Egoismus und Altruismus. Die Moral Licensing-Theorie

Der Mensch als Homo oeconomicus

Die Ansicht, dass der Mensch ein machthungriger Egoist ist (“Homo homini lupus est”, “der Mensch ist dem Menschen ein Wolf”) geht auf den britischen Philosphen Thomas Hobbes (1588 bis 1679) zurück, der sich selbst im Kampf ums Überleben stets der Nächste ist. Und etwas später zeichnete der Schotte Adam Smith (1723 bis 1790) ein ähnliches, wenngleich etwas erfreulicheres Bild der menschichen Natur: Zwar handeln wir Menschen von Natur aus egoistisch, doch das sei gut so, denn dieses Streben um den eigenen Vorteil lässt die Wirtschaft floriern und schafft so den Wohlstand der Nation.

Und so dominierte der “Homo oeconomicus” (John Stuart Mill, Philosoph und Ökonom, 1806 bis 1873) lange Zeit das Denken in der Wirtschaftstheorie: rational, gewinnorientiert und eigennützig. Martkteilnehmer verhalten sich egoistisch, weil sie das Gleiche auch von anderen erwarten.


Der Mensch als Homo reciprocans

DIese Vortellung wird aber zunehmend in Frage gestellt. Für Armin Falk (Rechts- und Staatswissenschaftlier an der Universität Bonn) ist der Mensch vielmehr ein Homo reciprocans, der nicht nach dem eigenen Vorteil strebt, sondern nach Fairness. Das Prinzip des “Wie du mir, so ich dir” haben wir, Falk zufolge, stärker verinnerlicht als jegliches rationales Gewinnstreben: Wer von anderen gut behandelt wird, revanchiert sich, und wer von anderen Unrecht erfährt, rächt sich – selbst dann, wenn ihm dadurch Kosten entstehen.

Die Folgerung daraus ist, dass Unternehmen viel mehr auf Vertrauen statt auf Kontrolle setzen sollten. Harte Führungsstile gründen oft auf der Angst, Mitarbeiter seien im Kern egoistisch und würden für den jewiligen Lohn so wenig wie möglich arbeiten. Dem steht die Auffassung gegenüber, dass eine Vertrauensverältnis zur Belegschaft vielen Firmenchefs mehr Gewinn bescheren würde, denn Mitarbeiter, die sich fair behandelt fühlen, machen beispielsweise eher Überstunden.

In Befragungen fand Falk sowohl positiv als auch negativ reziproke Menschen. Erster belohnen lieber gute Taten, letztere bestrafen eher schlechter. Langfristig positiver fahren, so Falk, positiv reziproke Menschen: Sie scheinen insgesamt zufriedener und pflegen zudem stabiliere soziale Beziehungen.

Wenn wir uns dennoch egoistisch verhalten, seinen Falk zufolge oft institutionelle Anreize im Spiel. In der Schule, im Job – überall erleben wir hautnah Wettbewerb. Manche Menschen haben sich deshalb angewöhnt, “draußen” eigennützig zu sein und in den eigenen vier Wänden altruistisch. Hinzu kommt, dass wir uns häufig am Vorbild anderer orientieren. Ob sich jemand altruistisch oder egoistisch verhält, hängt stark von der jeweiligen Situation ab: Kaufen z.B. viele Menschen Elektroautos, so kommen auch wir selbst (leichter) ins Grübeln, ob das nicht die bessere Alternative sei.


 Was sind Egoismus und Altruismus?

  • Altruismus wird definiert als Verhalten/Einstellung, das Wohlbefinden anderer zu fördern, ohne dabei an einen persönlichen Gewinn zu denken.
  • Egoismus beziechnet die Motivation, einen Gewinn für sich allein zu erzielen – oft zu Lasten anderer.

So einfach lassen sich Egoismus und Altruismus aber dennoch nicht trennen, denn letztlich hat jede altruistische Handlung auch ihren egoistischen, eigennützigen Anteil, quasi “Egoismus auf Umwegen”. Statistiken zeigen, dass altruistische Menschen von ihrem sozialen Ruf profitieren: Wer gibt, dem wird gegeben. Der Dalai Lama hat deshalb davon gesprochen, dass die beste Form des Egoismus der Altruismus sei.

Eigennutz ist menschlich, auch wenn er häufig negative Folgen zeitigt. Das lässt sich z.B. auch für den Verkehr auf Autobahnen in Computersimulationen zeigen: Tausende von Pendlern wählen morgens den kürzesten Weg zu Arbeit und das Ergebnis ist Stau. Demgegenüber stellt ein Hinderniss auch für einen noch so großen Trupp von Ameisen kein Problem dar, weil sie ihre Marschinformation stur beibehalten, also am übergeordneten Ziel, der Gemeinschaft, festhalten. Der Mensch hingegen drängelt und braucht am Ende länger, weil er dadurch Stau erzeugt: Der “Preis der Anarchie”.


Theorie des Moral Licensing

Der Psychologin Sonya Sachdeva (Nothwesetern University in Evanston, Illinois) zufolge wird unser Alltagshandeln immer wider von einem Ausbalancieren unserer moralischen Selbsteinschätzung begleitetet: Bin ich ein “guter” Mensch oder ein “schlechter”? Laufend begleitet uns eine (unbewusste) Pro-und-Kontra-Liste, so die von ihr entwickelte Theorie des Moral Licensing (moralische Lizensierung), und je nachdem, wie es um unser Selbstbild gerade bestellt ist, fällt unsere Antwort, unsere Handlung anders aus.

Das kann scheinbar paradoxe Folgen haben: Wer gerade einer alten Frau über die Straße geholfen hat, ist beispielsweise danach eher geneigt, andere beiseite zu drängen. Nach einer (vermeintlich) guten Tat suchen wir vorläufig zumindest nicht mehr nach “altruistischer Befriedigung”. Unsere Bereitschaft zu prosozialem Verhaten steigt erst dann wieder an, wenn unser “ethischer Selbstwert” abgesunken ist.


Fairness

Auf der Suche nach dem wahren Wesen des Menschen zwischen Egoismus und Altruismus ist in letzter Zeit der Begriff der Fairness in den Fokus der Wissenschaft geraten. In vielen Experimenten zur Verhaltensökonomie zeigt sich, dass Menschen dann zu eigennützigem Verhalten neigen, sich quasi von den üblichen moralischen Verhaltensweisen entbunden fühlen, wenn sie sich unfair behandelt erleben.

Das Streben nach Fairness ist so tief in unserem Wesen verankert, dass wir mitunter sogar irrational handeln und negative Konsequenzen (Nachteil) in Kauf nehmen, um jemanden, der unfair gehandelt hat, zu bestrafen. Und auf der anderen Seite zeigt sich die Beeinflussung unseres persönlichen Verahltens durch andere. Zum Beispiel sind es nicht nur soziale Normen wie “Wärmedämmung ist wichtig um die Umwelt zu entlasten” entscheidend, sondern es spielt auch eine große Rolle, wie weit sich unsere Mitmenschen daran halten: Wer in einer Gegend wohnt, in der immer mehr Häuser gedämmt werden, wird sich – unter Umständen selbst gegen seine Überzeugung – ähnlich verhalten.


Quelle

Gehirn & Geist 1-2/2012