Krebs und unser kollektives Denken darüber (Ursula Eva Pellio)

Krebs, das ist ein Thema, das mich seit meiner Kindheit begleitet, weil es im engen Familienkreis häufig Krebserkrankungen gab und gibt. Heute kommen viele Menschen mit Krebserfahrung in meine Praxis.

Ich möchte hier nicht darauf eingehen, wie ich Shiatsu praktisch anwende und welche Empfehlungen ich gebe. Vielmehr möchte ich Euch, liebe Kolleginnen einladen, mit mir über den gesellschaftlichen Diskurs über Krebs nachzudenken.


Warum und wie mich das Thema umtreibt

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Als Kind habe ich erfahren, dass mit dem Aussprechen des Wortes KREBS gleichsam ein Todesengel den Raum betritt. Das Wort selbst wurde kaum in den Mund genommen, es wurde eher von DIESER Krankheit gesprochen, es wurde umschrieben, es wurde vermieden es auszusprechen. Ist es erst einmal ausgesprochen, dann scheint eine Realität hinzu zu kommen, der Verlauf scheint unausweichlich, eine große Bedrohung. Mich als Kind blickten plötzlich Augen von Nachbarn an, die sagten: „Du armes Kind mußt jetzt sehr tapfer sein, etwas Schlimmes wird passieren!” Welch eine unnötige Last über viele Jahre, die mein weiteres Leben und meine Berufsentscheidung beeinflusst hat. Ich schreibe hier .unnötige Last’, weil meine Mutter, die damals Krebs hatte, noch viele Jahre gelebt hat. Aber ich habe das Damoklesschwert, die Angst, die Bedrohung immer gespürt.

Später, als ich zu Vorsorgeuntersuchungen ging und routinemäßig nach sogenannten „familiären Belastungen” gefragt wurde, und ich ehrlich antwortete, dass Krebserkrankungen in meiner Familie tatsächlich gehäuft vorkommen, trafen mich schon wieder besorgte, ernste Blicke. Je nach Mentalität des Arztes wurden dann weitere Empfehlungen und Vorsorgemaßnahmen ausgesprochen.

Ich dachte:” Naja, dieser Häufung und diesem Schicksal kann ich ja kaum begegnen / entkommen.” Angst und Sorge machten sich breit. Wir wissen jedoch, dass Angst und Sorge das Leben behindern. Aber wie sollte ich es anstellen, keine Angst mehr zu haben? Es ist ähnlich schwierig, wie beim Meditieren nicht an einen rosa Elefanten zu denken. Später habe ich bei Arztbesuchen diese Fragen einfach verneint.

Gott sei dank fiel irgendwann die Erkenntnis in mich: „Krebs ist AUCH eine Krankheit.” Das AUCH beinhaltet ein „wie andere Krankheiten”. Das war für mich eine Erlösung – ein Tor zum Leben ging auf. Ich lebe seitdem fast frei von diesen Angst machenden Gedanken.


Vom Persönlichen zum Allgemeinen

Vielleicht bin ich durch diese sehr persönliche Geschichte sensibler geworden, gesellschaftlichen Haltungen und Signale den Menschen mit Krebserkrankung gegenüber. In meiner Praxis und im persönlichen Umfeld erlebe ich es oft, dass sich nach der Diagnose „Krebs” sowohl die Welt der Person mit Krebserkrankung als auch die Umwelt radikal ändern. Wieder schweben die Todesengel mit im Raum, wenn darüber gesprochen wird. Oft wird hinter dem Rücken der Betroffenen gesprochen, getuschelt, über drei Ecken nach dem Befinden gefragt, statt die Person selbst zu fragen. Es setzt sofort ein Mechanismus ein, der Themen umschifft, ausspart…bis hin zu Kontaktvermeidung (aus Unsicherheit oder aus welchen Gründen auch immer).

Für die Betroffenen ist die Diagnose oft so ein Schock, dass sie kaum mehr klare Gedanken fassen können. Es ist dann ein Glück, wenn sie an besonnene und reflektierte Ärztinnen und Therapeutinnen geraten.


Die gesellschaftliche Dimension

Ich möchte zurückkommen auf die gesellschaftliche Dimension: Was sagt unser kollektives Denken zum Thema Krebs?

  • es ist eine lebensbedrohliche Erkrankung
  • es ist ein schweres Schicksal
  • es ist mit viel Leid und Schmerz verbunden
  • es ist ein Tabuthema

Wir arbeiten im Shiatsu mit dem Ki, der Lebensenergie des Menschen.

Welchen Einfluss unser Denken auf unser Ki hat, haben wir alle längst erfahren. Wenn wir über Krebs denken, dass er unser Leben bedroht, dass er unser Schicksal sein kann usw., wie wirkt sich das dann auf den Verlauf der Krankheit aus?


Zwei Beispiele

  • Vor einigen Tagen ging ich  plaudernd, leichtfüßig… spazieren. Da sehen mein Begleiter und ich Bekannte in ein Radiologisches Institut gehen, die Reaktion meines Begleiters war sehr eindrücklich, seine Stimme veränderte sich, sank in den Keller und er sagte: „Oh das bedeutet meist nichts Gutes, wenn man durch diese Tür geht”. Ja, so ist es, wir erwarten meist nichts Gutes bei allem was mit dem Thema Krebs zu tun hat.

Wie das in diesem Fall sehr deutlich wird. Wir hatten keine Ahnung, was die Bekannten dort in diesem Haus machen, ziehen aber schon gedankenschwere Rückschlüsse. Und ich sag’ es mal überspitzt: „Vielleicht waren sie einfach zum Kaffeetrinken verabredet”.

  • Am nächsten Tag saß ich in einer fröhlichen Frühstücksrunde. Der Mann einer Teilnehmerin hat gerade die Diagnose Krebs bekommen. Ich fragte die Freundin im 2er Gespräch, wie es ihrem Mann gehe.       

Später, kaum hatte die Freundin die Runde verlassen, fragten mich die anderen Teilnehmerinnen in einer tiefen besorgten Tonlage, fast flüsternd, wie es denn jenem Mann gehe. Man hatte sich nicht getraut, die Freundin persönlich anzusprechen.

Diese beiden Beispiele stehen für hunderte.

Ich frage nochmal: Was ist mit unserem kollektiven Denken über das Thema? Wie beeinflusst dieses Denken die Krankheit, den Krankheitsverlauf?

Ich habe keine gesicherten Erkenntnisse über das WIE. Ich kann nur aus meiner Erfahrung sagen, DASS es Einfluss darauf hat.


Zwei Gegenbeispiele

  • Eine sehr gute Freundin hatte vor einigen Jahren Krebs. Sie ist zu unserer aller Erstaunen  damit ganz ruhig umgegangen. Sie sagte: „Ich tue jetzt, was zu tun ist und dann ist es gut”. Ja und so ist es gekommen. Als ich kürzlich noch einmal mit ihr über ihre Erfahrungen sprach, sagte sie, dass sie zu keinem Zeitpunkt daran gedacht hatte, sie würde an dieser Krankheit sterben. Das kam klar und überzeugend.
  • Ein Familienmitglied hat eine sehr schwere Krebserkrankung. Natürlich gingen in unserer Familie die alten Alarmglocken an. Jede/r reagierte mit den Verlustängsten und Sorgen aus der Kindheit, mit gut gemeinten Rat- und Vorschlägen.

Der Betroffene aber geht beharrlich SEINEN Weg. Er hat seine Art, das Leben zu leben, jeden Tag. Er hat sich selbst ermächtigt, seinen EIGENEN Weg zu gehen. Und – so fühle ich es von außen, da sind sehr bewusste und genussvolle Tage dabei, manchmal sind die Tage schwer, und manchmal ist es das ganz normale Leben, das gelebt werden will. Der Krebs hat sich entschieden zu schlafen. Ich sehe vor mir einen gut aussehenden Mann, der viele interessante Teile des Lebens aktiv gestaltet. Ein Teil davon ist die Diagnose Krebs – aber eben nur ein Teil davon. Sicher war ein wichtiger Schritt, die mentale Veränderung und sich alternativen, ergänzenden Therapien zu öffnen. Die Angst in ihre Schranken zu weisen, die Angst, die das Leben lahmt, die die Energie stagnieren lässt. Und sicher ist auch, dass wir als Familie viel lernen, im Akzeptieren, im Lassen, im Nahesein und im ganz normalen Begrüßen wie: „Na, wie geht’s?” Einfach so, wie wir Menschen uns fragen, nicht bedeutungsschwanger und schicksalsschwer. Ich erlebe einen Menschen, der sich auf Neues einlässt, der Shiatsu genießt, der Zeit hat für seine Enkelkinder und diese Zeit freudvoll teilt. Und ich sehe auch, wie das Ki durcheinander kommt, sich zurückzieht, wenn die nächste Untersuchung ansteht, wenn der Medizinbetrieb wieder nur auf den Krebs schaut und nicht den ganzen Menschen betrachtet, sondern Werte abfragt, kontrolliert usw.

Ich kehre wieder zu meiner Erfahrung zurück, die ich mit Menschen mache, die in meine Praxis kommen. Sie sind oft verschreckt, geschockt, verletzt, mit ihrem Ki am Boden.

Wie hilfreich ist es für diese Menschen, wenn ich nicht auch noch verschreckt und geschockt reagiere, sondern ruhig und präsent bleibe, ihnen einen Raum eröffne, in dem sie offen sprechen können. Sie müssen mich nicht schonen, auf mich aufpassen, weil ich mich nicht ängstige, sondern einen inneren Heil-Raum anbiete. Weil ich die Haltung habe: Ja, Krebs ist auch eine Erkrankung. Punkt.

Ein energetisch sensibles Feld ist die Zeit, wenn wieder Kontrolluntersuchungen anstehen. Ich beobachte, dass die Menschen schon in der Zeit vorher wieder in Aufregung und Angstzustände kommen. „Was wird mich erwarten?” ist die alles überschattende Frage. An diesem Punkt kommt es sehr häufig zu Ki-Einbrüchen. Und braucht es nicht gerade in solchen Situationen ein starkes, aktives Ki? Lange Zeit hat mich die Frage umgetrieben: „ Wie kann ich als Shiatsu-Praktikerin da unterstützen?” Manchmal war ich richtig frustriert darüber, dass ein Tag Klinikaufenthalt manche Menschen so umhaut. Ich dachte, das macht unsere gemeinsame Shiatsu-Arbeit zunichte. Aber: war ich da nicht mit meinem Ego…., hatte ein Wollen in mir, habe ich da nicht Verantwortung übernommen, die ich gar nicht habe? Die Frage ist für mich noch nicht endgültig beantwortet, sie arbeitet noch in mir. Ich kann nicht gleich den ganzen Medizinbetrieb umkrempeln. Inzwischen hilft mir das Bild, dass es vielleicht für das Ki das Beste ist, für diesen Tag mal in Deckung zu gehen, sich selbst zu schützen.


Kollektives und individuelles Denken

Vielfach erleben Menschen mit Krebserkrankungen eine große Isolation. Es wird zu einem individuellen Schicksal. Ich frage: „Wie können wir diesem Thema wirklich begegnen? Wie können wir antworten auf diese Fragen des Lebens?” Ich möchte zur Diskussion stellen, ob wir mit unseren Gedanken hilfreich unterstützen können.

Damit meine ich überhaupt nicht: Wende positives Denken an und alles wird gut.

Aus dem Shiatsu wissen wir, dass das Ki dorthin geht, wohin unsere Aufmerksamkeit geht.

Wenn wir sowohl als Kollektiv als auch als Individuen unser Denken auf Krebs und Krankheit richten, wird dann das Thema immer größer?

Oder ist unser Denken hilfreich, wenn wir es ausrichten auf Gesundheit, Lebensfreude, Vitalität?

Und bitte, versteht das nicht falsch, ich meine nicht dieses Denken, mit dem manchmal Menschen mit Krebserfahrung noch zusätzlich verletzt werden: „Denkst Du auch richtig? Ernährst Du Dich richtig? Meditierst Du auch richtig?” Als ob es daran liegen würde, das Richtige zu tun und zu denken? Dann würden wir uns in alten Schuldmustern bewegen. Ein altes Indianerwort kann uns da eher zur heilsamen Haltung werden:

„Alles was uns begegnet ist Medizin”.

Was bedeutet das dann für uns alle? Welche Medizin kann das sein, die wir da manchmal schlucken müssen, wenn Krankheit uns trifft, uns persönlich, uns in der Familie, im Bekanntenkreis, uns in der Gesellschaft? Wenn wir in TAO Dimensionen denken, dann ist Krankheit eine Erinnerung an unserer Gesundheit. Und was ist Gesundheit? Ist es Wohlergehen? Wohlfühlen? Ganzheit? Einheit? Und hat in dieser Einheit auch Krankheit Platz? Ist unser Denken dafür groß genug?

Ich wünsche es mir, dass unser Denken sich dorthin ausweitet, dass alle Erscheinungsformen des Lebens darin wohnen können.

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© Ursula Eva Pellio, Shiatsu-Lehrerin GSD, Koblenz