Shiatsu – ein horizontales Gewerbe. Gedanken zur berufspolitischen Situation in Deutschland (Ulrike Schmidt)

In den letzten Jahren ist eine rege Diskussion um die rechtliche Befugnis entbrannt, ob Shiatsu am gesunden Menschen ausgeübt werden darf, auch wenn der oder die Praktizierende nicht Ärztin oder Heilpraktiker ist. Unsicherheit, Angst und Panik sind entstanden: Darf ich das? Wozu habe ich eigentlich die Ausbildung gemacht? Ist das rechtens? Was ist überhaupt Recht? Ist es das, was in den Gesetzen verankert ist? Ist Recht ein statischer Zustand? Was können wir tun?


… Gesetze definieren nicht das Leben

Nun, zunächst ist Recht kein statischer Zustand. Es ist eine Aussage darüber, was von Menschen zu bestimmten Zeiten als rechtens empfunden wird und diese Rechtsauffassungen sind in entsprechenden Gesetzen verankert.  Letztendlich immer zum Wohle und zum Funktionieren der Gesellschaft. Manchmal entspricht jedoch das, was in den Gesetzen steht nicht mehr dem ursprünglichen Gedanken, der das Gesetz hat entstehen lassen.

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War zum Beispiel vor einigen Jahrzehnten Homosexualität in Deutschland noch strafbar, so ist es das nun nicht mehr. (Mittlerweile werden sogar Eheschließungen zwischen Gleichgeschlechtlichen von einigen Bundesländern befürwortet. Ein entsprechender Gesetzesbeschluss liegt noch nicht vor.) Also ist damals jemand für ein Tun verfolgt worden, weil es früher so “Recht” war. Heute ist aus “Unrecht” “Recht” geworden. Die Zeiten haben sich geändert. Ein anderes Beispiel: Töte ich einen Menschen aus Habgier oder Eifersucht, ist es strafbar. Töte ich jemanden auf Anweisung, z.B. durch Gerichtsbeschluss – wie in einigen Ländern üblich – oder im Krieg, so ist es nicht strafbar. Interessant bei diesen Beispielen ist, dass die Handlung die gleiche ist, die Ansicht über die Rechtsfrage jedoch unterschiedlich ausfällt.

Es gibt Richtlinien zu Gesetzen, Kommentare und Durchführungsverordnungen. Es gibt darüber hinaus Gerichtsurteile, meist Einzelfallurteile, die Recht sprechen. Urteile sind keine Gesetze per se. Es sind sozusagen Interpretationen.  Gesetze entwickeln sich, haben sich immer entwickelt und werden sich auch immer weiterentwickeln. So gesehen unterliegen Rechtsgestaltungsprozesse auch energetischen Prinzipien: starre, veraltete, nicht mehr dem Leben und der Gesellschaft angemessene Gesetze können sich langfristig nicht halten. Gesetze passen sich an das Leben an, an das, was das Volk (bzw. deren Vertreter) für Recht hält. Änderungen von Gesetze oder Paragraphen sind auf Grund des deutschen Gesetzgebungsverfahren meist nur langsam, zäh und mühsam durchsetzbar. Aber möglich.

Gesetze definieren nicht das Leben.


… das “Kosmetikerinnenurteil”

Im Jahre 1996 hat der Senat des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts[1]Beschluss des 8. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht vom 26.2.1996 einer geprüften Kosmetikerin die Ausübung von Shiatsu/Akupressur untersagt, da diese Tätigkeit als Ausübung der Heilkunde im Sinne des Heilpraktikergesetz (HP-Gesetz) zu verstehen sei. Dieser Beschluss setzte m.E. erstmalig neue “Maßstäbe”, da er zu den ersten gehörte, die sich mit “Shiatsu-Massage” beschäftigten. Obwohl die Richter durchaus besonnene und sinnige Gedankengänge ausformulierten, die ihren Beschluss bekräftigten, darf nicht übersehen werden, dass auch hier ein Einzelfall verhandelt wurde. Eine geprüfte Kosmetikerin hatte ein (!) Seminar in Shiatsu/Akupressur an der Thalamus-Heilpraktikerschule absolviert. In ihren ursprünglichen Werbeblättern hat sie Formulierungen verwendet, die auf eine Heilbehandlung von bestimmten Krankheitsbildern wie Rückenschmerzen, Bandscheibenbeschwerden, Ischias, Kopf- oder Nackenschmerzen schließen ließen. Daraufhin ist das örtliche Gesundheitsamt tätig geworden. Die Beschreibung ihrer Tätigkeit in der Broschüre stellte sozusagen eine Provokation für das Gesundheitsamt dar, es war der “Schlüsselreiz”, die Behörde musste einfach tätig werden.

Deutlich drückt sich in diesem Urteil auch das Verständnis der Richter über Shiatsu aus, besser gesagt das Nicht-Verstehen von dem, was Shiatsu eigentlich ist. Das Shiatsu, was in dem Beschluss beschrieben ist, es ist eine Ableitung aus Definitionen, die im Brockhaus und anderen Werken zu Akupressur, Akupunktur und Shiatsu stehen. Das ist nicht “mein” Shiatsu, wie ich es verstehe!


… spüren, woher der Wind weht

Gesundheitsbehörden müssen tätig werden, wenn sie den Verdacht haben, dass gegen das Heilpraktikergesetz verstoßen wird. Das Interesse hinter dem Gesetz ist, die Bevölkerung vor “Kurpfuschern” zu schützen. Ich habe eine Berufshaftpflichtversicherung, die mich als Shiatsu-Therapeutin und Shiatsu-Lehrerin versichert hat. Dafür brauche ich nicht die Heilerlaubnis nach dem HP-Gesetz nachzuweisen. Das Interesse der Versicherung ist ein anderes, als das der Gesundheitsämter, es ist finanzieller Natur.

Ebenso das Finanzamt, dem ich meine Einnahmen aus Shiatsu-Behandlungen erkläre. Es interessiert den Fiskus nicht, ob diese Tätigkeit mit anderen Gesetzen eventuell nicht konform ist. Der Heilpraktikerverein “Freie Heilpraktiker e.V.” strebt Verfahren an oder beauftragt sie, gegen Leute, die möglicherweise nicht berechtigt sind, die Heilkunde auszuüben. Hier geht es um Berufsstandswahrung. Zur Führerscheinprüfung muss jeder einen Erste-Hilfe-Kursus von wenigen Stunden nachweisen. Somit mache ich mich strafbar, wenn ich Hilfe verweigere, `Hand anlegen” unterlasse, denn es geht um das Leben eines anderen Menschen. Als Shiatsu-Lehrerin darf ich Techniken gegen Kopfschmerzen unterrichten, ausüben darf ich es nicht. Die Krankenkassen erstatten generell keine Kosten für Shiatsu-Behandlungen, da eine Wirksamkeit medizinisch nicht nachgewiesen ist. Hier geht es um Kostendämmung. Richter wiederum haben einigen wenigen Shiatsu-Praktikern die Tätigkeit untersagt, weil sie Shiatsu als Ausübung der Heilkunde verstehen. Sie kümmern sich um die Einhaltung der bestehenden Gesetze.


… ein Blick auf das horizontale Gewerbe

Benötigt eine Prostituierte die Erlaubnis nach dem Heilpraktiker-Gesetz, um praktizieren zu dürfen …?

Angenommen, ich würde in meinem kleinen Shiatsu-Raum als Prostituierte arbeiten. Ist das nicht in jedem Fall eine wesentlich tiefere, intimere und dynamischere Interaktion mit einem Klienten, als ich das je als Shiatsu-Therapeutin habe? Gibt es einen wesentlichen Unterschied? Sex gegen Geld – Shiatsu gegen Geld – Berührung gegen Geld. Obwohl die mir zur Verfügung stehenden Techniken andere sind, tue ich nichts entscheidend anderes als eine Prostituierte. In beiden Fällen geht es darum, einen energetischen Zustand zu verändern. Es geht um Berührung, um Entspannung, um Zufriedenheit, um Wohlfühlen, ja, vielleicht verspürt sogar der Empfänger sogar einen heilenden Effekt (auch wenn ich keine Krankheit behandle) währenddessen oder hinterher. Wo ist der Unterschied, ob ich als Shiatsu-Therapeutin Fußreflexzonen stimuliere oder als Prostituierte die Penisreflexzonen?[2]Mantak Chia: TAO Yoga der Liebe, Ansata Verlag Bei beiden Tätigkeiten geht es dem Kunden auch um Verschmelzen, ein sich erinnern und sich erkennen, ein verstehen und verstanden werden, ja, es geht um Kreativität im Leben.

Kreativ bedeutet, etwas “Neues in das eigene SEIN zu integrieren”[3]Leon Hammer: Psychologie und Chinesische Medizin, Joy-Verlag, eine neue Erfahrung, eine neues Erleben, eine neue Erkenntnis. Dies ist der Stoff aus dem Shiatsu gemacht wird.

Prostitution mit kranken und behinderten Menschen ist nicht strafbar. Shiatsu machen mit einem gesunden Menschen soll strafbar sein? Ich gehe sogar noch weiter: darf ich einen Menschen mit einer Krankheit nicht berühren, selbst wenn ich keinen Einfluss auf die Krankheit ausüben will, sondern vielleicht nur unterstützen möchte, die Krankheit anzunehmen? Solange es nicht strafbar ist, dass Mütter ihren Kindern den Bauch streichen, Enkel ihren Großeltern den Rücken kraulen, Frisöre ihren Kunden den Kopf massieren und Prostituierte ihren Kunden geben, was sie möchten, solange werde ich Shiatsu in achtsamer und verantwortungsvoller Weise ausüben. Ohne Heilpraktikerin zu sein! Immerhin dürften schon mehr Menschen in den Betten von Prostituierten gestorben sein, als auf den Futons von Shiatsu-Praktikern.[4]Letzteres ist zumindest der Autorin nicht bekannt.


… ein Eigentor?

Im Rahmen der ESF (European Shiatsu Federation) ist ein Pilotprojekt für die Shiatsu-Forschungsstudie in England und Deutschland angelaufen. Sollte das Ergebnis sein, dass durch Shiatsu Linderung und Heilung von Beschwerden eintritt, ist dies ein wichtiger Meilenstein in der öffentlichen Anerkennung von Shiatsu. Weniger hilfreich ist dies zunächst für die Nicht-Heilpraktiker, wenn feststeht, dass Shiatsu eben eine Methode zur Heilung ist. Das mutet zunächst wie ein Eigentor an. Die GSD wird zwei Informationsfaltblätter ausarbeiten, die schon jetzt diese zwei verschiedenen Entwicklungen berücksichtigt: das “medizinische” Shiatsu und das Shiatsu, das nicht als Heilmethode ausgeübt wird.

Wir können uns mit den Verbänden von all den anderen Körperarbeitern zusammenschließen. Wie gehen die Rolfer, die Feldenkrais-Leute, diejenigen die Alexandertechnik ausüben damit um; die Reiki-Praktiker, die Atemtherapeuten, diejenigen die traditionelle Thaimassage ausüben; die Craniosacral-Therapeuten, die Jin Shin Jitsu – Anwender, die WATSU-Behandler? Eine übergeordnete Koordination verschiedenen “Bodyworker”- Gruppierungen geschieht zur Zeit im Rahmen der “Frankfurter Gespräche” an denen regelmäßig Raimund Schmelz-Bongard im Auftrag des Vorstands teilnimmt.

Holger Greinus hat einen interessanten Vorschlag entwickelt, nämlich einen so genannten “kleinen Heilpraktiker für Körperarbeiter” gesetzlich zu manifestieren, ähnlich wie es seit ein paar Jahren den kleinen HP-Schein für Psychotherapeuten gibt. Der Vorstand hat auch diese Idee aufgegriffen und befindet sich im Kontakt zu dem Anwalt, der maßgeblich an der Ausarbeitung des kleinen HP-Schein für Psychotherapeuten beteiligt war.

Wir benötigen mehr Öffentlichkeitsarbeit um aus unserer “Nische” herauszukommen, mehr Zusammenarbeit mit den anderen deutschsprachigen Ländern, wo Shiatsu bereits eine größere Anerkennung besitzt, vor allem tut uns gut, ein gesundes Selbstverständnis über Shiatsu zu entwickeln, darüber, was Shiatsu sein kann, wie wir es benutzen, natürlich auch, wo es seine Grenzen hat.

Und bei alledem sollten wir nicht übersehen, dass, über alle juristischen Spitzfindigkeiten und brillianten Rechtsauslegungen hinaus, es um eines geht: um das große Wunder Mensch zu sein, sich als solcher zu erfahren, das Leben zu begreifen und die Lebendigkeit zu feiern. Tag für Tag. Wir alle.

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© Ulrike Schmidt, Jahrgang 1960, Diplomierte Finanzwirtin, Lehrerin für Shiatsu und Qi Gong. Mitbegründerin der Berliner Schule für Zen Shiatsu. Goltzstr. 23, D-10781 Berlin. Tel.: +49 (030) 216 11 05, Fax: +43 (030) 217 569 47, http://www.zenshiatsu.de (veröffentlicht im Shiatsu Journal Nr. 26, Sommer 2001)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Beschluss des 8. Senats des Niedersächsischen Oberverwaltungsgericht vom 26.2.1996
2 Mantak Chia: TAO Yoga der Liebe, Ansata Verlag
3 Leon Hammer: Psychologie und Chinesische Medizin, Joy-Verlag
4 Letzteres ist zumindest der Autorin nicht bekannt.