Falsche Erinnerungen

Erinnerungen an traumatische Erlebnisse in der frühen Kindheit können verdrängt oder aber auch, so zeigen experimentelle Forschungen, falsch sein – und die erinnerten Begebenheiten haben nicht oder nicht so stattgefunden. Der Ausgangspunkt der experimentellen Versuchsanordnungen von Elisabeth F. Loftus (Universität von Washington in Seattle) waren in Therapien hervorgebrachte Erinnerungen an einen erlittenen Missbrauch in der Kindheit, die sich später als falsch herausgestellt haben.[1]1992 wurde beispielsweise, wie Elisabeth F. Loftus berichtet, Beth Rutherford von einem kirchlichen Berater darin bestärkt, dass ihr Vater – ein Geistlicher – sie im Alter zwischen 7 und … weiterlesen Da sich unter geeigneten Umständen nachweislich überzeugende Erinnerungstäuschungen entwickeln lassen, kann man, so der Schluss der Forscher, ohne zusätzliche Anhaltspunkte kaum entscheiden, ob eine Erinnerung an ein traumatisches Erlebnis zutrifft oder nicht.

Setzt man Zeugen eines Geschehens nachträglich neuen und irreführenden Schilderungen dieses Ereignisses aus, werden ihre Erinnerungen verzerrt. So beobachteten – in einer Versuchsanordnung von Elisabeth F. Loftus – Versuchspersonen einen simulierten Autounfall an einer Kreuzung mit Stopp-Schild. Nach dem Betrachten der Szene wurde der Hälfte der Teilnehmer suggeriert, das Verkehrszeichen sei ein Vorfahrtsschild gewesen. Als sie danach dazu befragt wurden, behaupteten sie signifikant häufiger als die anderen Versuchspersonen eben dies gesehen zu haben.

Erinnerungen lassen sich besonders dann leicht modifizieren, wenn sie im Laufe der Zeit zunehmend verblasst sind. Um diese Annahme zu überprüfen, wurde Versuchspersonen suggeriert, sie seien im Alter von fünf Jahren in einem großen Kaufhaus verloren gegangen.[2]Die Versuchspersonen wurden gebeten, sich bestimmte Kindheitserlebnisse ins Gedächtnis zu rufen, die den Versuchsleitern von einem engen Verwandten berichtet worden waren. In ein kleines Heft wurden … weiterlesen Nach dieser Intervention war etwa ein Viertel der Versuchspersonen davon überzeugt, dass das Ereignis tatsächlich stattgefunden hätte.[3]Auch andere Versuchsanordnungen (wie z.B. von Ira Hyman, Troy H. Husband & F. James Billing an der Western-Washington-Universität in Belingham, Washington) gelangten zu ähnlichen Ergebnissen.

Ausgehend davon, dass es in den oben angeführten Experimenten relativ leicht und gut möglich war, Erinnerungen zu manipulieren, stellt sich die Frage, inwieweit es in anderen Situationen, wie z.B. bei einem Polizeiverhör oder in einer psychotherapeutischen Situation, zu einer Verfälschung der Erinnerung kommen kann. Manche Therapeuten beispielsweise ermutigen ihren Klienten, sich bestimmte Kindheitsereignisse auszumalen, um (vermeintlich) verdrängte Erinnerungen freizulegen. So plädiert die amerikanische Therapeutin Wendy Maltz (“Sexual Healing – Ein sexuelles Trauma überwinden”) dafür, den Patienten zu sagen: “Nehmen Sie sich Zeit für die Vorstellung, man habe Sie missbraucht, ohne sich den Kopf darüber zu zerbrechen, ob es genau so stimmt oder nicht. Sie brauchen nichts zu beweisen, und ihre Vorstellungen brauchen auch keinen Sinn zu ergeben … Fragen Sie sich: Welche Tageszeit ist es in Ihrer Vorstellung? Wo sind Sie? Drinnen oder Draußen? Was passiert? Sind Sie mit einer oder mehreren Personen zusammen?” Zudem empfiehlt sie dem Therapeuten Fragen wie “Wer könnten die Täter sein?” oder “Wann in ihrem Leben war die Gefahr eines sexuellen Missbrauchs am größten?”

 Um der Frage nachzugehen, was passiert, wenn sich jemand Kindheitserinnerungen ausmalt, die er nie gehabt hat, wählten Elisabeth F. Loftus und Mitarbeiter ein dreistufiges Versuchsszenario. Zunächst mussten die Versuchspersonen auf einer Skala von “ist eindeutig geschehen” bis zu “eindeutig nicht geschehen” angeben, ob ihnen bestimmte Dinge (40 Ereignisse) in ihrer Kindheit zugestoßen sind. Nach zwei Wochen wurden die Versuchspersonen dann gebeten, sich jeweils einige Ereignisse vorzustellen, wobei solche ausgewählt wurden, die sie ihren früheren Angaben zufolge nicht erlebt hatten. Wieder einige Zeit später (3. Stufe der Versuchsanordnung) wurden sie aufgefordert, die ursprüngliche Liste von 40 Kindheitserlebnissen nochmals nach deren Wahrscheinlichkeit zu bewerten. Nachweislich nahm bei den Versuchspersonen die Überzeugung zu, sie hätten die fraglichen Ereignisse selbst erlebt – und das umso deutlicher, je mehr sie angeleitet wurden, sich das (imaginäre) Geschehen lebhaft vorzustellen.

Dieses und ähnliche Experimente[4]In anderen Experimenten genügte beispielsweise schon die Behauptung, der Betreffende sei bei einer (nicht begangenen) Tat gesehen worden, um ihn zu einem falschen Geständnis zu verleiten. bestätigen, dass man vielen Menschen – auch ohne Hypnose oder ähnliche Verfahren – auf relativ einfache Weise komplexe und detaillierte Erinnerungstäuschungen einzuprägen vermag. Und insbesondere drei Faktoren, so die bisherigen Forschungsergebnisse, sind für gefühlsbesetzte und aktiv ausgeschmückte Erinnerungstäuschungen von besonderer Bedeutung:

  1. die Ausübung sozialen Drucks,
  2. die Ermunterung, sich bestimmte Ereignisse (möglichst lebhaft und mit vielen Details) vorzustellen und
  3. die Ermutigung, nicht über den Wahrheitsgehalt der Vorstellungsinhalte nachzudenken.

Das (falsche) Konstrukt entsteht dabei aus der Kombination echter Erinnerungen mit Fremdsuggestionen. Dabei “vergessen” die Betroffenen, woher die Informationen eigentlich stammen.[5]In der Begründung dieses Effekts geht man davon aus, dass ein intensiv vorgestelltes Ereignis vertrauter wird und man diese Vertrautheit irrtümlich mit Kindheitserinnerungen in Verbindung bringt … weiterlesen Umgekehrt aber gilt auch, dass sicherlich nicht alle Gedächtnisinhalte, die unter Suggestion (oder ähnlichen Umständen) auftauchen, zwangsläufig falsch sein müssen. Ohne Bestätigung durch zusätzliche Fakten aber, so Elisabeth F. Loftus, vermögen selbst erfahrene Gutachter echte Erinnerungen kaum von suggerierten zu unterscheiden.


Quellen

  • Elisabeth F. Loftus: “Falsche Erinnerungen”. In: Spektrum der Wissenschaft. Digest 1/2003, Psyche und Verhalten, S. 12 – 17      
  • E. F. Loftus & K. Ketcham: “Die therapierte Erinnerung. Vom Mythos der Verdrängung bei Anklagen wegen sexuellen Missbrauchs”. Verlag Ingrid Klein, Hamburg 1995

Anmerkungen

Anmerkungen
1 1992 wurde beispielsweise, wie Elisabeth F. Loftus berichtet, Beth Rutherford von einem kirchlichen Berater darin bestärkt, dass ihr Vater – ein Geistlicher – sie im Alter zwischen 7 und 14 Jahren regelmäßig vergewaltigt hätte. Auch die Mutter sollte manchmal mitgeholfen haben, indem sie die Tochter festhielt. Unter der Anleitung des Therapeuten erinnerte sich Beth Rutherford daran, dass ihr Vater sie zweimal geschwängert und dann gezwungen hätte, den Embryo eigenhändig mit einem Kleiderbügel aus Draht abzutreiben. Als die Vorwürfe publik wurden, musste ihr Vater von seinem Amt zurücktreten. Eine medizinische Untersuchung hat allerdings später ergeben, dass Beth Rutherford im Alter von 22 Jahren noch immer Jungfrau war und niemals schwanger gewesen sein konnte. Sie verklagte schließlich den Therapeuten und erhielt vom Gericht eine Million Dollar Schadenersatz zugesprochen. 
Etwa zwei Jahre zuvor hatten zwei Geschworenengerichte einen Psychiater aus Minnesota für schuldig befunden, zwei Patientinnen falsche Erinnerungen über einen entsetzlichen Missbrauch in ihren Familien suggeriert zu haben. Das Gericht sprach den Klägerinnen Entschädigungen in der Höhe von 2,67 bzw. 2,5 Millionen Dollar zu. Ein weiteres Verfahren wurde im März 1997 durch einen außergerichtlichen Vergleich beendet, in dem sich der angeklagte Psychiater zu einer Schadenersatzzahlung in der Höhe von 2,4 Millionen Dollar verpflichtet hatte.
2 Die Versuchspersonen wurden gebeten, sich bestimmte Kindheitserlebnisse ins Gedächtnis zu rufen, die den Versuchsleitern von einem engen Verwandten berichtet worden waren. In ein kleines Heft wurden danach – mit knappen Worten – jedem der Teilnehmer vier Kindheitserlebnisse eingetragen: drei wirkliche und das erfundene, in dem das Kind im Kaufhaus verloren ging (Elisabeth F. Loftus & Jacqueline E. Pickrell).
3 Auch andere Versuchsanordnungen (wie z.B. von Ira Hyman, Troy H. Husband & F. James Billing an der Western-Washington-Universität in Belingham, Washington) gelangten zu ähnlichen Ergebnissen.
4 In anderen Experimenten genügte beispielsweise schon die Behauptung, der Betreffende sei bei einer (nicht begangenen) Tat gesehen worden, um ihn zu einem falschen Geständnis zu verleiten.
5 In der Begründung dieses Effekts geht man davon aus, dass ein intensiv vorgestelltes Ereignis vertrauter wird und man diese Vertrautheit irrtümlich mit Kindheitserinnerungen in Verbindung bringt – statt mit dem Vorstellungsakt. Eine solche Quellenverwechslung (man erinnert sich nicht mehr an die Herkunft der Information) ist oft besonders in Zusammenhang mit den entlegenen Ereignissen der Kindheit ausgeprägt.