentration, werden somit doppelt – über den chemischen Signalweg und über die Nervenbahnen – kartiert.