Shiatsu ist Begegnung und Berührung (Eduard Tripp)

Das Verständnis des menschlichen Lebens und des menschlichen Organismus überhaupt, das der Praxis des Shiatsu zugrunde liegt, ist, um es modern auszudrücken, die Vernetzung aller “Teile” (Organe, Körperbereiche, geistige und emotionale Phänomene) des individuellen Organismus zu einem Ganzen. Kein Organ, kein Körperteil, keine Empfindung wird isoliert für sich betrachtet und verstanden, sondern immer als Ganzes, in Verbindung und in Wechselwirkung mit den anderen Teilen und Erscheinungen des Individuums. Das Ganze ist mehr als die Summe seiner Teile, so hat die Gestaltpsychologie zu Anfang unseres Jahrhunderts bei uns im Westen ähnliche Überlegungen zusammengefasst und meint damit, dass beispielsweise die Funktionseinheit des Körpers grundsätzlich über eine Summierung der einzelnen Eigenschaften, Äußerungen und Möglichkeiten seiner Teile hinausgeht.

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Das fernöstliche Verständnis des menschlichen Lebens geht jedoch über die systemische Betrachtung des Organismus noch hinaus. Der Mensch als – ganzes – Individuum ist zudem eingebettet in die Vorgänge des Universums. Der Mensch wird als integraler Bestandteil des Kosmos verstanden. Himmel, Erde und Mensch bilden zusammen eine weitere Ganzheitlichkeit. Es sind die gleichen Gesetzmäßigkeiten, denen Himmel und Erde – und damit auch der Mensch – unterworfen sind.

Jederzeit ist es möglich, in Harmonie mit sich und dem Kosmos zu leben, in jener Harmonie, die nach daoistischer Auffassung von Anfang an zwischen Himmel und Erde bestanden hat. Doch je mehr der Mensch diese durch allumfassende Gesetze geschaffene und gelenkte natürliche Ausgewogenheit verändert, in desto weitere Fernen entschwindet die Harmonie.

Das, was in allen Himmel- und Erdenerscheinungen wirkt, ist das Dao, der “Weg”. Die Welt, so der Daoismus, erteilt wertvolle Lehren, und was sie lehrt, muss befolgt werden, damit der Mensch in Harmonie mit sich und dem, was ihn umgibt, zu leben vermag: “Die Gesetze von Yin und Yang zu befolgen, das bedeutet Leben; ihnen zuwider zu handeln, das bedeutet Tod” (Huang Di Nei Jing). Ganz konkret bedeutet das auch, dass der einzelne eingebettet ist in die geographischen und klimatischen – letztlich aber auch sozio-kulturellen – Bedingungen seiner Umwelt und dass er sich diesen Bedingungen unterordnen, sich in sie einfügen muss, um seine Ganzheit und damit seine Gesundheit zu bewahren.

Ist Harmonie innerhalb des Organismus gegeben und ist der Mensch zugleich auch in Harmonie mit der Welt und dem “Gesetz”, dem Dao, dann ist er gesund und abwehrkräftig und kein Übel vermag in ihn einzudringen. Das Wesen einer Erkrankung macht nämlich nicht so sehr das Eindringen (des Erregers, eines Virus beispielsweise) aus, sondern in erster Linie die Schwäche, die dazu führt, dass ein solches Eindringen überhaupt ermöglicht wird. Vorbeugung (die generelle Vermeidung von Kranksein durch eine entsprechende Lebensgestaltung aber auch die Verhütung von Schlimmerem, nämlich die Ausbreitung des Übels im Organismus so früh wie möglich) ist deshalb das zentrale Anliegen der traditionellen fernöstlichen Gesundheitslehren im Allgemeinen und von Shiatsu im Besonderen.

Dieses Eingebettetsein in die regelhaften Abläufe des Kosmos, in das Wirken der elementaren Kräfte,  von Yin und Yang und den Fünf Elementen (Wandlungen), stellt für das Individuum einen Bezug auf ein Ganzes dar, bedeutet eine Ganzheitlichkeit, die uns im Westen bereits größtenteils verloren gegangen ist und worunter viele Menschen in unserer Zeit bewusst oder unbewusst leiden. Verloren gegangen ist ein ganzheitlicher, transzendenter Bezug, ein zentraler Leitfaden gewissermaßen sowohl im religiösen als auch im medizinischen Bereich.

In der Medizin trifft man stattdessen auf zahlreiche Spezialisten, die aus ihrem eingeschränkten Blickwinkel heraus eine – oftmals allein – dieser Betrachtungsweise angemessene Therapie anwenden und verordnen. Dem gegenüber steht eine auf Schauen, Riechen, Hören und Fühlen basierende Diagnostik und Behandlungsweise der traditionellen fernöstlichen Behandlungsformen. Diese versuchen das individuelle Leid einzuschätzen und versprechen eine persönliche, von Mitgefühl getragene Beziehung zwischen dem Behandler und dem Behandelten, zwischen Gebendem und Empfangendem, um die notwendige Harmonie zwischen Mensch und Umwelt im großen beziehungsweise zwischen den einzelnen Funktionskreisen des individuellen Organismus im kleineren wieder herzustellen.

Der grundsätzliche Geist von Shiatsu ist aus diesem Hintergrund heraus geprägt vom offenen und aufrichtigen Kontakt und der achtsamen, ehrlichen Kommunikation zwischen den beiden Menschen, die sich in einer Shiatsu-Sitzung begegnen, zwischen der/dem Gebenden und der/dem Empfangenden. Und diese Begegnung, Shiatsu genannt, kann sich deshalb auch nur in dem Maße zwischen den beiden Partnern entwickeln, wie sie dazu bereit sind, sich auf diesen Kontakt einzulassen. Die Sitzung bleibt deshalb entweder auf der (vor allem) körperlichen Ebene oder aber kann, wenn Vertrauen und Offenheit (auf beiden Seiten) da sind, zu einer umfassenden Begegnung und Berührung auf der körperlichen, emotionalen und geistig-spirituellen Ebene werden.

Je natürlicher die Begegnung zwischen den beiden Partnern ist, desto mehr übertragen sich Ruhe, Gelassenheit und Zentrierung des Gebenden auf den Empfangenden. Dieser kann sich damit sicherer fühlen und freier, leichter der Behandlung anvertrauen und loslassen. Der “Raum” wird größer für das eigene Sein, für die eigene Entfaltung und für die Wahrnehmung von uns selbst und unserer Verbindung mit unserem Lebensraum.

Wach sein und aufmerksam, nichts wollen und nicht handeln, in der Mitte sein, im Hara, entspricht der daoistischen Haltung des Wuwei (“Nicht-Handeln”, genauer: nicht zielgerichtet handeln) und schafft dadurch Entspannung trotz des Drucks und der Intensität, die zugleich erzeugt werden. Betrachtet man Shiatsu in diesem Sinne als Kommunikation zwischen zwei Partnern, so nimmt der Gebende in einem entspannten, quasi meditativen Zustand der Wachheit alle Äußerungen seines Partners wahr, gleich ob sie physischer, energetischer oder emotionaler Art sind, und antwortet in der Behandlung auf diese sowohl bewusst als auch intuitiv. Die Richtung und die Qualität der Sitzung werden damit vom Empfangenden mitbestimmt oder sogar in erster Linie von ihm geprägt. Hier wird der Empfangende zum Führer, ja zum Lehrer. Der Gebende lässt sich gleichsam führen und bleibt, vergleichbar einem guten Kellner, im Hintergrund, wenn er nicht gebraucht wird, begleitet seinen Partner auf dessen “Reise” und ist zur Stelle, wenn dieser Hilfe und Unterstützung braucht.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)