Sage mir, was du isst …

Essen ist zunächst eine natürliche Reaktion des Körpers auf Hunger, und viele Aspekte des Essens sind biologisch determiniert. So essen Alte anders als Kinder, Kranke anders als Gesunde, Männer anders als Frauen. Auch Hormone, Allergien und Eigenheiten des Stoffwechsels spielen eine Rolle bei der Auswahl der Lebensmittel.

Ernährung bedeutet aber längst nicht nur Nahrungsaufnahme, und die biologischen Faktoren allein erklären nicht, auf welche Art und Weise wir uns ernähren. Unsere Art zu essen ist vielmehr in vielen Bereichen ein erlerntes Verhalten. Zu Beginn unseres Lebens sind es die Eltern, von denen wir Aversionen und Vorlieben lernen. In Kindheit und Jugend folgen dann verschiedene „Moden“ wie beispielsweise Fast Food als Abgrenzung von der elterlichen Küche oder Vegetarismus bei Jugendlichen, die sich im Tierschutz engagieren. Aber auch Erwachsene gehen durch verschiedene Phasen: Makrobiotik und Fünf-Elemente-Ernährung, wechselnde Diäten zur Erhaltung der Figur, alternative Ernährungsformen bei Gesundheitsbewussten u.ä.m. Alle diese Stile dienen letztlich immer auch der Integration in eine Clique oder soziale Gruppe. Hinter dem, was und wie wir täglich essen, stehen, je älter wir werden, zunehmend Vorstellungen von gutem Geschmack, Gesundheit, Fitness und Leistungsfähigkeit, Ökologie und gesellschaftlichen Unterschieden.

Schon 1948 beschrieb die Psychoanalytikerin Charlotte Babcock die emotionale Bedeutung des Essens. Sie zeigte, dass Essen unter anderem auch dazu benutzt wird, um soziale Sicherheit und gesellschaftliche Anerkennung zu erlangen. Menschen neigen dazu, so Babcock, bestimmte Lebensmittel regelrecht als Attribute der eigenen Persönlichkeit aufzufassen, wie z.B. Bioprodukte für den alternativen Lebensstil oder Austern und Trüffel für den exquisiten Lebensstil. Ernährung dient so der sozialen Identifikation und Gruppenkonformität.

Essen ist ein Teil des allgemeinen Konsumstils geworden und drückt, wie Kleidung oder die Wohnungseinrichtung, unsere Lebenseinstellung aus. Wir unterscheiden uns damit bewusst – oder unbewusst – von anderen Generationen und Schichten. Auch das Weltbild und die Kultur, in der man aufwächst, prägen ebenso wie Ernährungsempfehlungen den Ernährungsstil.

Neben Bildung und sozialem Status spielt auch das Einkommen eine entscheidende Rolle für die Wahl der Lebensmittel. So zeigen mittlere und obere Einkommensschichten eher Ernährungsstile, die den allgemeinen Empfehlungen für gesundes Essen folgen. Je niedriger hingegen das Einkommen, umso ungünstiger – so eine Untersuchung von Ingrid-Ute Leonhäuser & Stephanie Lehmkühler vom Institut für Ernährungswissenschaften der Universität Gießen – fällt die Ernährung aus und umso häufiger treten auch ernährungsbedingte Erkrankungen auf.

Am Image und am Prestige von Nahrungsmitteln und damit auch an Ernährungsstilen arbeitet auch die Werbung kräftig mit. Die Medien appellieren an „unser Bedürfnis nach Prestige, Gruppenzugehörigkeit, Spaß und Wohlbefinden. Und sie locken vor allem für Ungesundes“ (Hans-Werner Prahl, Soziologe an der Universität Kiel). Diese Einflüsse können letztlich sogar stärker sein als die kulturelle Verwurzelung und Einflüsse aus der Herkunftsfamilie. So isst ein Großteil der US-Amerikaner Hamburger, obwohl viele von ihnen aus Kulturen stammen, in denen diese Speisen unbekannt sind.

Ernährungswissenschaftler erwarten eine weitere Veränderung der Ernährungsstile durch verschiedene Faktoren wie Lebensmittelskandale (z.B. BSE, Futtermittelskandale u.ä.m.), Probleme und Unsicherheiten mit genmanipulierten Nahrungsmitteln wie auch soziale Veränderungen (z.B. Verschiebung der Altersstruktur, zunehmende Berufstätigkeit von Frauen, wachsende Kluft zwischen Arm und Reich, steigende Zahl von Singlehaushalten, größeres Spektrum des Lebensmittelangebotes u.ä.m.).

Forschungen legen die Vermutung nahe, dass das Bedürfnis des Verbrauchers zunehmend dahin geht, dass die Nahrung Gesundheit, Genuss und Bequemlichkeit (convenience) bietet. „Lecker, schnell und gesund“ soll die Nahrung der Zukunft sein. Dieses Ideal scheint allerdings derzeit nicht verwirklicht. In einer Studie des Iglo-Forums geben 32 Prozent der Konsumenten an, vor allem „Lustesser“ zu sein, nur 21 Prozent sind gesundheitsbewusst. 14 Prozent der Befragten sind „rationale Esser“ und 13 Prozent „Genussmenschen“, die vor allem zu hochwertigen Produkten greifen. Insgesamt sind 10 Prozent der Konsumenten, so legen die Studien nahe, sehr ernährungsbewusst und weitere 10 Prozent genau das Gegenteil, nämlich „ernährungsunbewusst“. Die Mehrheit der Konsumenten hingegen scheint eine Balance zwischen Gesundheit, Geschmack, Preis und Bequemlichkeit zu suchen.


Quelle

Psychologie Heute, November 2002