Freie Entscheidungen sind eine Illusion. Der Ansatz von Wolf Singer

Das Gehirn hat sich im Zuge der Evolution auf eine Weise entwickelt, so der Neurobiologe Wolf Singer, die nicht notwendigerweise zur Ausbildung eines unfehlbaren kognitiven Systems führt. Erkennen können wir nur, was wir beobachten, denkend ordnen und uns vorstellen können. Was unsere kognitiven Systeme nicht erfassen können, existiert für uns nicht. Zwei Prinzipien sind es, die die evolutionären Prozesse in Bezug auf die kognitiven Systeme zu verfolgen scheinen:

  • Die Optimierung der Signalaufnahme:

Aus der Fülle der verfügbaren Informationen geht es darum, vorwiegend nur diejenigen aufzunehmen, die für die Bedürfnisse des jeweiligen Organismus bedeutsam sind. Die Sinnessysteme der unterschiedlichen Organismen weisen deshalb eine hohe Selektivität und Spezifität auf, die sich auf die jeweilige ökologische Nische beziehen, in die sich der Organismus hineinentwickelt.        

  • Die schnelle Umsetzung der verfügbaren Informationen in zweckmäßige Verhaltensreaktionen:

Die kognitiven Systeme erfassen die Welt auf eine sehr pragmatische und idiosynkratische Weise (wohingegen eine umfassende Weltbeschreibung diesem Zweck kaum dienlich wäre). Fehlendes ergänzen wir und über Ungereimtheiten sehen wir hinweg. Unsere Sinnesorgane sind hervorragend dahingehend angepasst, die verhaltensrelevanten Bedingungen zu erfassen. Dabei legen sie aber keinen Wert auf Vollständigkeit und Objektivität. Sie bilden nicht getreu ab, sondern rekonstruieren und bedienen sich dabei des im Gehirn gespeicherten Wissens. Dieses Wissen bedient sich zum einen evolutionärer Quellen und zum anderen des durch Erfahrung im Leben erworbenen Wissens. Die Unvollkommenheit unserer Sinnesorgane wird so – auf Kosten objektiver und verlässlicher Erkenntnis – zumindest teilweise kompensiert.


Zwei Perspektiven des menschlichen Seins

Das menschliche Sein lässt sich fassen durch zwei Perspektiven, die Erste-Person-Perspektive und die eines Beobachters:

  • Die Erste-Person-Perspektive erschließt Attribute wie Gefühle, Wahrnehmungen und Selbsterfahrungen, also Phänomene, die nur wir selbst wahrnehmen können, die erst durch unser Erleben in die Welt kommen. Es geht dabei um Glück, Schmerz, Leid, Stolz, Kränkung, Wertungen, moralische Urteile und Phänomene, die aus unserer Wahrnehmung erwachsen. Dazu gehört auch der „freie Wille“, dass wir uns als freie, autonome Handelnde erleben. Es scheint uns, dass unsere Entscheidungen unseren Handlungen vorausgehen und auf Prozesse im Gehirn einwirken, deren Konsequenzen dann die Handlung ist. Diese Überzeugung erwächst aus der Erfahrung, dass wir unserer eigenen Empfindungen, Wahrnehmungen, Erinnerungen, Absichten und Handlungen gewahr sind und auf sie Einfluss nehmen können.
  • Zu den von der Position des Beobachters beschreibbaren Eigenschaften von Organismen hingegen gehört ihr Verhalten, das durch die Organisation dieses Organismus und insbesondere durch sein Nervensystem determiniert ist. Aus dieser Perspektive erscheint Verhalten als eine Variable der belebten, aber dennoch dinglichen Welt, und ist damit immer auch Gegenstand von evolutionären Ausleseprozessen. Folglich, so Singer, muss sich jede Komponente des von außen beobachtbaren und objektivierbaren Verhaltens als Folge von Prozessen darstellen lassen, die im Rahmen naturwissenschaftlicher Beschreibungssysteme fassbar sind.

 Im allgemeinen haben wir kein Problem mit der These, dass tierisches Verhalten determiniert ist, d.h. dass die jeweils folgende Aktion notwendig aus dem Zusammenspiel zwischen der aktuellen Reizkonstellation und den unmittelbar vorausgehenden Gehirnzuständen resultiert. Und weiters anerkennen wir, so Singer, ohne Probleme, dass die jeweiligen Gehirnzustände determiniert sind durch die genetisch vorgegebene Organisation des Nervensystems, epigenetische Einflüsse[1]Epigenetische Einflüsse sind Einflüsse, die die Organisation während der Entwicklung modifiziert haben. und Lernprozesse sowie die unmittelbare Vorgeschichte, die in der Dynamik der neuronalen Wechselwirkung mitschwingt.

Die in der Neurobiologie verwendeten Untersuchungsmethoden erfassen neuronale Mechanismen, die höheren kognitiven Leistungen komplexer Gehirne zu Grunde liegen, aber nicht mit den kognitiven Leistungen ident sind. Die kognitiven Funktionen sind mit den physiko-chemischen Interaktionen nicht gleichzusetzen, können aber dennoch kausal aus diesen heraus erklärt werden. Verhaltensleistungen sind in diesem Sinne emergete Eigenschaften neuronaler Vorgänge. Dieser Position steht allerdings unsere Selbsterfahrung als wahrnehmende, wertende und entscheidende geistige Entitäten (unser Ich) entgegen, die sich der neuronalen Prozesse allenfalls bedienen, um Informationen über die Welt zu gewinnen und Beschlüsse in Taten umzusetzen. Bei all dem begleitet uns das Gefühl, dass wir es sind, die diese Prozesse kontrollieren.

Im Laufe seiner kulturellen Geschichte hat der Mensch zwei parallele Beschreibungssysteme entwickelt, die Unvereinbares über sein Menschsein behaupten. Obwohl sich Entwicklung, Aufbau und Funktionen des menschlichen Gehirn von denen von Tieren fast nicht unterscheiden, wird die Determiniertheit menschlichen Verhaltens (durch Hirnfunktionen und damit physiko-chemische Prozesse) in Frage gestellt und negiert.[2]Den dualistischen Erklärungsansatz, der insbesondere mit Rene Descartes verbunden ist, verwirft Singer, weil er die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wann im Laufe der Entwicklung (evolutionär … weiterlesen


Die biologische Basis des menschlichen Geistes

Die molekularen Bausteine von Nervenzellen haben sich im Laufe der Evolution kaum verändert. Die Nervenzellen von Schnecken funktionieren nach den gleichen Prinzipien wie die Nervenzellen der Großhirnrinde des Menschen. Dies gilt für die molekularen Bestandteile ebenso wie für die anatomische Grundstruktur. Der wirklich auffällige Unterschied zwischen Mensch und Tier, der letztlich auch die kulturelle Evolution des Menschen ermöglichte, ist die quantitative Vermehrung der Großhirnrinden-Neuronen. Es scheint, als seien all die geistigen Qualitäten, die sich unserer Selbstwahrnehmung erschließen, durch diese besondere Leistungsfähigkeit unserer Gehirne in die Welt gekommen.

Da sich die Verarbeitungsstrategien in den verschiedenen Hirnrindenarealen kaum unterscheiden, dürften die neu hinzugekommenen Fähigkeiten auf der spezifischen Vernetzung der Areale beruhen, wobei die neuen Areale (die das menschliche Gehirn von dem der Tiere unterscheidet) vor allem die Ergebnisse von hirnrindenspezifischen Verarbeitungsprozessen bearbeiten. Zudem kommunizieren diese neu hinzugekommenen Areale sehr intensiv untereinander: Eine Nervenzelle der Großhirnrinde empfängt etwa 10.000 bis 20.000 verschiedene Eingangsverbindungen, wobei die meisten von anderen Großhirnrindenzellen kommen. Die Eingänge von den Sinnesorganen und die Ausgänge zu den Effektoren machen in hochorganisierten Gehirnen nur einen verschwindend kleinen Prozentsatz der Verbindungen aus.


Die Entwicklung des Bewusstseins

Die Entwicklung von Bewusstsein beruht auf dem zunehmenden Aufbau von Metarepräsentationen: Die Ergebnisse primärer kognitiver Prozesse werden erneut einer Analyse unterzogen (was einer Reflexion eigener Wahrnehmungsprozesse gleichkommt). Und auch die Ergebnisse dieser kognitiven Operationen höherer Ordnung werden ihrerseits wieder miteinander verglichen und in Hirnarealen gespeichert.[3]Dieses Gewahrwerden der eigenen Empfindung und Wahrnehmung (im episodischen Gedächtnis) ist zugleich auch handlungsrelevant und zumindest für den Menschen gilt, dass Inhalte nur dann bewusst … weiterlesen


Gibt es ein koordinierendes Ich?

Die Intuition legt uns nahe, dass es irgendwo in uns, in unserem Gehirn ein Zentrum gibt, in dem alle Verarbeitungsergebnisse zusammen kommen, um einer kohärenten Interpretation unterworfen zu werden. Eine solche entscheidende und planende Instanz würde dann auch unser „Ich“ konstituieren.

In der Hirnforschung (der Entschlüsselung der Schaltdiagramme, wie die Hirnareale vernetzt sind) allerdings findet sich kein Hinweis auf eine solche Kommandozentrale, auf ein singuläres Konvergenzzentrum. Vielmehr stellen sich hoch entwickelte Gehirne als hoch vernetzte, distributiv (verteilt) organistisierte Systeme dar, in denen eine riesige Zahl von Operationen gleichzeitig abläuft. Diese parallelen Prozesse organisieren sich ohne eines singulären Konvergenzzentrums zu bedürfen und führen in ihrer Gesamtheit zu kohärenten Wahrnehmungen und koordiniertem Verhalten. Um aus Teilprozessen kohärente Zustände höherer Ordnung (wie klare Festlegungen für bestimmte Handlungsoptionen, Ausführung koordinierter motorischer Reaktionen und Bewusstwerdung unser selbst) entstehen zu lassen, geht Singer davon aus, dass das Gehirn die zeitliche Dimension als Kodierungsraum nutzt und präzise zeitliche Synchronisationen für die Zusammengehörigkeiten neuronaler Antworten verwendet.

Das neuronale Korrelat eines Wahrnehmungsinhaltes, einer Entscheidung oder eines vorformulierten Satzes wäre so ein komplexes raum-zeitliches Muster synchron aktiver Nervenzellen, das sich über hinreichend lange Zeit stabilisiert, um verhaltensrelevant zu sein oder sogar bewusst zu werden. Das nicht weiter reduzierbare Korrelat eines Wahrnehmungsinhalts scheint ein hochkomplexer dynamischer Zustand zu sein, der sich dadurch auszeichnet, dass die Neuronen, die für die Repräsentation des jeweiligen Inhalts rekrutiert werden, ihre Entladungen über kurze Zeitspannen synchronisieren.[4]Diese Annahme Singers wird gestützt durch Experimente von Francisco Varela.


Das Selbst als soziales Konstrukt

Wenngleich noch keine endgültigen Erkenntnisse vorliegen, durch welche Eigenschaften sich die bewusstseinsfähigen von den unbewusst bleibenden Erregungszuständen unterscheiden, gibt es Hinweise darauf, dass Erregungsmuster erst dann bewusst werden, wenn sie ein gewisses Maß an Konsistenz erreicht haben – also als Ergebnis eines Verarbeitungsprozesses gewertet werden. Manche der vom Gehirn ausgewerteten Signale (z.B. Informationen über den Blutzuckerspiegel oder den Blutdruck) haben allerdings prinzipiell keinen Zugang zum Bewusstsein, wahrscheinlich, weil diese Prozesse ohne Beteiligung der Großhirnrinde ablaufen. Nur die Aspekte, denen wir Aufmerksamkeit schenken, werden uns bewusst und nur diese können wir im deklarativen Gedächtnis abspeichern und darüber berichten. Dennoch aber hinterlassen auch die unbewussten Verarbeitungsprozesse Gedächtnisspuren und beeinflussen zukünftiges Handeln. Wir werden uns dieser Handlungsdeterminanten allerdings nicht bewusst und können sie so deshalb auch nicht als Begründungen für unser Tun anführen.

Diese Parallelität von bewussten und unbewussten Handlungsdeterminanten ist für Singer ein wichtiger Grund dafür, dass wir uns als freie, autonome Handelnde erfahren können. Dazu kommen die Fähigkeit des menschlichen Gehirns, sich eine Theorie des Geistes aufzubauen (die Möglichkeit, sich vorzustellen, was in anderen Menschen vorgeht, wenn sie sich in gewissen Situationen befinden) und die Fähigkeit zur sprachlichen Kommunikation. Aus diesen Voraussetzungen heraus können sich „Gehirne“ „in der Wahrnehmung des Gegenübers spiegeln“, und Singer geht davon aus, dass diese Spiegelung zur Entwicklung eines Selbstmodells führt, in dem wir uns als freie, selbstbestimmte Wesen erfahren – ein Phänomen, das durch die soziale Interaktion in die Welt tritt, seine Existenz der zwischenmenschlichen Kommunikation verdankt.


Die Illusion des freien Willens

Dass wir davon ausgehen, freie und autonome Entscheidungen zu treffen, ist für Singer vor allem darauf zurückzuführen, dass uns diese Fähigkeit von der Gesellschaft von Kleinkind an zugeschrieben wird – und wir uns diese Erfahrung zu eigen machen, weil wir im allgemeinen auf keine direkten Widersprüche stoßen.

Da wir die Prozesse, wie sich die Entscheidungen in uns vorbereiten, die unbewussten Motive überhaupt nicht bewusst wahrnehmen, ergibt sich auch kein erfahrbarer Widerspruch zwischen der Bedingtheit unserer Entscheidungen und unserem Eindruck, wir träfen sie frei. Da uns alle vorbereitenden Vorgänge in unserem Gehirn verborgen bleiben, erscheint uns das, was in unserem Bewusstsein auftaucht, als nicht verursacht.

Auf der anderen Seite wiederum schreiben wir aus demselben Grund unserem Wollen die Rolle zu, als Auslöser für die schließlich bewusst gewordenen Entscheidungen zu fungieren und gehen fälschlicherweise davon aus, dass unser Wollen frei (letztinstanzlich und unverursacht) ist. Die Illusion des freien Willens beruht also auf zwei Quellen:

  • der (durch die Trennung von bewussten und unbewussten Hirnprozessen) widerspruchsfreien Empfindung, alle relevanten Entscheidungsvariablen bewusst gegeneinander abwägen zu können, und
  • der (schon in der frühen Kindheit beginnenden) Zuschreibung von Freiheit und Verantwortung durch andere Menschen.


Freie und unfreie Entscheidungen

Freie und unfreie Entscheidungen unterscheiden sich subjektiv darin, dass wir für erstere bereit sind, die Verantwortung zu übernehmen. Für unfreie Entscheidungen hingegen fordern wir Nachsicht und machen mildernde Umstände geltend. Für Singer ist diese Unterscheidung aus neurobiologischer Sicht jedoch fragwürdig, weil der Unterschied zwischen freien und unfreien Entscheidungen nur in einem unterschiedlichen Grad der Bewusstheit der Motive, die zu Entscheidungen und Handlungen geführt haben, besteht.

Entgegen der allgemeinen Ansicht, dass Motive, die wir in unserem Bewusstsein abwägen können, dem freien Willen unterliegen, besteht für Singer kein solcher Unterschied. Unterschiedlich ist nur, dass im Falle einer „bewussten“ Entscheidung der „Scheinwerfer der Aufmerksamkeit“ auf den Motiven (wenngleich nicht auf allen, weil uns nicht alle Motive bewusst zugänglich sind) liegt und diese ins Bewusstsein hebt. Ein weiterer Unterschied liegt vermutlich noch darin, dass der Abwägungsprozess im Falle bewusster Entscheidungen komplexer ist (die Variablen, auf denen er beruht, nach komplexeren Regeln miteinander verbunden sind) als bei Entscheidungen, die sich vorwiegend oder ausschließlich aus unbewussten Motiven herleiten.[5]Der Grund dafür liegt darin, dass Variablen, sobald sie ins Bewusstsein gelangen, sprachlich erfasst, symbolisch kodiert und syntaktisch verknüpft werden können. Zugleich aber könnte es sein, … weiterlesen


Angeborenes und erworbenes Wissen

Entscheidungen sind das Ergebnis von Abwägungsprozessen, an denen jeweils eine Vielzahl unbewusster und bewusster Motive mitwirken. Diese legen das Ergebnis fest, sind jedoch in ihrer Gesamtheit kaum zu erfassen (weder vom entscheidenden Ich noch von einem außenstehenden Beobachter). Alles Wissen, über das ein Gehirn verfügt, residiert in seiner funktionellen Architektur, in der spezifischen Verschaltung der vielen Milliarden Nervenzellen. Unterscheiden lässt sich dabei angeborenes und durch Erfahrung erworbenes Wissen.

Angeborenes Wissen wurde während der Evolution erworben, liegt in den Genen gespeichert und drückt sich durch die genetisch determinierte Grundverschaltung des Gehirns aus.

Erworbenes Wissen führt zu Lebzeiten des Organismus zu Modifikationen dieser angeborenen Verschaltungsoptionen. Solange die Hirnentwicklung anhält – beim Menschen bis zur Pubertät – prägen Erziehungs- und Erfahrungsprozesse die strukturelle Ausformung der Nervennetze innerhalb ihres genetisch vorgegebenen Gestaltungsraumes. Spätestens wenn das Gehirn ausgereift ist, sind solche grundlegenden Änderungen der Architektur nicht mehr möglich. Alles Lernen beschränkt sich dann auf Veränderungen der Effizienz der bestehenden Verbindungen.

Das durch die kulturelle Entwicklung erworbene Wissen über die Bedingungen der Welt, das Wissen um soziale Realitäten u.ä.m. findet seinen Niederschlag in kulturspezifischen Ausprägungen der funktionalen Architektur des Gehirns. Frühe Prägungen programmieren dabei die Vorgänge im Gehirn fast so nachhaltig wie genetische Faktoren.


Wie Entscheidungen getroffen werden

Für die Funktionsabläufe im Gehirn spielt es keine Rolle, ob Verschaltungsmuster durch genetische Informationen oder durch kulturelle Prägungsprozesse ihre spezifische Ausbildung erfahren haben. Wichtig für die Beurteilung von Entscheidungsprozessen aber ist, dass genetisch vermitteltes Wissen – ebenso wie früh Gelerntes – impliziten Charakter hat, dass wir uns an seinen Erwerb nicht erinnern können.[6]Aus diesem Grund hat ein wesentlicher Anteil des durch Erziehung tradierten Wissens den Charakter absoluter, unhinterfragter Vorgaben von Wahrheiten und unumstößlichen Überzeugungen, die keinen … weiterlesen

Die durch die Architektur der neuronalen Netzwerke vorgegebenen Verarbeitungsstrategien stützen sich für Entscheidungen auf eine ungemein große Anzahl von Variablen: die aktuell verfügbaren Signale aus der Umwelt und aus dem Körper sowie das gesamte gespeicherte Wissen, zu dem auch emotionale und motivationale Bewertungen zählen. In einer Vielzahl von miteinander vernetzten Hirnarealen werden Erregungsmuster miteinander verglichen, auf Kompatibilität geprüft und, falls sie sich widersprechen, einem kompetitiven (auf Wettkampf beruhenden) Prozess ausgesetzt, in dem es schließlich einen Sieger gibt: Dasjenige Erregungsmuster setzt sich durch, das den verschiedenen Attratkoren am besten entspricht.

Dieser Wettbewerbsprozess hat keinen übergeordneten Schiedsrichter, sondern organisiert sich selbst und dauert so lange an, bis sich ein stabiler Zustand ergibt, der dann für den Beobachter erkennbar als Handlungsintention oder Handlung in Erscheinung tritt. Welches der vielen möglichen Erregungsmuster die Oberhand gewinnt – und damit, welche Entscheidung getroffen oder welche Handlung ausgeführt wird – ist deshalb durch die spezifische Verschaltung und dem jeweils vorausgehenden dynamischen Gesamtzustand des Gehirns festgelegt. Falls diese Bedingungen Übergänge in mehrere gleich wahrscheinliche Folgezustände erlauben, können sich auch zufällige Schwankungen, so Singer, in der Signalübertragung auswirken und damit dem einen oder anderen Zustand zum Sieg verhelfen.

Da aus neurobiologischer Sicht allen Entscheidungen und Handlungen neuronale Prozesse zugrunde liegen und alle neuronalen Prozesse zwangsläufig determiniert sind und nach bestimmten Prinzipien ablaufen, müssen sowohl bewusste wie auch unbewusste Entscheidungen oben beschriebenem Entscheidungsprozess unterliegen.


Bewusst und unbewusst

Neuronale Vorgänge lassen sich klassifizieren in:

  • solche, die grundsätzlich keinen Zugang zum Bewusstsein haben (z.B. Vorgänge des autonomen Nervensystems, die für ein ordnungsgemäßes Funktionieren der Organe sorgen);
  • solche, die wahlweise ins Bewusstsein kommen können (potentiell bewusstseinsfähige Vorgänge, die nicht die nötige Aufmerksamkeit erhalten, um ins Bewusstsein gehoben zu werden); und
  • solche, die grundsätzlich bewusst sind.

Bewusste Vorgänge unterscheiden sich von unbewussten vornehmlich dadurch, dass sie mit Aufmerksamkeit belegt, im Kurzzeitspeicher festgehalten, im deklarativen Gedächtnis abgelegt und sprachlich erfasst werden können. Dabei unterliegt die Zuteilung von Aufmerksamkeit, einem distributiv organisierten Wettbewerb, der sich in einem weit verzweigten Netzwerk selbst strukturiert und nicht von einem zentralistischen Dirigenten verwaltet wird.

Entsprechend unterscheiden sich die Inhalte, die bewussten Entscheidungen zugrunde liegen, von jenen, die bei unbewussten Entscheidungen zum Tragen kommen. Bewusste Entscheidungen basieren auf Inhalten bewusster Wahrnehmungen und auf Erinnerungen, die im deklarativen Gedächtnis als explizites Wissen abgelegt wurden. Bei den Variablen bewusster Entscheidungen handelt es sich deshalb vornehmlich um spät Erlerntes. Abwägungsstrategien hingegen, Bewertungen und implizite Wissensinhalte, die über genetische Vorgaben, frühkindliche Prägungen oder unbewusste Lernvorgänge ins Gehirn gelangen und sich so der Bewusstmachung entziehen, stehen für bewusste Entscheidungen deshalb nicht als Variablen zur Verfügung. Gleichwohl aber wirken sie verhaltenssteuernd und beeinflussen auch bewusste Entscheidungsprozesse. Sie lenken den Auswahlprozess, der festlegt welche Variablen jeweils ins Bewusstsein gelangen, geben die Regeln vor, nach denen diese Variablen verhandelt werden, und sind maßgeblich an der emotionalen Bewertung dieser Variablen beteiligt.


Können wir frei entscheiden?

Entscheidungen gelten dann als frei, wenn sie auf einer bewussten Abwägung von Variablen gründen, auf einer rationalen Verhandlung von bewusstseinfähigen Inhalten beruhen. Entscheidungen, die sich auf solche Weise vollziehen, werden uns voll zugerechnet (rechnen auch wir uns voll zu) und schreiben dem Bewusstsein eine letztinstanzliche Funktion zu. Auf diese Weise wird die verantwortliche Person mit ihrem Bewusstsein gleichgesetzt.

Allerdings, so kritisiert Singer diesen Standpunkt, müssen die bewussten Motive keineswegs die entscheidenden gewesen sein, auch wenn es dem inneren Beobachter, das nur Bewusstes wahrzunehmen vermag, so scheint, als seien die jeweils bewussten Argumente hinreichende und vollständige Begründungen. Letztlich scheint es, als sei das Gehirn darauf angelegt, Kongruenz zwischen den im Bewusstsein vorhandenen Argumenten und den aktuellen Handlungen und Entscheidungen herzustellen. Und wenn dies nicht möglich ist, weil im Bewusstsein nicht die passenden Argumente aufscheinen, dann werden sie um der Kohärenz willen ad hoc erfunden.[7]Die gängige Praxis, zwischen gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen zu unterscheiden, scheint Singer in Kenntnis der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse fraglich. … weiterlesen


Quelle

Wolf Singer: „Verschaltungen legen uns fest: Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen“. In: Geyer, Christian: „Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Ergebnisse“, Suhrkamp Verlag 2004, S. 30-65.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Epigenetische Einflüsse sind Einflüsse, die die Organisation während der Entwicklung modifiziert haben.
2 Den dualistischen Erklärungsansatz, der insbesondere mit Rene Descartes verbunden ist, verwirft Singer, weil er die Antwort auf die Frage schuldig bleibt, wann im Laufe der Entwicklung (evolutionär und individuell) das Geistige vom Materiellen Besitz ergreift und wie diese geistige immaterielle Entität die neuronalen Prozesse des Gehirns beeinflusst, damit das, was der Geist denkt, plant und entscheidet auch umgesetzt wird.      
Auch bleibt im Ansatz nach Descartes offen, wie sich das Immaterielle über die Welt „draußen“ informiert. Wie werden die Sinnessignale (elektrische Entladungen der Nervenzellen) in die Sprache des immateriellen Geistes übersetzt?
3 Dieses Gewahrwerden der eigenen Empfindung und Wahrnehmung (im episodischen Gedächtnis) ist zugleich auch handlungsrelevant und zumindest für den Menschen gilt, dass Inhalte nur dann bewusst werden, wenn sie mit selektiver Aufmerksamkeit bedacht werden. Nur dann können sie im episodischen Gedächtnis gespeichert und später wieder einer bewussten Reflexion unterzogen werden.
4 Diese Annahme Singers wird gestützt durch Experimente von Francisco Varela.
5 Der Grund dafür liegt darin, dass Variablen, sobald sie ins Bewusstsein gelangen, sprachlich erfasst, symbolisch kodiert und syntaktisch verknüpft werden können. Zugleich aber könnte es sein, dass – wegen der begrenzten Kapazität des Bewusstseins – die Zahl der Variablen, die bewusst verarbeitet werden, geringer ist als die Zahl der Variablen, die unbewusst miteinander „verrechnet“ werden.
6 Aus diesem Grund hat ein wesentlicher Anteil des durch Erziehung tradierten Wissens den Charakter absoluter, unhinterfragter Vorgaben von Wahrheiten und unumstößlichen Überzeugungen, die keinen Relativierungen unterworfen werden können. Zu diesem Wissensgut zählen angeborene und anerzogene Denkmuster und Verhaltensstrategien ebenso wie Wertesysteme und religiöse Überzeugungen.
7 Die gängige Praxis, zwischen gänzlich unfreien, etwas freieren und ganz freien Entscheidungen zu unterscheiden, scheint Singer in Kenntnis der zugrunde liegenden neuronalen Prozesse fraglich. Letztlich, so Singer, kann keiner anders als er ist: Eine Person tut, was sie tut, weil sie im fraglichen Zeitpunkt nicht anders kann – sonst hätte sie anders gehandelt.

Da sowohl die bewussten wie auch die unbewussten Entscheidungen auf denselben deterministischen neuronalen Prozessen beruhen, stellt sich für Singer aber auch die Frage, warum die Evolution überhaupt Gehirne hervorgebracht hat, die über zwei Entscheidungsebenen verfügen:    
– Ein Vorteil (aus „evolutionärer Sicht“) wäre, dass Gründe mitgeteilt werden können und damit wesentlich differenziertere Bewertungen von Verhaltensdispositionen (als nur durch die Beobachtung von Verhalten) möglich sind.           
– Durch das Verhandeln nach rationalen Bewertungen gestaltet sich, als weiterer möglicher „evolutionärer Vorteil“, der Abwägungsprozess differenzierter.            
Begrenzt sind die rationalen, bewusst herbeigeführten Entscheidungen allerdings zum einen durch die geringe Zahl der Variablen, die gleichzeitig im Bewusstsein gehalten werden können, und zum anderen durch den vorausgehenden (unbewussten) Auswahlprozess, der entscheidet, welche Variablen überhaupt ins Bewusstsein gelangen. Damit scheint es, so Singer, auch möglich, dass bei unbewusst ablaufenden Entscheidungsprozessen weit mehr Variablen zueinander in Beziehung gesetzt werden können. Möglicherweise aber folgen diese unbewussten Abwägungen einfacheren kompetitiven Regeln als die bewussten Entscheidungen, die von erlernten Regelwerken strukturiert werden.