Gesundheit und Krankheit aus ganzheitlicher Sicht (Eduard Tripp)

Nach Prof. Peter Heintel: „Warum gibt es nur eine Gesundheit und so viele Krankheiten?“
Vortrag in Bad Gastein, September 1992, abgedruckt in Imagination 3a, 1992, S. 5- 60

Das Grundprinzip der klassischen Naturwissenschaften – und damit auch der naturwissenschaftlichen Medizin beruht auf klaren Befunden, wie sie durch objektive und damit auch jederzeit wiederholbare Untersuchungen gewonnen werden. Normwerte und in weiterer Folge auch Diagnosen sind den untersuchten „Objekten“ gleichsam innewohnend, wobei die naturwissenschaftliche Medizin so tut, als erkenne sie die Wirklichkeit, so wie sie eben ist. Und wenn schon nicht als Ganzes, so doch in ihren wichtigsten Aspekten. Krankheiten sind in diesem Sinne objektiv erkennbare „Zustände“ von Organen und Körperteilen. Eine Krankheit ist ein objektives Faktum, etwas das eigentlich nichts mit uns als gesunder Person zu tun hat, sondern ein „Feind“, der von außen kommt, uns bekämpft und – wenn wir uns nicht zu wehren wissen – überwältigt. Ein solcher Feind wird von der Medizin „benannt“, und die Diagnostik steckt das Handlungsfeld ab, damit man gegen den Feind die geeigneten Waffen und Strategien entwickeln und einsetzen kann.[1]Die Frage, ob Medizin eine Naturwissenschaft ist, ist umstritten. Zum einen forscht und behandelt man nach einem naturwissenschaftlichen Modell und versteht Heilung als kausales … weiterlesen

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Die Vorstellung, da gibt es zum einen den gesunden Menschen und zum anderen die Krankheit, beruht auf der unter Umständen tröstlichen Annahme, dass nur ein (kleiner) Teil von uns krank ist, während wir insgesamt gesund sind: also eine Krankheit haben. Krankheiten haben mit uns als ganzer, gesunder Person nichts zu tun. Sie sind Feinde, die von außen kommen, uns bekämpfen und überwältigen. So gibt es darum zwar nur eine Gesundheit, aber viele, unterschiedliche Krankheiten, deren Zahl von Jahr zu Jahr wächst. Und insbesondere dort, wo „neue“ Krankheiten entdeckt werden, wächst die Lebenserwartung. Je mehr Krankheiten entdeckt und erforscht werden, umso leichter ist es den kranken Menschen spezifisch zu behandeln, umso schneller wird er gesund.

Diesem Schluss widerspricht allerdings der Befund, dass Menschen mit hoher Lebenserwartung eher weniger krank gewesen sind. Man kann deswegen, so Prof. Peter Heintel in seinem Vortrag „Warum gibt es nur eine Gesundheit und so viele Krankheiten?“, durchaus auch davon ausgehen, dass die vielen Krankheiten, die die moderne Medizin benennen kann (gleichsam als Fortsetzung von alten Beschwörungsritualen) weniger dem wirklich Kranken dienen, sondern dem Gesunden, der dadurch beruhigt ist, dass im Notfall andere wissen, was mit ihm zu tun ist. Dieses Wissen im Hintergrund und das darauf beruhende freiere Leben hält uns dann auch gesünder, als wenn wir beständig Angst hätten. Eine große Risikoangst nämlich zieht das befürchtete Übel förmlich an.

Die Tatsache, dass es so viele und immer mehr Krankheiten gibt, ist vor allem das Resultat wissenschaftlichen Erfolgs und Fortschritts. In früheren Zeiten gab es weniger Krankheiten – nicht weil sie nicht schon da waren, sondern weil sie noch nicht entdeckt waren. Die „weißen Flecken“ auf der Landkarte werden weniger und diese Leistung „beschert“ uns mehr Krankheiten.

Und auch die Vorstellung, dass die Komplexität der naturwissenschaftlichen Medizin und ihre zunehmende Spezialisierung ihre Ursache in der Vielschichtigkeit der Wirklichkeit haben, beruht auf einem falschen Schluss. Nicht deshalb, weil die Wissenschaft gleichsam asymptotisch immer mehr von der komplexen Wirklichkeit erfasst, wird sie immer detaillierter und umfangreicher, sondern im Gegenteil resultiert ihre zunehmende Komplexität und Spezialisierung daraus, dass die Wissenschaft in ihrem reduktiven Zugang die Wirklichkeit nicht erfassen kann. Und je kleiner die „Realitätsausschnitte“ werden, desto „gewaltsamer“ müssen die Reduktionen und Ausschließungen durchgeführt werden. Die Spezialisierung „explodiert“ und sorgt zunehmend für Unübersichtlichkeiten, hinter denen der eigentliche „Gegenstand“ (d.h. der kranke Mensch) mehr und mehr verloren geht.

Im reduktionistischen Zugang der Wissenschaft spiegelt sich zugleich aber auch die Reduktion des kranken Menschen selbst. Er fühlt sich durch seine Erkrankung reduziert, „unganz“, gestört in seinen „normalen“ Lebensprozessen. Er empfindet Schmerz, fühlt sich „entfremdet“, „außer sich“ und trennt sich gleichsam auf in ein Subjekt, das sich seiner ehemaligen Gesundheit erinnert, und in einen „objektiv“ gestörten „körperlichen“ Zustand. Wegen letzterem sucht er Hilfe und ist offen für Interventionen von außen, die ihm den „abgespaltenen“ Teil erklären und die ihm die Sicherheit geben, dass dieser eigentlich etwas „Äußeres“, nicht zu ihm Gehörendes ist.[2]Als Leitdisziplin der naturwissenschaftlichen Medizin kann man die Chirurgie betrachten. In ihr vereinen sich die Abspaltungswünsche des Patienten (die Krankheit als etwas Fremdes zu betrachten) und … weiterlesen

Andererseits aber sind wir krank, fühlen wir uns insgesamt (als ganze Person) krank, selten nur in Teilen. Was mit der Spaltung zwischen der (gesunden) Person und der Krankheit jedoch verhindert wird, ist, dass wir die Krankheit als eigene akzeptieren, als besondere Form und Ausdruck unserer Subjektivität, als Hinweis auf uns selbst. Eine solche „Veräußerung“ stört zugleich auch das subjektiv-innerliche Verhältnis zur eigenen Krankheit und läuft damit Gefahr, die mit diesem Verhältnis verbundenen Heilpotentiale zu deaktivieren bzw. zu schwächen. Dauerhaft, so kritisieren die Verfechter ganzheitlicher Ansätze, kann nämlich deshalb niemand von „außen“ geheilt werden. Man muss sich vielmehr selbst heilen, wozu aber die Hereinnahme der Krankheit in uns selbst, in Leib und Seele, gehört.

Der „ganzheitliche“ Ansatz geht nun davon aus, dass es nicht nur eine Gesundheit, sondern auch nur eine Krankheit gibt – als Ausdruck unserer Individualität allerdings mit vielen Erscheinungsformen. Gesund sein ist ein Zustand, krank sein ein anderer. Und so wie es „leichtere“ und „schwerere“ Krankheiten gibt, gibt es auch „gesündere“ und „weniger gesunde“ Gesundheitszustände, von „normaler Funktionstüchtigkeit“ bis hin zu erfülltem Glücksempfinden (wobei es hier durchaus Unterschiede gibt, sich diese aber nicht in Symptome fassen lassen).

Erkrankungen, wie sie von der ganzheitlichen Medizin diagnostiziert werden (mitunter haben sie gleichlautende Bezeichnungen wie die Schulmedizin), sind „Symptome“ eines verletzten weiteren und größeren Zusammenhangs, aber ohne den für die naturwissenschaftliche Medizin typischen eigenständigen, „substantiellen“, eingrenzbaren und lokalen Charakter.

Die Festlegung von Normal- und Normwerten, wie sie für den naturwissenschaftlichen Zugang unabdingbar ist, um Abweichungen festzustellen, bildet den ersten Schritt zur Trennung von Gesundheit und Krankheit. Die daraus abgeleitete „Normgesundheit“ ist ein abstrakter wissenschaftlicher Begriff. Manche fühlen sich in ihr tatsächlich gesund, manche nicht. Ebenso fühlen sich manche „Kranke“ gesünder als manche für gesund Erklärte. Und im Verlauf von Heilungsprozessen werden Normwerte und deren Veränderungen mehr dazu verwendet, den Patienten zu motivieren, zu ermuntern, an seinen „Lebenswillen“ zu appellieren (etc.) – eigentlich Interventionen auf einer Ebene mit unterschiedlich benennbaren Gesundheitszuständen.

Gelingt es der naturwissenschaftlichen Medizin, ideale „Laborbedingungen“ herzustellen, kann sie recht gut Prognosen abgeben. Mit geringen Ausnahmen ist das bei jeder „Routineoperation“ möglich, und Prognosen sind wohl auch das sicherheitsspendende Element, warum sich viele Menschen beispielsweise lieber operieren als auf längerfristige vage Therapien einlassen. Geht man nämlich von „Ganzheiten“ und Systemen aus, fällt jegliche Prognostizierung in sich zusammen und damit auch die erhoffte Sicherheit. Daraus resultiert eine Unsicherheit, mit der viele Menschen überfordert sind, und weshalb die alternative Medizin vielfach erst dann in Betracht gezogen wird, wenn die Schulmedizin „am Ende“ ist. Angewandte Ganzheit setzt zudem immer auch „Mitarbeit“ voraus. Es wird ein „Subjekt“ der Krankheit gefordert, das aber gerade durch die Krankheit gefordert ist, sich oft ohnmächtig fühlt.

Berücksichtigt werden im ganzheitlichen Verständnis von Gesundheit und Krankheit komplexe Lebenszusammenhänge (wie z.B. biokybernetische Rückkoppelungen und psycho-physische Wechselwirkungen), und die Vorstellung von der Macht äußerer Eingriffe ist zugunsten globaler Zusammenhänge aufgegeben. Die „Gesamtkrankheit“, in der das Symptom (die „Einzeldiagnose“) nur einen Teil des gesamten „Musters“ ausmacht, wird – wenn man diesen Ansatz bis zum Ende verfolgt – schließlich nicht mehr ursächlich lokalisierbar. Damit eine Therapie aber überhaupt möglich ist, müssen Grenzziehungen (und dies geschieht immer zu einem Teil willkürlich) gezogen werden. Wesentlich aber ist, dass es der ganzheitlichen Medizin nicht um einen Eingriff von außen geht, sondern um die „immanente Steuerung“, um den Versuch, globalere Zusammenhänge zu erkennen und Störungen in ihnen selbst zu beheben.

Naturwissenschaftliche Medizin gilt weltweit. Sie hat es sich zum Ziel gesetzt, von kulturellen, sozialen und religiösen Normen unabhängige Parameter, Befunde und Diagnosen zu erstellen – und die so diagnostizierten Erkrankungen ebenso standardisiert zu behandeln.[3]Aber auch innerhalb des Modells ergeben sich Probleme, denn trotz zunächst oftmals eindeutigen Diagnose muss das „Syndrom“ mitunter erweitert werden, weil Faktoren eine Rolle spielen, die in … weiterlesen Im Unterschied dazu war und ist die nicht an diesen wissenschaftlichen Modellen orientierte Medizin eng mit der jeweiligen Kultur verbunden, eingebettet in ihre Vorstellungen und Normen. Auf diesen Kontext kann und will in der ganzheitlichen Medizin nicht verzichtet werden[4]Wenn man die herrschende Kultur und sozialen Normen nicht kennt, fühlt man sich unter Umständen verunsichert, der „Zauberei“ ausgeliefert. Diese Verunsicherung ist aber nicht nur heilsam (was … weiterlesen, insbesondere deshalb, weil die „Krankheitsursachen“ in mannigfachen Umweltbedingungen anzusiedeln sind.

Da alle Kulturen immer auch Krankheitspotentiale schaffen (z.B. Ausschluss von Nichtkonformen, Randgruppenbildung zur Symptomentlastung, Symptomträger für Verdrängtes etc.), kann es von Vorteil sein, wenn es Bezirke gibt, wo man sich aus dem bestehenden Umfeld herausziehen kann. Beispielsweise kann ein Krankenhausaufenthalt als ausgesprochen angenehm erlebt werden, weil man etwa für eine gewisse Zeit von der Familie befreit ist. Und so kann man auch den „Krankheitstourismus“ (die Suche nach Heilung bei Schamanen, Wunderheilern, in Zen-Klöstern etc.) als Fluchtversuch interpretieren und als Wunsch nach „neuen Zugehörigkeiten“: eine Suche nach Integration und Wiederverankerung von Krankheit in gesamtkulturelle Zusammenhänge, die nicht chaotisch, bedrohlich und überfordernd auf uns einströmen.

Gibt man den naturwissenschaftlichen Ansatz der Trennung von Subjekt und Objekt, von Person und Krankheit, auf, so bedeutet dies letztendlich auch, dass das Subjekt (d.h. der Behandler wie auch der Patient) erkenntnis- und heilungskonstitutiv ist. Die angestrebte Objektivität ist damit verloren, und es hängt von den Beteiligten (Behandler und Patient) ab und ihrer Lebensgeschichte, Ausbildung, Selbsterkenntnis, „blinden Flecken“ (etc.), was angerührt und für die Behandlung relevant wird.

Aus ganzheitlicher Sicht muss jede Diagnose erst mühsam erarbeitet werden. Das differential-diagnostische Instrumentarium hilft hier nur zu Beginn der Suche im Sinne einer Aufmerksamkeitserweiterung oder „Suchhaltung“. Diagnostik ist in diesem Sinne ein „Sprachangebot“ für therapeutische Situationen. Sie beschreibt mögliche Pfade, die man gemeinsam gehen kann, und hilft Kommunikationsverhältnisse zu arrangieren. Wichtiger als das Finden von Krankheitserscheinungen ist hier die Suche nach möglichst vielen „Anschlussmöglichkeiten“ an die umgebende Wirklichkeit, die Eröffnung neuer Wege.

Leid und Krankheit haben in ganzheitlicher Sicht einen wichtigen Grund in uns selbst, in der uns innewohnenden Widersprüchlichkeit, die schon damit beginnt, dass wir Körper, Geist und Seele sind – angesiedelt zwischen Gott, dem Göttlichen, der Welt des Geistes und dem Tier, der Triebhaftigkeit, der Körperlichkeit. Hierbei handelt es sich gleichsam um die „Erbsünde“ des Menschen, nicht um das Resultat von individueller Schuld oder persönlichem Versagen.

Leid kommt so gesehen aus unserer inneren Struktur selbst, unseren biologischen Bedingungen und ist daher als grundsätzlicher zu betrachten als einzelne, spezifische Krankheiten. Während unsere Kultur darauf ausgerichtet ist, Leid und Tod zu überwinden (was ihr aber nicht gelingen kann, wenn beide zum inneren Wesen des Menschsein gehören), wissen andere Kulturen (noch) mehr über den Zwiespalt des Menschen zu berichten und seinem daraus resultierenden Leid.

Die durch den Menschen hindurch gehende innere Differenz hat viele Namen: Leib – Seele, Geist – Körper, Trieb – Vernunft, Natur – Freiheit beispielsweise, und sie ist zugleich Quelle von Leid wie auch Quelle von Freiheit und Möglichkeiten. Nach beiden Seiten hin gibt es Phantasien in unserem Leben, diese Grenzen aufzulösen. Zum einen hin zur Unmittelbarkeit der Natur, zum verlorenen Paradies (vielfach verkörpert in der Idealisierung von „Primitivkulturen“) und zum anderen hin zur Verschmelzung, Eins-Werdung mit dem Absoluten, zur mystischen Vereinigung.

Krankheit und Leid gehören kollektiv zum Wesen des Menschen, zugleich aber sind sie auch das Schicksal des Einzelnen. Der gesellschaftliche und kulturelle Kontext bestimmt dabei das Verhältnis zwischen diesen beiden Polen. So gibt es „kollektiv ausgerichtete Kulturen“ mit weitgehender Entlastung von der Selbstbewältigung des Schicksals auf der einen Seite des Kontinuums und auf der anderen Seite des Kontinuums Kulturen, in denen das Ich, die Person, die Individualität eine bedeutende Rolle spielt. Hier werden bedeutsame Teile an das Ich (zurück-)delegiert, womit das Individuum aber viel von seinem gesellschaftlichen Rückhalt und seiner kollektiven Einbindung (wie z.B. auch Entlastung im Ritual) verliert. Das Leid, das allen zukommt, muss – ebenso wie auch die Freude – quasi allein bewältigt werden.

Letztlich gibt es keine Anleitung, kein Rezept (von außen), um diesen Widerspruch in uns ein für allemal zu bewältigen. Der Riss, der mitten durch uns hindurchgeht, muss jeweils von uns selbst und individuell „ertragen“, „geheilt“ und auch wieder „neu aufgerissen“ werden. Insofern sind wir als Ich nie ganz „heil“, was aber noch nicht Krank-Sein bedeutet.

Krankheit entsteht aus schlechter oder misslungener Bewältigung der Differenz: Entweder dann, wenn das Ich seinen Leib über- oder unterfordert, oder aber wenn der Körper das Ich dominiert. Fortschreitende Individualisierungsformen und die ihnen gegenüber forcierten Differenzierungsgebote führen zu einer potentiellen Überforderung des Körpers durch das Ich. Damit ist nicht nur Leistung, Stress, Zeitdruck, Körperdisziplinierung u.ä.m. gemeint, sondern – viel grundsätzlicher, weil es nicht möglich ist, dass der Geist sich verändert und der Körper davon unbehelligt bleibt – dass der Körper als „ganzer“ dabei mitschwingt und sich zu einer „Entsprechung“ formt.

Von der Betrachtungsweise der Differenzbewältigung her gesehen, wird auch verständlich, dass eine missglückte Lösung nicht die gleichen Auswirkungen hat, sondern immer den Unterschieden der Individuen entsprechen. Damit gleicht letztlich keine Krankheit der anderen, und es gibt letztlich so viele Krankheiten wie Krankheitsfälle.[5]„Neue Krankheiten“, die nach neuen Bezeichnungen verlangen, könnten so betrachtet auch mit „Individualisierungsschüben“ in Beziehung stehen.

Die Befreiung des Individuums zu seiner Autonomie (Selbstbezüglichkeit und Selbstverantwortung) hat das Leben auch schwieriger und mühsamer gemacht, denn was früher durch sozialen Konsens geregelt war, worin man „hineingewöhnt“ wurde, muss heute in unterschiedlichen Formen und mit unterschiedlichen Resultaten erarbeitet werden – ein Umstand, der immer mehr „Metakommunikation“ erfordert, und eben dieser (gesellschaftliche) Mangel an Metakommunikation im Alltag kann zu Erkrankungen führen, die in diesem reduzierten Alltag auch nicht mehr heilbar sind. In diesem Kontext bedeutet Therapie kommunikative Arrangements zu setzen, in denen der Behandler (und eventuell auch andere dabei Beteiligte) mitleben, mitleiden, „übernehmen“, sich auch mitfreuen, überhaupt Anteil nehmen und damit Heilprozesse in Gang setzen. Es geht dabei darum, das Individuum, dessen Leid gerade darin besteht, seinen Anschluss an eine (größere) Wirklichkeit verloren zu haben, wieder zu ihr zurückzuführen.

Aufgabe des Behandlers ist es somit (auch), zwischen Normalwelt und Krankheit zu vermitteln, dafür zu sorgen, dass Zusammenhang und Anschlussfähigkeit nicht abreißen. Er wird damit zu einem „Betreuer der Zwischenwelt“ (nicht unähnlich einem Schamanen, der zwischen der diesseitigen und der jenseitigen Welt reist und vermittelt), ein „Grenzgänger“, der sich auf und in diese Zwischenwelt einlässt und auch in ihr lebt, um als Instrument oder Wegweiser in diesem Bereich wirksam zu werden.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Frage, ob Medizin eine Naturwissenschaft ist, ist umstritten. Zum einen forscht und behandelt man nach einem naturwissenschaftlichen Modell und versteht Heilung als kausales Ursachen-Wirkungsverhältnis („um diese Krankheit zu behandeln, nimmt man dieses Medikament…“), andererseits aber weiß man um die Bedeutung der „Mithilfe des Patienten“, um die Bedeutung des Überlebenswillens und des Todeswunsches, um den Einfluss von Umgebung, Art der Pflege, Ortsveränderung etc.Selbst in der Psychosomatik, in der „weiche Faktoren“, die naturwissenschaftlich nicht erforschbar sind, gibt es allerdings die „alte“ Tendenz, Kausalitäten festzulegen. Was früher „organisch“ bedingt war, ist jetzt „psychisch“. Und so wird, wie früher der Körper, hier die Psyche „verdinglicht“.

Das hinter dem Ansatz eines äußeren Feindes steckende Wissenschaftsverständnis geht von der Annahme aus, dass Subjekt und Objekt klar getrennt sind und getrennt werden können. Dieser Ansatz ist in den Naturwissenschaften jedoch seit Einstein und Heisenberg widerlegt und relativiert.            

Kritisch betrachtet sind Krankheiten, wie sie in der naturwissenschaftlichen Medizin verstanden werden, niemals Befunde über „wirkliche“ Zustände, sondern Relationsbegriffe zwischen diesen und der Wissenschaft Medizin mit all ihren Methoden, Begriffen und Denkformen. Letztlich ist schon jede Diagnose ein höchst komplexer, systemvermittelnder Eingriff, der Wirkungen nach sich zieht und den ursprünglichen Zustand verändert. Die diagnostizierten Krankheiten sind daher, insofern sie den ursprünglichen Wirklichkeitszustand verändern, allesamt von der Medizin (mit)erschaffen („iatrogen“).

2 Als Leitdisziplin der naturwissenschaftlichen Medizin kann man die Chirurgie betrachten. In ihr vereinen sich die Abspaltungswünsche des Patienten (die Krankheit als etwas Fremdes zu betrachten) und die naturwissenschaftlich-technische Modellbildung. Hier gibt es Teile, die entfernt oder „angenäht“ werden sollen, und durch einen äußeren Eingriff werden Zustände – durchaus erfolgreich – verändert.Der Ursprung der Chirurgie, das sollte nicht vergessen werden, liegt in der sezierenden Anatomie. Von Anfang an ging es hier darum, das (tote) Ganze in Teile zu zerlegen und die Teile dann separat zu behandeln: so viele Teile, so viele Krankheits- und Behandlungsmöglichkeiten. Offen bleibt innerhalb dieses Modells jedoch die Frage, wann eine weitere Unterteilung sinnlos und kontraproduktiv wird, und auch eine zweite Frage, wann man der vom Patienten gewünschten Abspaltung (z.B. Operation) entsprechen soll und wann nicht.
3 Aber auch innerhalb des Modells ergeben sich Probleme, denn trotz zunächst oftmals eindeutigen Diagnose muss das „Syndrom“ mitunter erweitert werden, weil Faktoren eine Rolle spielen, die in Diagnose und Therapie als solche zunächst gar nicht vorgekommen sind. Was, so kann man fragen, ist nun die „wirkliche“ Krankheit des Patienten: Die erstellte Diagnose, das inzwischen „aufgedeckte“ Syndrom (das die Ursprungsdiagnose erweitert, verändert, revidiert) oder die Tatsache, dass der Patient sich bewusst oder unbewusst weigert, gesund werden zu wollen?
4 Wenn man die herrschende Kultur und sozialen Normen nicht kennt, fühlt man sich unter Umständen verunsichert, der „Zauberei“ ausgeliefert. Diese Verunsicherung ist aber nicht nur heilsam (was sie oftmals auch ist, eben weil der bekannte „Rahmen“ durchbrochen wird), sondern sie kann auch zu Abwehr und Panzerung führen und so die Therapie wirkungslos machen. 

Zwei Tendenzen zeigen sich in diesem Zusammenhang: das Steigen von „Rückholaktionen“ einerseits und ein „Krankheits- und Heiltourismus“ andererseits. Während ersterer das Misstrauen gegenüber der „fremden“, wenngleich ebenfalls Schulmedizin in fremden Ländern widerspiegelt und den Wunsch nach einer „vertrauten Umgebung“, zeigt der „Krankheits- und Heiltourismus“ das Misstrauen gegenüber der Schulmedizin generell und die Suche nach Heilung „außerhalb“ bei Schamanen, Wunderheilern etc.

5 „Neue Krankheiten“, die nach neuen Bezeichnungen verlangen, könnten so betrachtet auch mit „Individualisierungsschüben“ in Beziehung stehen.