Gesundheit ist ein gefährliches Wort (Bill Palmer)

Übersetzung: Mag. Marina Morton

Vor 10 Jahren arbeitete ich mit einer Frau, nennen wir sie einfach Barbara, die einen Hirntumor hatte. Sie war eine schöne, aufgeweckte und lebendige Frau und die Ärzte gaben ihr noch 6 Monate zu leben. 3 Monate nach diesem Urteil kam sie zu mir und ich fragte sie zuerst, was sie gerne in unserer Arbeit erreichen möchte.

Sie antwortete, indem sie ihre Krankheit pries. Bevor sie von ihrem Krebs erfuhr, führte sie ein langweiliges und graues Leben, ihre Beziehung war für sie uninteressant geworden, aber sie blieb darin, da es ihr an Motivation mangelte, etwas daran zu ändern. Klinisch gesehen hatte sie eine Depression. Nach ihrer Krebsdiagnose verwandelte sich ihr Leben innerhalb von wenigen Wochen. Sie sprühte vor Leben, lebte jeden Tag voll aus und entdeckte eine aufregende sexuelle Beziehung mit ihrem Ehemann aufs Neue.

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Barbara sagte, ihr Ziel in unserer Zusammenarbeit sei, Unterstützung zu bekommen um diese Ebene der Lebendigkeit aufrechtzuerhalten, mit der Angst vor dem Sterben umzugehen, so dass ihre Lebenslust nicht erstarrt und sich auch entspannen zu können, um noch die restliche Zeit, die sie zur Verfügung hat, zu genießen. Sie meinte, diese Krankheit sei eines der wichtigsten Geschenke, die sie je bekommen hätte, und dass sie lieber sechs Monate ihr Leben voll auskosten wolle, als ihre Zeit gedanklich mit der panischen Angst zu verschwenden, ob man sie nun heilen könnte. Sie überließ sich auch nicht blind ihrem Schicksal. Sie stimmte einer Strahlentherapie zu, lehnte aber chirurgische Eingriffe bzw. eine Chemotherapie ab, weil sie fand, dies würde sie zu sehr schwächen und ihr somit die Möglichkeit nehmen, ihr restliches Leben zu genießen. Tatsächlich starb sie erst letztes Jahr und konnte noch neun Jahre lang ihr Leben voll genießen.

Dieses Beispiel gibt mir Respekt für die Lebensinhalte einer Person. Oft wenn ein Klient zur Therapie geht, besonders bei der Arten von Therapie, wo medizinische Ausdrücke üblich sind, kann es schnell geschehen, dass der Praktiker bereits die Behandlungsziele vorentschieden hat. StudentInnen und erfahrene Practitioners haben mich oft schon gefragt „was sollte man am besten machen bei diesem oder jenem Zustand?“. Meine Antwort lautet immer: „Ich weiß es nicht. Kommt auf den/die KlientIn an, auf seinen/ihren Prozess, auf die Bedeutung, die dieser Zustand für den/die  KlientIn hat und welche Wahl er/sie getroffen hat.

Ist es unsere grundlegende Ansicht, dass wir Menschen behandeln, um ihre Gesundheit wiederherzustellen und weiters, dass der Begriff Gesundheit aus unserer persönlichen Sicht beurteilt wird, kann es sehr leicht passieren, dass wir die Gelegenheit versäumen, unseren KlientInnen zu helfen ihr volles Potential zu entwickeln und ein zufriedenes Leben zu leben. Daher kann Gesundheit ein gefährliches Wort werden, ein Konzept welches unseren Kontakt zum Heilungsprozess unserer KlientIn unterbricht. Wenn ich damals angenommen hätte, der Grund mit Barbara zu arbeiten sei es, ihren Krebs zu heilen, dann hätte ich den wichtigsten Punkt in ihrem Lebensprozess versäumt.


Ungleichgewicht ist notwendig für Bewegung

Noch so ein gefährliches Wort ist Gleichgewicht. Viele sind der Meinung, dass Shiatsu den Energiefluss in den Meridianen wieder ins Gleichgewicht bringt. Ich stelle mir vor, dass damit keine extremen Überschüsse oder Mängel gemeint sind, und dass im Körper eine fließende Kommunikation herrscht. Mir gefällt diese Idee, aber in der Praxis ist dies unrealistisch. Bei den meisten Menschen sind die Ungleichgewichte so tief verwurzelt, dass ein oder mehrere Shiatsus bei Ihnen das ideale Gleichgewicht nicht wieder herstellen können. Weil der Shiatsu-Practitioner den Zustand am idealen Gleichgewichtszustand misst, wird sehr wahrscheinlich der/die  KlientIn (mitunter auch der Practitioner) seinen/ihren  Zustand so betrachten als würde etwas an ihm/ihr nicht stimmen.

Meiner Ansicht nach ist das eine Hauptblockade im Heilungsprozess. Der Standpunkt im medizinischen Modell ist: Wenn etwas nicht in Ordnung ist mit dir, ist es eine Krankheit, die beseitigt werden muss. Dieser Standpunkt hat zwar seine Gültigkeit, ist aber gleichzeitig eingeschränkt, denn er zieht nicht in Betracht, dass eine Krankheit oder ein neurotisches Muster auch ein Motor sein kann, der die Person in einen neuen kreativen Lebensabschnitt treibt.

So wie beim Gehen, muss man den statischen Gleichgewichtszustand des Stehens verlassen, um sich in Bewegung zu setzen. Ich glaube, dass viele „Ungleichgewichtszustände“ eigentlich die Symptome von jemandem sind, der versucht sich im Leben vorwärts zu bewegen, oder als Zeichen dafür, dass er gerade versucht eine neue Fähigkeit zu entwickeln.

Wenn du dieses „Problem“ ausmerzen willst, dann hast du damit den Motor ebenfalls gestoppt. Vielleicht ist das Leben ohne dieses „Problem“ bequemer, aber in vielen Fällen auch weniger lebendig. Und weil der darunter liegende innere Drang eines Lebensprozesses meist noch vorhanden ist, wird höchstwahrscheinlich ein anderes Problem sichtbar werden.


Schmerz ist Teil des Heilungsprozesses

Eine Italienerin um die 30 verlor ihre einzige Tochter bei einem Autounfall. Es war für sie verheerend und ihr Leben brach zusammen. Sie konnte nicht mehr schlafen, saß den ganzen Tag wortlos zu Hause und verfiel. Ihre Ärzte diagnostizierten eine hochgradige Depression. Sie verschrieben Antidepressiva  und Schlaftabletten aber sie lehnte jede Behandlung ab. Die Gründe ihrer Ablehnung fand ich faszinierend.

Sie sagte, sie sei in einen tiefen dunklen Tunnel eingetaucht, als ihre Tochter starb. Alles war zwar dunkel und schwer, aber wenn sie da nicht ganz durch könne, dann erreiche sie nie wieder das Licht. Sie meinte, vielleicht würden die verschriebenen Medikamente ihr Erleichterung verschaffen, aber sie würden ihre Reise unterbrechen. Was sie eigentlich sagte war, dass ihr Zustand ein natürlicher war. Natürlich – aber gleichzeitig ein schwieriger Teil des Heilungsprozesses. Sie spürte wenn sie diesen Prozess durch eine Behandlung unterbrechen würde, könnte sie sich vielleicht besser fühlen, wäre aber nur zur Hälfte lebendig

Ich glaube, ihre Ansicht ist für viele Menschen zutreffend, die mit chronischen Leiden zu mir in die Praxis kommen. In solchen Fällen ist so ein Zustand ein Teil des Lebensprozesses. Mein Ziel ist nicht, den Schmerz so schnell wie möglich zu lindern, sondern die/den KlientIn zu unterstützen, den Prozess durchzugehen, Unbehagliches auszuhalten und den Prozess gänzlich abzuschließen, um wieder aus dem Tunnel ohne Unerledigtes aufzutauchen. Aus dieser Sicht ist das Ziel der Behandlung, dem/der KlientIn  Unterstützung zu geben um nach vorne zu schreiten und seinen/ihren natürlichen Widerstand gegenüber Veränderungen zu überwinden – nicht sie in einen Zustand des Gleichgewichts zu bringen.

Die Gestalttherapie sieht Veränderungsprozesse in sich als Paradox. Je mehr du versuchst etwas zu verändern, desto mehr bleibst du gleich. Anderseits, wenn du nur in deinen Zustand versinkst und stecken bleibst, ist Veränderungen gar nicht möglich. Nur wenn du dein Ziel, etwas zu ändern, loslässt und im Jetzt in deinem Prozess bleibst, kann Veränderung stattfinden.

Im Wesentlichen bedeutet dies, dass Veränderung dann stattfindet wenn du im Jetzt arbeitest, und dass Ziele wie Gleichgewicht bzw. Gesundheit- haben wollen dich vom Jetzt wegbringen und Veränderung blockieren.


Umgang mit chronischen Zuständen

Ich arbeite hauptsächlich mit Menschen mit chronischen Zuständen, wo körperliche Symptome von den Haltungsmustern und emotionalen Störungen schwer auseinander zu halten sind.

  • Mein Hauptziel in der Zusammenarbeit ist nicht, herausfinden zu wollen was mit ihnen nicht stimmt – ich diagnostiziere nicht. Anstatt dessen bemühe ich mich zu erkennen mit welchem Entwicklungsprozess sie ringen.

Zum Beispiel: Barbara entdeckte, wie aufregend und begeisternd ihr Leben sein kann durch ihren Krebs. Sie brauchte dort Hilfe, wo durch ihre Angst vor dem Tod diese Begeisterung zu erstarrten drohte.

  • Der nächste Schritt ist, den Klienten bewusst zu machen, wie sie, durch die Art und Weise, wie sie ihren Körper bewohnen, entweder unterstützt oder behindert werden in diesem Prozess.

Mir gelang es Barbara zu helfen, indem ich sie durch ihren Körper zu den Bereichen führte, die sich ausdehnen und bewegen konnten, wenn sie Begeisterung verspürte bzw. in die Körperbereiche die sich zusammenzogen und erstarrten, wenn sie Angst spürte. Tatsächlich entdeckte sie, dass das Aufregende in der Shao Yin Schicht (Herz und Niere) zu finden war und die Angst nahm sie in der Tai Yang-Achse (Blase und Dünndarm)  wahr. Nach ihrer Wahrnehmung lag das Problem darin, dass jedes Mal wenn sie Begeisterung und Lebendigkeit verspürte, sie nicht wusste wohin damit. Das Zusammenziehen ihrer Angst hielt sie zurück.

Dieser Teil der Therapie ist mehr eine interaktive Entdeckung, als eine Behandlung und der/die KlientIn kann die während der Therapie erlebten Experimente mitnehmen in den Alltag. Ich mache keine Diagnose, viel mehr ist es eine Zusammenarbeit mit den Klienten, um gemeinsam zu entdecken, wie sie ihren Körper benützen, um ihren Lebensprozess zu erfahren.

  • Der letzte und kreativste Schritt sind Vorschläge dafür wie Klienten ihren Körper einsetzen können, um festgefahrene Muster zu lockern.

In dieser Phase können Shiatsutechniken hilfreich sein, wo man dem Klienten Verbindungen von Teilen seines Körper nachspüren lässt, die nicht integriert sind. Ich bin allerdings daran interessiert, dass sie diese Verbindungen wirklich anwenden können um Neues zu wagen – sowohl in ihrer Beziehung zu anderen Menschen, als auch wie sie ihr Leben leben.

Diese Experimente können sehr einfach sein. Bei Barbara bemerkte ich, dass sie bei etwas Aufregendem bis in die Kehle aufgeladen war, aber ihre Arme und die Stimme waren dabei eingeengt durch die Spannungen im Tai Yang Bereich im Rücken. Das bedeutete, dass ihre Aufregung keinen Ausdruck fand und die Menschen sie weiterhin als Opfer ihrer eigenen Angst betrachteten, anstatt sie als die lebendige und begeisterte Frau wahrzunehmen, als die sie sich jetzt spürte. Wir verbrachten einige Sitzungen, um den Bereich um das Manubrium Sterni (Brustbein) zu erforschen, dort wo die Energie aufhörte, und ich zeigte ihr, wie sie direkt in das weiche Gewebe unter dem Brustbein atmen kann.

Sobald sich das Manubrium ausdehnen konnte, spürte sie wie ihre Kehle frei wurde und diese Bewegung setzte sich über die Schlüsselbeine in die Arme fort. Plötzlich wurde die Lebenskraft, die sie innen spürte auch nach aussen sichtbar und sie teilte mir in der nächsten Sitzung mit, dass ihre Freunde aufhörten sie als krank zu betrachten und begannen, mit ihr etwas zu unternehmen. Sie hörte auf, ihnen ihre Angst zu vermitteln und konnte sie mit ihrer Erregung anstecken. Jedes Mal wenn sie begann sich einzuengen, anstatt zu versuchen es zu kontrollieren, atmete sie in ihr Manubrium und die Erregung erstarrte nicht.

Eine Reihe von Experimenten stammen vom Fokus des Movement Shiatsu auf die Bewegungsentwicklung. Die Bewegungen, die Babies durch das Einsetzen ihres Körpers erlernen, ist ein tiefes archetypisches Verhalten, welches man auch bei Erwachsenen anwenden kann, um verlorene innerliche Verbindungen wieder herzustellen.


Leben – ganz wie du bist …

Es ist ein Beispiel für das Schöne an der Körperarbeit. All unsere chronischen Zustände hinterlassen ihre Spuren in der Art und Weise, wie wir unseren Körper einsetzen. Aber der Körper ist sehr greifbar, du kannst lernen, dich bewusst zu bewegen. Egal wie störrisch und problematisch ein Lebensfrage ist – wenn du entdecken kannst wie sie sich verkörpert, dann hast du einen Ansatz wie du damit experimentieren kannst, um lockerer zu werden, um dich zu befreien und dich so zu bewegen in dem Körper, der du ja bist.

Ob du „gesundest“ oder nicht, ist dann belanglos. Anstatt dessen lebst du intensiver, zufriedener und tiefer im Kontakt mit anderen. Wie bei Barbara, könnte es ebenfalls bedeuten, dass dein Zustand sich verbessert oder dass du länger lebst, aber das ist nicht das Ziel.

Ideale wie Gesundheit und Gleichgewicht sind für mich Schimpfwörter, weil sie uns wegführen von der gegenwärtigen Erfahrung. Sie behindern unser ständiges Ringen, um unser Leben ganz im Jetzt zu leben, indem sie das Jetzt mangelhaft erscheinen lassen und auf den Traum einer perfekten Zukunft hinzielen. Diese Zukunft könnte jedoch zu spät sein. Ich glaube es ist besser zu lernen, ganz zu leben wie du bist, statt die Zeit damit zu vergeuden einen idealen Zustand zu erreichen.


Literaturhinweise

  • The Dzog Chen Teachings of Namkhai Norbu Rinpoche
  • Gestalt Therapy: Excitement and Growth in the Human Personality by Perls, Hefferline & Goodman
  • The Sadist on Honeymoon by Bill Palmer SSN 1998
  • The Six Divisions by Bill Palmer, JSOBT Ausgabe 4
  • The development of Energie by Bill Palmer, JSOBT Ausgabe 1& 3

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© Bill Palmer (www.seed.org)