Kann man mit Shiatsu Psychotherapie unterstützen? (Eduard Tripp)

Die Antwort auf die Frage, ob man mit Shiatsu Psychotherapie unterstützen kann, scheint auf dem ersten Blick leicht zu beantworten, beruht doch Shiatsu – und letztlich die gesamte traditionelle fernöstliche Philosophie und Medizin – auf einem ganzheitlichen Ansatz, der von einer untrennbaren Einheit von Körper, Seele und Geist ausgeht. Eine Trennung zwischen Psychotherapie und somatischer Medizin, wie wir sie in der Tradition der westlichen Medizin kennen, war dem traditionellen Fernen Osten gänzlich fremd. Die Energetik von Yin und Yang und auch die Manifestationen der Fünf Wandlungsphasen schließen alle Phänomene – somatische, emotionale, geistige und soziale – ein. Alles ist miteinander verbunden, bedingt einander, beeinflusst sich gegenseitig und wurzelt in denselben Ursachen. Ob sich also eine energetische Disbalance in psychischen oder somatischen Symptomen und Beschwerden manifestiert, ändert deshalb den grundlegenden Ansatz der traditionellen Behandlung nicht wesentlich.

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Der geistige Aspekt der Wandlungsphasen beschreibt auch deren psychisch-emotionale Seite. So steht beispielsweise das Metall (die Lungen) in Beziehung zu Traurigkeit und Sorge, das Wasser (die Nieren) mit Angst und das Holz (die Leber) mit Frustration und Aggression. Ein wohl allzu vereinfachender Ansatz würde nun darin bestehen, Shiatsu als quasi psychotherapeutisches Instrument ausschließlich so einzusetzen, dass man Angst über die Nieren, Traurigkeit über die Lungen und Aggressionen über die Leber behandelt. Oder man berücksichtigt – etwas differenzierter, wenn man auch das Zusammenspiel der Elemente und Organe betrachtet, dass in einer Symptomatik wie z.B. Depression mündet – darüber hinaus, ob die Symptomatik etwa durch eine generelle Leere (mit)bedingt ist. In diesem Fall wäre das unspezifische Auffüllen und Stärken des gesamten Organismus von zumindest zusätzlicher Bedeutung.

Und doch, so verlockend dieses Modell erscheint, die Erfahrung zeigt, dass die Behandlung in der Praxis nicht so einfach zu handhaben ist. Der Versuch beispielsweise, eine anorektische Patientin, einen anorektischen Patienten einfach über den Mittleren Erwärmer zu behandeln, schlägt erfahrungsgemäß fehl. Die besten Kräuter greifen hier zu kurz, das Problem ist auch mit Akupunktur nicht so einfach in den Griff zu bekommen. Und selbst wenn Shiatsu ein guter Weg wäre (was es unter gewissen Voraussetzungen – zumindest ergänzend – auch ist), so fehlt es entweder an der Bereitschaft der PatientIn (es werden die Behandlungen z.B. gar nicht erst aufgenommen, oft auch plötzlich wieder abgebrochen) oder aber die BehandlerIn findet sich plötzlich in einer seltsamen beziehungsmäßigen Verstrickung wieder – ein Phänomen, das die Psychotherapie mit den Begriffen von Übertragung und Gegenübertragung beschreibt. Das Problem der Anorexie, das den zu behandelnden Menschen „im Griff hat“, ist jedoch damit noch nicht gelöst. Wahrscheinlich ist eher, dass sich zu den bisherigen Erfahrungen noch eine weitere Verletzung dazufügt (und das eventuell auch auf Seiten der Shiatsu-PraktikerIn).

Andererseits – und das können wir täglich in unserer Shiatsu-Praxis erfahren – hat Shiatsu eine starke, auch psychisch ausgleichende, stabilisierende und bereichernde Wirkung. Die Fragen, die sich dazu ergeben sind, deshalb: Wodurch und auf welche Weise wirkt Shiatsu? und Wie können wir psychisch-emotionale Prozesse mit Shiatsu bestmöglich unterstützen?


Wodurch und auf welche Weise wirkt Shiatsu?

Die erste Frage berührt westliche, vor allem psychoanalytische/psychotherapeutische Forschungsansätze und Erklärungsmodelle, die vergleichsweise für die Wirkung von Shiatsu herangezogen werden können. Dazu ist einleitend festzuhalten, dass es kaum nennenswerte empirische wie auch theoretische Arbeiten zur Wirksamkeit von Shiatsu gibt. Mit den Antworten, die wir auf diese Frage geben, betreten wir also ungesichertes Terrain.

Ein wesentlicher Ansatz, das breite psychische Wirkungsspektrum von Shiatsu zu verstehen, liegt in den mittlerweile in vielen Aspekten auch durch Erkenntnisse aus der modernen Säuglingsforschung (vgl. Daniel N. Stern) gestützten psychoanalytischen Theorien und Modellen über die grundlegende Bedeutung der frühen Kindheit für die spätere Entwicklung. In dieser frühkindlichen Phase ist das Erleben ganz allgemein noch undifferenzierter und damit auch ganzheitlicher. Rene Spitz nennt dies die coenästhetische Erlebniswelt, in der Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Temperatur und Stimmlage – und damit die glatte Muskulatur und das Autonome Nervensystem, also Sympathikus und Parasympathikus – im Vordergrund stehen. Eine Trennung zwischen körperlichen Empfindungen und einer geistig-psychischen Welt ist noch kaum vorhanden. Der Säugling begreift – im wahrsten Sinne des Wortes – seine Welt in höchstem Maße körperlich, und auch seine Kommunikation ist vor allem körperlich und ganzheitlich.

In diesem frühen (im Verständnis der Psychoanalyse basal-narzisstischen) Bereich der Entwicklung und Differenzierung des Säuglings unterscheidet Günther Bartl vor allem drei Qualitäten, die hier zum Tragen kommen und von grundlegender Bedeutung für die psychisch-emotionale Entwicklung sind: Wärme, Rhythmus und Konstanz.

Die adäquate Erfahrung von Wärme, die die Mutter (Bezugsperson) auf Grund ihrer Liebe und Zuneigung dem Kind vermittelt, bildet die frühe Basis für Vertrauen in die Welt, für die emotionale Hinwendung zur Welt, für Geborgenheit und Genussfähigkeit. Die adäquate Erfahrung von Rhythmus wiederum gibt Sicherheit und Halt und ermöglicht die Erfahrung und Entwicklung von Grenzen und Abgrenzungen. Gemeinsam bilden Wärme und Rhythmus, gleichsam Inhalt und Form, auch die Basis für das Erleben des eigenen Körpers und damit für die Selbstwahrnehmung als ganze, erfüllte und eigenständige Wesen.

Konstanz als dritte grundlegende Qualität festigt die Erfahrungen von Wärme und Rhythmus, macht sie beständig. Konstanz bildet die solide Basis von Urvertrauen im Sinne Eriksons, ermöglicht Bindungsfähigkeit und befähigt uns zu Kontinuität und Beständigkeit in den komplexen emotionalen Beziehungen und Bindungen, die Teil eines reifen und erfüllten Lebens sind.

Frühe körperliche und damit eigentlich ganzheitliche Erfahrungen, im Speziellen also die Erfahrungen von Wärme, Rhythmus und Konstanz, bilden so die Basis unseres psychophysischen Kerns und regulieren unser Selbstverständnis und unseren Selbstwert. In der späteren, größeren Differenzierung zwischen Körper und Psyche/Geist (Desomatisierung nach Max Schur) prägt dieser basale (narzisstische) Kern die Art und Weise, wie wir auf die Welt zugehen, mit ihr kommunizieren, in und mit ihr leben.

Und gerade auf diese frühe nonverbale Ebene der Begegnung mit unmittelbarer körperlicher (coenästhetischer) Kommunikation begeben wir uns mit Shiatsu und haben damit die Möglichkeit an frühe Erfahrungen (Potentiale, Ressourcen ebenso wie Konflikte und Defizite) anzuknüpfen und Entwicklungsvorgänge anzuregen. Eine wesentliche Voraussetzung ist hier allerdings, dass der respektvolle Umgang mit der KlientIn gegeben ist, dass die Hinwendung zur Klientin und die Kommunikation mit ihr einfühlsam erfolgt. Von besonderer Bedeutung ist hier der achtsame, der KlientIn angepasste und zugleich auch authentische (kongruente) Umgang der Shiatsu-PraktikerIn mit der KlientIn und sich selbst. Grundvoraussetzung dafür ist ein hohes Maß an Selbstwahrnehmung und Selbsterfahrung, um die Defizite, Konflikte und Grenzen der KlientIn wahrzunehmen und beachten zu können.

Wichtig sind also sowohl die Fähigkeiten der Shiatsu-PraktikerIn zur Selbst- und Fremdwahrnehmung, die durch spezifische Settings gefördert und angeleitet werden kann und soll, wie auch die Fähigkeiten und Möglichkeiten der Shiatsu-PraktikerIn, ihre Lebenssituation befriedigend zu gestalten. Aus der psychotherapeutischen Praxis ist nämlich klar ersichtlich, dass ein hohes Maß an unbefriedigten Wünschen, an Frustrationen und Sehnsüchten auf Seiten der TherapeutIn (Shiatsu-PraktikerIn) zu deutlichen Verzerrungen der Wahrnehmung führen kann – und damit zu Grenzüberschreitungen und Verletzungen auf Seiten der KlientInnen.

Die Mechanismen, die diesem Geschehen zu einem wesentlichen Teil zu Grunde liegen, werden in der psychoanalytisch orientierten Therapie als Übertragungen und Gegenübertragungen beschrieben und bringen eine große Gefahr des Agierens mit sich, die Gefahr des unbewussten Auslebens von Wünschen und Phantasien, die ihren Ursprung nicht in der gegenwärtigen Situation haben.

In der Arbeit mit Menschen bedeuten deshalb Selbsterfahrung und Selbstreflexion die Basis professionellen Handelns. Ohne reflektierte Erfahrungen ist eine Unterscheidung zwischen den verschiedenen Impulsen und Motiven, die in uns wirksam werden, kaum möglich. Einzig die persönliche Erfahrung und die Bewusstmachung eigener Konfliktpotentiale, Ängste und Defizite schützen uns und unsere KlientInnen vor den oft verletzenden und schmerzlichen Grenzverletzungen, Überforderungen und Verstrickungen in Übertragungen und Gegenübertragungen.

Die eigene Psychohygiene, die Wahrnehmung und Reflexion von eigenen Bedürfnissen, Problemstellungen und „blinden Flecken“ (z.B. in Selbsterfahrung und Supervision) ist deshalb für Shiatsu-PraktikerInnen – insbesondere, wenn sie begleitend mit Shiatsu im psychisch-emotionalen Bereich arbeiten – ebenso wichtig wie auch die emotional-befriedigende Gestaltung der eigenen Lebenssituation, um nicht übermäßig unter emotionalen Druck zu geraten.

Wie können wir psychisch-emotionale Prozesse mit Shiatsu bestmöglich unterstützen?

Für die zweite Frage, nämlich wie wir mit Shiatsu die psychisch-emotionale Entwicklung möglichst gut unterstützen können, möchte ich vorab festhalten, dass Shiatsu keine Form der Psychotherapie ist, denn dazu bedürfte es einer zumindest zusätzlichen therapeutischen Ausbildung wie auch eines entsprechenden rechtlichen Rahmens.

Als Ergänzung hingegen, zur Unterstützung von Psychotherapie – und nicht als deren Ersatz – ist Shiatsu gut geeignet. Durch die Mobilisierung des Energieflusses, das Erleben von körperlicher Entspannung & Loslassen, die Einbeziehung körperlicher Selbstwahrnehmung, das Eintauchen in eine tiefe, coenästhetische Kommunikationsebene (unter Einbeziehung basaler Prinzipien wie Wärme, Rhythmus und Konstanz), die Erfahrung von Nähe und Grenzen u.ä.m. vermag Shiatsu die psychotherapeutische Arbeit gut zu unterstützen (siehe auch Ze´ev Bergman et al.). Es ist aber zu beachten, dass die Shiatsu-PraktikerIn hier mit einer sensiblen Begegnungssituation konfrontiert ist. Es ist von großer Wichtigkeit für die Behandlung, dass die Shiatsu-PraktikerIn den therapeutischen Prozess versteht und nicht mit der KlientIn gemeinsam zu „agieren“ beginnt. Damit würde die psychotherapeutische Behandlung erschwert oder unter besonders schwierigen Umständen sogar unmöglich gemacht. Wichtig sind ferner, klare (persönliche und behandlungsmäßige) Grenzen, eine möglichst gleich bleibend annehmende, empathische Grundhaltung und eventuell sogar – in Rücksprache mit der KlientIn – Kontakt mit der behandelnden TherapeutIn, etwa um die Shiatsu-Sitzungen besser auf den Behandlungsverlauf abstimmen zu können oder auch um eine momentane Situation der KlientIn besser zu verstehen und unterstützend auf sie eingehen zu können.

Aus der Vielzahl möglicher Ansatzpunkte für Shiatsu als Begleitung professioneller Psychotherapie möchte ich exemplarisch nur ein paar Aspekte herausgreifen. So verhilft Shiatsu manchen KlientInnen zu wichtigen Erfahrungen des Loslassens, Geschehen-Lassens, Passiv-Seins, Annehmens und Entspannens. Darüber hinaus hat Shiatsu das Potential, grundlegende Qualitäten wie Wärme, Rhythmus und Konstanz, auf die die spätere Entwicklung gleichsam als Basis zugreift, in der nonverbalen Begegnung vermitteln zu können – und diese Stärkung unterstützt auf einer basalen, nonverbalen Ebene mitunter ganz wesentlich die therapeutische Arbeit.

Ein weiterer wichtiger Aspekt von Shiatsu beruht auf der körperlichen Selbsterfahrung, dem unmittelbaren Erfahren von Körpergrenzen sowie der Wahrnehmung oberflächlicher und tiefer Strukturen des Körpers. Kurz gesagt, fördert Shiatsu ein intensives Erleben des eigenen Körpers und die Ausbildung eines differenzierten Körperbildes.

In der Arbeit mit Shiatsu zur Unterstützung psychisch-emotionaler Entwicklung wie auch Konfliktbearbeitung aber ist, um es nochmals zu betonen, neben einem notwendigen Verständnis von psychischen/seelischen Erkrankungen als Strukturen der Kommunikation insbesondere ein hohes Maß an Reife und (Selbst-) Erfahrung notwendig. Anderenfalls läuft man Gefahr, die eigenen Probleme im Sinne der Übertragung der KlientIn aufzubürden. Und nicht vergessen sollte man, dass die Arbeit mit Shiatsu eine manchmal hohe Belastbarkeit voraussetzt, die Fähigkeit, auch schwierige Begegnungen tragen und ertragen zu können ohne die offene und empathische Haltung gegenüber der KlientIn zu verlieren.


Literatur

  • Bartl, Günther: Der Umgang mit der Grundstörung im Katathymen Bilderleben. In: J.W. Roth: Konkrete Phantasie. Verlag Hans Huber, Bern 1984.
  • Bartl, Günther: Strukturbildung im therapeutischen Prozess. In: G. Bartl & F. Pesendorfer: Strukturbildung im therapeutischen Prozess. Literas Universitätsverlag, Wien 1989.
  • Bergman, Ze´ev, Eliezer Wizum und Tamar Bergman: When Words Lose Their Power. Shiatsu als a Strategic Tool in Psychotherapy. In: Journal of Contemporary Psychotherapy Vol. 21, No. 1, 1991, S. 5 – 23.
  • Spitz, Rene A.: Diacritic and coenaesthetic organizations. In: Psychoanal. Rev. 32, 1945.
  • Spitz, Rene A.: Vom Säugling zum Kleinkind. Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 1992 (10. Auflage). Originalausgabe: The First Year vo Life, 1965.
  • Stern, Daniel N.: Die Lebenserfahrung des Säuglings. Verlag Clett-Cotta, Stuttgart 1992 (2. Auflage).

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at). Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes „Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental” 2004.