Grenzen setzen und Grenzen überschreiten. Respekt und Übergriff (Eduard Tripp)

Physiologisch, ebenso wie psychologisch, ist Abgrenzung für uns von grundlegender Notwendigkeit. Ohne die Begrenzung und Abgrenzung der Zellmembran beispielsweise könnte keine Zelle existieren. Sie würde zerfließen, und der Zellkern könnte gar nicht erst aufgebaut werden. Aber auch gegen bedrohliche Einflüsse und Angriffen von außen schützt die Zellwand. Grenzen bieten gleichermaßen Schutz vor dem Zerfließen und Zerfallen wie auch Schutz vor eindringender Energie. Ein starkes Wei Qi (Schutzenergie im Verständnis der Traditionellen Chinesischen Medizin, TCM) schützt uns vor äußeren, unseren Organismus gefährdenden Einflüssen – Xie Qi, wie es die Chinesen nennen.

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Obgleich sie lebensnotwendig ist, muss jegliche Abgrenzung zugleich flexibel und nachgiebig sein, damit Nahrung und notwendige Impulse ins Innere gelangen. Zudem werden Stoffwechselprodukte auf diesem Weg ausgeschieden und Impulse an die Umwelt abgegeben. Ist die Außengrenze flexibel, dann fließt Energie leicht von innen nach außen und von außen nach innen. Die zweite Funktion von Grenzen ist die der Kommunikation und des gesteuerten Austausches mit der Außenwelt.

Ein harmonisches Gleichgewicht im Inneren ist immer auch abhängig von einem Gleichgewicht zwischen Innen und Außen. Unser inneres, körperliches wie auch emotionales Gleichgewicht ist abhängig von unserer Beziehung zur Welt, ist geprägt und geformt von ihr. Wir sind Teil dieser Welt und nicht getrennt von ihr. Wir sind in ständigem Austausch mit der Welt. Eine Harmonie in uns ist nur möglich, wenn wir im Gleichklang in uns selbst und mit der Welt sind. dasselbe Prinzip gilt auf allen Ebenen, im körperlichen Bereich ebenso wie im emotionalen und geistigen Bereich.

Abgrenzung und Durchlässigkeit müssen sich in einem notwendigerweise flexiblen Gleichgewicht befinden. Ist die Abgrenzung zu rigid, zu starr, dann erstarren und verarmen wir hinter diesem Schutzwall in unserem Inneren. Ist umgekehrt, die Abgrenzung zu schwach, werden wir überschwemmt von äußeren Impulsen und Einflüssen und verlieren unsere Struktur, unseren inneren Halt. In beiden Fällen verlieren wir unsere Flexibilität, unsere nötige Anpassungsfähigkeit, die auch die Abgrenzung – das „Nein“ – umfasst, und damit die Fähigkeit mit der Welt um uns befriedigend und erfüllend in Kontakt zu treten.


Unflexible Grenzen schränken uns ein

Wer sein inneres Gleichgewicht verliert, verliert auch sein äußeres, kommt in Disbalance mit der Welt, die ihn umgibt. Sind die Grenzen, die Berührungsflächen eines Menschen nicht fest (widerstandsfähig) und flexibel zugleich, so sind sie hart und starr oder schwach und schwankend – unausgeglichen zwischen yin und yang.

In Anlehnung an Wilhelm Reich spricht man in der Körper(psycho)therapie bei chronifizierten Schutzhaltungen von einem Panzer, wobei der harte und der weiche Panzer voneinander unterschieden werden. Der harte Panzer (yang) hält feindliche bzw. vermeintlich gefährliche Einflüsse davon ab, ins Innere einzudringen und zu verletzen. Menschen mit einer harten äußeren Struktur genießen den rauen, fast feindlichen Kontakt mit der Umwelt. Sie zeigen schnelle, aber oberflächliche Reaktionen.

Das Innere jedoch ist weich, unterentwickelt und verunsichert (yin), denn für eine adäquate Entwicklung würde es entsprechender Impulse, Anregung, Berührung bedürfen. Nur (adäquate) Anregung, Berührung und Ermutigung – Impulse, die die Auseinandersetzung und damit das Wachstum ermöglichen – vermögen die Strukturbildung und die Reaktionsfähigkeit zu fördern. So wie die Muskulatur ohne Training verkümmert, sind hier die inneren Strukturen verkümmert. Sie sind weich und desorganisiert. Berührung mit und aus dem Inneren ist immer mehr in den Hintergrund getreten, die Kommunikation ist leer und oberflächlich geworden.

Impulse, die nicht abgefangen werden können, und so die äußere Schutzschale durchdringen, gelangen in ein weiches, offenes und nur ungenügend strukturiertes Inneres, das mit diesen Impulsen kaum umzugehen vermag, keine adäquaten Reaktionsmuster zur Verfügung hat, hilflos ist und verletzt.

Umgekehrt verhält es sich mit dem weichen Panzer. Unter einer weichen Pufferzone, einer alles absorbierenden Oberfläche liegt ein gespanntes und straffes Inneres. Die weiche Oberfläche stellt den Kontakt mit der Umwelt her, ermöglicht es, auf die Umwelt zu reagieren, ohne die inneren, verkrampften Gefühle und Impulse dabei auszudrücken. Das Innere ist angespannt, quasi eingefroren und meist unbewusst. Außen weich (yin), und innen hart (yang).

Impulse aus der Umwelt gehen dadurch regelrecht ins Leere, verpuffen, gelangen nicht bis ins Innere, werden absorbiert. Ist ein Impuls jedoch stark genug, die Pufferzone zu durchdringen, trifft er auf ein straffes und gespanntes Inneres, das kaum über Bewegungs- und Reaktionsmöglichkeit verfügt, und – auf andere Art und Weise wie beim harten Panzer – nicht adäquat auf den Impuls reagieren kann. Gutmütige oder sogar träge Menschen können so, wenn ihre Abwehr durchbrochen wird, plötzlich absolut heftig und impulsiv reagieren. Für Nuancen und Differenzierungen fehlt die nötige Entspanntheit und Flexibilität im Inneren.

Wird, als weitere Möglichkeit, ein nur unzureichender Schutz errichtet, konnten keine ausreichenden Schutzfunktionen aufgebaut werden, ist der betreffende Mensch verletzlich, ungeschützt und einer oft rücksichtslosen Umwelt ausgesetzt. Impulsen mehr oder weniger schutzlos ausgeliefert, reagiert der Betroffene auf seine Umwelt nahezu ohne seine Reaktionen filtern und steuern zu können. Menschen, deren Schutzfunktion nur so schwach ausgebildet ist, dass sie im alltäglichen Kontakt unerträglich häufig und schmerzhaft verletzt werden, ziehen sich – aus einem nachvollziehbaren Schutzbedürfnis heraus – oft zurück und lassen die Welt (und insbesondere die Menschen) kaum an sich heran.


Flexible Grenzen schützen uns

Es wäre vereinfachend und falsch, die Schutzfunktionen des Organismus, seine Abwehr, negativ zu bewerten. Im Gegenteil: Grenzen schützen uns und ermöglichen uns das Leben. Zu einem Problem werden sie erst, wenn sie ihre Flexibilität und differenzierte Reaktionsfähigkeit verlieren. Ein Schutzmechanismus wird erst dann problematisch, wenn er nicht gesteuert werden kann und das Leben, die Vielfalt seiner Möglichkeiten übermäßig einschränkt. Erst wenn er diese Bedingungen erfüllt, lässt sich eine Abwehr als lebenseinschränkend und damit pathogen bezeichnen. In allen anderen Fällen hingegen ist sie lebensbejahend und unterstützend.

Generell: Ist die Abgrenzung zu starr, zu unflexibel, zu eng, so gilt es, sie zu lockern, aufzuweichen und flexibler zu machen. Ist die Abwehr jedoch zu schwach, so gilt es umgekehrt, sie zu stärken, flexibler zu machen, differenzierter und vielfältiger.

Grenzen sind, wie schon eingangs ausgeführt, notwendig, damit sich das Innere strukturieren kann. Analytisch orientierte psychotherapeutische Entwicklungsmodelle gehen davon aus, dass zuerst eine äußere Grenze wie eine Art Körperhülle ausgebildet werden muss, damit sich das Innere, die Innenwelt adäquat strukturieren kann. Da der Säugling anfänglich in seinen Möglichkeiten begrenzt ist, übernimmt der betreuende Elternteil eine unterstützende Funktion, die das neugeborene Wesen schützt und darin unterstützt, seine Grenzen (teilweise stellvertretend) zu wahren. Mit dem Heranwachsen und der damit zunehmenden Organisation der Verarbeitungs- und Schutzmechanismen können die unterstützenden Funktionen der Eltern geringer werden, das Kind übernimmt diese Funktionen nun selbständig.


Grenzen entwickeln sich im Dialog

Für die notwendige und doch flexible Ausbildung der Grenzen, der Abgrenz- und Kontaktfunktionen, ist ein adäquater Schutz vonnöten. Dieser darf jedoch nicht zu rigoros sein, damit sich die eigenständigen Funktionen optimal herausbilden können. Die heranreifenden Strukturen entwickeln sich nämlich in der Auseinandersetzung mit einer möglichst „optimalen“ Herausforderung. Wir wachsen an unseren bewältigten Problemen, die wir dann als Herausforderungen ansehen können. Eine übermäßige Herausforderung jedoch überfordert und schwächt. Die Gefahr einer Traumatisierung und eines damit verbundenen Entwicklungsstillstandes ist gegeben, und das nicht nur durch ein einmaliges traumatisches Geschehen, vielmehr auch durch kontinuierliche Überforderung, durch ein überforderndes Klima. Aber auch Unterforderung lässt die Entwicklung stagnieren und schwächt auf diese Weise. Adäquate Herausforderung stärkt die Niere, die die tiefste Ebene unserer Anpassungs- und Schutzfunktionen bildet. Überforderung jedoch schwächt sie ebenso wie Unterforderung – vergleichbar einem geistigen oder körperlichen Training, für dessen Erfolg die Vermeidung von Über- wie auch Unterforderung von größter Wichtigkeit ist.

Traumatisierende, über- und unterfordernde Lebensbedingungen führen zur Ausbildung von problematischen Abwehrstrukturen, die weniger die Entwicklung in den Vordergrund stellen als vielmehr das „Überleben“. Abwehr- und Überlebensstrategien werden infolgedessen entwickelt, die die Adaptionsmöglichkeiten eines Menschen einschränken, flexibel und angemessen mit der Umwelt zu interagieren, mit ihr in Beziehung zu treten.


Unser Körper speichert unsere Erfahrungen

Alle unsere Erfahrungen speichern wir als energetisches Muster auch in unserem Körper, in unseren körperlichen Strukturen und Beschaffenheiten. Dieser Umstand ist wesentlich dafür verantwortlich, dass man auf Grund äußerer Hinweise auf innere (körperliche wie auch seelische) Gegebenheiten schließen kann. Unsere positiven Erfahrungen werden auf der Ebene des Körper- oder viszeralen Gedächtnisses ebenso abgespeichert und erinnert wie unsere Verletzungen, beispielsweise überschrittene Grenzen, und die damit verbundenen Schmerzen, Ängste, Hoffnungen und Sehnsüchte. Ob wir uns ihrer bewusst sind oder nicht, sind alle – positiven wie negativen oder auch „neutralen“ – Erfahrungen auf diese Art und Weise auch körperlich manifest.

Dessen sollten wir uns als Shiatsu-PraktikerInnen immer bewusst sein. Wenn unser Klient, unsere Klientin auf der Shiatsu-Matte liegt, liegt hier ein Mensch vor uns mit seiner gesamten Lebensgeschichte, den und dessen Erfahrungen wir mit unserem Shiatsu berühren.


Der Umgang mit Grenzen im Shiatsu

Und umgekehrt, wenn wir uns auf die Begegnung im Shiatsu einlassen: Auch wir werden von unserem Klienten berührt und lassen uns von ihm berühren. Die Stärken und Schwächen, wie auch alle Erfahrungen und Verletzungen von unseren Klienten fließen ebenso in den Augenblick der Begegnung im Shiatsu ein wie auch unsere eigenen (als Shiatsu-Praktizierende). Erfahrungen, Erlebnisse und Gefühle – bewusst ebenso wie unbewusst – werden auf beiden Seiten mobilisiert und bestimmen zu einem wesentlichen Teil unsere Empfindungen, Gefühle und Handlungen als Klienten ebenso wie als Shiatsu-Praktizierende.

Ziel von Shiatsu, ob deklariert oder nicht, ist immer auch Veränderung. Und Veränderung bedeutet, dass einschränkende Grenzen überwunden oder verschoben werden oder neue, notwendige Grenzen aufgebaut werden, wo bislang keine waren. Veränderung bedeutet, dass „Raum gewonnen“ wird, ein Zuwachs an Freiheit im Handeln, Denken und Fühlen. Freiheit, die zuvor noch nicht vorhanden war: Grenzüberschreitung im positiven und erwünschten Sinne.

Das Bild des von sich aus ausschließlich unterstützenden, Halt gebenden und gewährenden Shiatsu-Praktizierenden ist jedoch ein unvollständiges Bild, vergleichbar der „holding function“ einer Mutter. Im Schutz der Mutter kann das Kind sich gefahrlos entwickeln, seine Möglichkeiten erforschen und ausschöpfen.

Der Yang-Aspekt von Shiatsu jedoch ist aktiv, ist provozierend, Grenzen berührend und überschreitend. Shiatsu setzt Impulse von außen, die Grenzen in Frage stellen, die Grenzbereiche berühren, die zur Weiterentwicklung anregen und uns wachsen lassen. In körpertherapeutischen Verfahren verwendet man dazu ganz bewusst kleine, wenngleich „präzise“ Grenzüberschreitungen, um den Menschen aus der Reserve zu locken und bestimmte Erfahrungen zu mobilisieren, zum Schwingen zu bringen.

Provokation („kontrollierte Grenzüberschreitung“) ist, das muss klar festgehalten werden, ein gefährliches und riskantes Instrument der therapeutischen Intervention. Kleine Grenzüberschreitungen sind nur dann tragbar und förderlich, wenn sie integriert werden können. Und dafür ist in erster Linie eine solide Basis notwendig, eine Vertrauensbasis zwischen Shiatsu-Gebendem und Shiatsu-Empfangendem – verbunden mit der Möglichkeit, die Verletzung wahrnehmen, ausdrücken, ansprechen und verarbeiten zu können. Nur in diesem Gesamtkontext ist eine kontrollierte und wohlüberlegte Grenzüberschreitung vertretbar, die – quasi „unter dem Strich“ – nicht nur wieder Verletzung und weiteren Rückzug (auf welche Art auch immer) und Vertrauensverlust mit sich bringt, sondern vielmehr zum Katalysator der Entwicklung wird.


Grenzüberschreitungen

Grenzüberschreitungen sind alltäglich. Wir leben in einer Welt, die uns ständig mit kleinen oder auch mitunter größeren Grenzüberschreitungen konfrontiert. Vielfach merken wir sie nur nicht, haben wir gelernt, sie nicht mehr bewusst wahrzunehmen. Wir sind diesen Verletzungen gegenüber abgestumpft. Gleichwohl sind sie wirksam, im Hun-Aspekt unseres Geistes gespeichert.

Um Grenzüberschreitungen im eigentlichen und negativen Sinne handelt es sich dann, wenn die Grenzen des Klienten massiv überschritten werden oder der berufliche und ethische Rahmen der Shiatsu-Sitzung verlassen wird. Dies passiert beispielsweise immer dann, wenn sich die Shiatsu-Sitzungen zu einer erotisch-sexuellen Beziehung hin entwickeln. Hier werden die professionellen Grenzen zwischen dem Shiatsu-Klient und dem Shiatsu-Gebenden überschritten. Es kommt zu einer Vermischung des professionellen Settings, das unser Klient aufsucht um Hilfe und Unterstützung zu finden, mit privaten und – wie es die Psychoanalyse ausdrückt – libidinösen (triebhaften) Wünschen und Begierden des Shiatsu-Gebenden. Ob und inwieweit unser Klient in dieser Situation wirklich eine libidinöse und partnerschaftliche Beziehung sucht, oder ob es für ihn (sie) ein aus der Erfahrung erlernter Weg ist, Zuwendung auf diesem Weg zu erhalten (ähnlich wie oft Zärtlichkeit in der Sexualität gesucht und vielfach nicht gefunden wird), sei für diese Betrachtung hinangestellt. Im Zentrum steht vielmehr, dass der Shiatsu-Gebende auf diese Weise letztlich unreflektiert agiert und seine professionellen Grenzen (mehr oder weniger „eingeladen“) überschreitet.


Die Grenzen des Shiatsu-Praktikers

Ein bislang noch nicht berücksichtigter Gesichtspunkt sind die Grenzen des Shiatsu-Praktikers. Auch hier kann es Grenzüberschreitungen geben, wenn der Klient vom Praktiker Handlungen oder auch Haltungen begehrt, die dessen Grenzen überschreiten (und die der Praktiker gewährt aus einem falsch verstandenen Gefühl der Verpflichtung und Hilfestellung) oder sich ihm grenzüberschreitend verhält (z.B. in der Art und Weise der Berührung bei der Begrüßung oder während der Sitzung).

Insbesondere verletzende Grenzüberschreitungen sollte der Shiatsu-Praktiker nicht selbstverständlich akzeptieren, vielmehr durch sein Umgehen damit (z.B. sich klar abgrenzen und von der Haltung her zugleich offen und zugewandt bleiben) auch als Modell wirksam zu werden. Problematisch wäre es, sich zu viel gefallen zu lassen (über die eigenen Grenzen gehen und sich selbst damit zu verletzen) oder aber auch zu abrupt und massiv, für den Klienten nicht nachvollziehbar zu reagieren und beispielsweise die Behandlung abzubrechen oder sich emotional zu distanzieren.


Beziehungen entwickeln sich über Krisen

Begegnung bedeutet immer, dass zwei Menschen einander begegnen, aufeinander treffen mit ihren Wünschen nach Berührung und Nähe einerseits und ihren jeweiligen Grenzen, Erfahrungen und Ängsten andererseits. Eine Beziehung zu entwickeln, aufrecht zu erhalten und zu vertiefen bedeutet, dass zwei Menschen ihre Grenzen wechselseitig so anzupassen lernen, dass sie sich berühren, positiv herausfordern, aber nicht („wirklich“) verletzen.

Ein solcher Prozess der gegenseitigen Wahrnehmung und Interaktion verläuft allerdings niemals linear, sondern immer über Krisen: Krisen, deren Bewältigung eine neue Dimension, eine neue Ebene des gegenseitigen Vertrauens und Verständnisses ermöglichen – und zugleich auch eine neue Dimension des „eigenen Raumes“ und der damit verbundenen neuen, tieferen Begegnungs-Möglichkeiten (und differenzierteren Abgrenzungen).

Immer sollten wir uns als Shiatsu-Gebende in diesem Prozess bewusst sein, dass jede wichtige Entwicklung und Veränderung im Leben eines Menschen immer auch eine Zeit großer Verunsicherung bedeutet. Die „alten“ Strategien und Verhaltensweisen „passen“ und „funktionieren“ jetzt nicht mehr, neue gibt es allerdings noch nicht, vielmehr herrschen Unsicherheit und eventuell auch Angst (und deshalb oft auch ein Rückgriff auf die alten, nicht mehr passenden Bewältigungsstrategien).

Krisenhaft verlaufen wichtige Begegnungen auch deshalb, weil wir in unserer Entwicklung negative Erfahrungen gemacht haben, die dazu führten, dass wir über ein eingeschränktes Verhaltensrepertoire verfügen, entweder vorrangig im Bereich der Verteidigung oder im Bereich der Offensive. Wir fürchten bestimmte Verletzungen und versuchen uns deswegen auf eine uns eigene Weise zu schützen. Alle diese Strategien (Abwehrmethoden in der Sprache der Psychotherapie) sind jedoch nicht nur hilfreich, sondern schneiden uns zugleich auch immer vom Leben und seinen Möglichkeiten ab, machen unsere Welt enger und enger.

Als Gegenkraft führt uns die Natur unseres Geistes immer wieder, zwangsläufig an diesen „Punkt des Entwicklungsstillstandes“ zurück. Jetzt gilt es wieder, wie schon so oft: Entweder ziehen wir uns zurück und vermeiden, oder wir wagen den Schritt nach vorne in das Ungewisse, das Unbekannte, Ängstigende, Gefährliche. Verlassen wir unsere bekannten und zugleich, zumindest scheinbar sicheren Bahnen? Riskieren wir den Sprung? – Genau das macht die Krise aus.

Aber nicht nur unsere Klienten betrifft und berührt die Krise, die sich im Regelfall mehr und mehr zuspitzt, sondern immer auch seine Partner – im diesem Fall den Shiatsu-Praktiker, der sich mit ihm so weit vorgewagt hat, diesen Bereich, dieses Thema mit dem Shiatsu-Empfangenden zu berühren, zu begegnen. Uns als Shiatsu-Gebende gemeinsam mit unserem Klienten diesem Unbekannten zu stellen, ist ein lohnendes, wenngleich kaum deklariertes Ziel von Shiatsu, das uns und unseren Shiatsu-Partner zu mehr Nähe („reife Nähe“, die auch unsere Getrenntheit, unsere Abgrenzung integriert) und Begegnungsfähigkeit führt, aber auch Reife und Verantwortungsgefühl (und damit verbunden einen reifen Umgang mit eigenen und fremden Grenzen) vom Shiatsu-Praktiker verlangt, um diesen Prozess zu ermöglichen und gut zu begleiten.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).