Shiatsu-Praktiker/in oder/und Shiatsu-Therapeut/in? Eine Replik auf Paul Lundberg (Peter Itin)

Das berufliche Ausüben von Shiatsu trifft auf länderspezifisch unterschiedliche, rechtliche Gegebenheiten. Diese erlauben das Arbeiten innerhalb gewisser Rahmendbedingungen, tolerieren Grauzonen und verbieten gewisse Tätigkeiten. Berufsbezeichnungen spiegeln juristische Realitäten. Sie prägen gleichzeitig aber auch das berufliche Selbstverständnis, das in diesem länderspezifischen Kontext gewachsen ist, einen geschichtlichen Hintergrund hat, sich aber auch zu Neuem wandelt.

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Ein dreijähriger Ausbildungs-Weg basierend auf 350 Unterrichtsstunden war das Ausbildungs-Modell der europäischen Shiatsu-Gründergeneration.  Inzwischen sind die Stunden in vielen Ländern auf 500 angewachsen. Die geforderten allgemeinmedizinischen Kenntnisse sind dabei in der Regel rudimentär geblieben. Am Ende dieser dreijährigen Shiatsu-Ausbildung kann man mit gutem Gewissen mit Shiatsu zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge und –pflege beruflich tätig werden.

Paul Lundberg postuliert nun zurecht: Die Welt ist nicht stehen geblieben. Der Markt hat sich gewandelt. Innerhalb der vergangenen 10 Jahre hat die Zahl der Shiatsu-Praktizierenden in allen Ländern stark zugenommen. In der Schweiz hat sie sich gar verfünffacht. Der Markt für Diplomierte scheint gesättigt, die Zahl der Shiatsu-Studierenden sinkt europaweit, Pioniere der ersten Stunde schliessen ihre Schulen. Gleichzeitig verändert sich die Nachfrage und die berufliche Identität. Einerseits besteht der Trend zu Wellness, andererseits eine Profilierungen von Shiatsu als Therapie.

Paul Lundberg schlägt deshalb vor, den „mittleren Ausbildungsweg für Alle“ als obsolet zu betrachten, ihn zu verlassen und eine „Zweigleisigkeit“ der Shiatsu-Ausbildung vorzunehmen. Paul postuliert einen Basis-Abschluss für die Arbeit in Wellness- und New-Age-Zentren, und darauf aufbauend einen Abschluss für Shiatsu als alternativmedizinischen Beruf. Dieser wäre einzurichten für die zielgerichtete Behandlung von Personen, welche körperliche Beschwerden und seelische Probleme haben oder krank und beeinträchtigt sind. Er würde im Kontext der fernöstlichen Medizin stehen und Heilen zum Ziel haben.


Wie ist dies zu beurteilen?

Jeder wachsende Markt differenziert sich. Dazu gehört auch die von Paul beklagte verwirrende Vielfalt von Shiatsu-Stilen und Labels, die sich jedoch zumindest in der Schweiz eher auf dem Postgraduate-Markt entfaltet als in der Grundausbildung.

Es gibt einen nicht zu übersehenden Trend zu Entspannungs- und Wohlfühl-Shiatsu in Hotels und Wellness-Zentren. Wellness-Massage wird Trendberuf in einem boomenden Markt, der Gesundheit, Fitness und Schönheit fusioniert. Soll man künftig auch für eine „Shiatsu-Wohlfühlpraktikerin“, deren Shiatsu primär zur körperlichen Entspannung genutzt wird, weiterhin eine 3-jährige Grundausbildung verlangen? Diese Meinung entspricht der derzeitigen Politik der ISN-Berufsverbände von Deutschland, Frankreich, Italien und der Schweiz. Sie stützt sich auf folgende Argumentationslinien ab: 1. Shiatsu ist ein Erfahrungs-Beruf. Um Erfahrungen zu sammeln und die notwendigen Eigenprozesse zu machen, sind drei Ausbildungsjahre notwendig. 2. Rein Körper bezogenes Shiatsu ist nicht Energiearbeit sondern Massage (wobei dem entgegen gehalten werden könnte, dass sich auch das Namikoshi-Shiatsu nicht auf das Energiesystem bezieht) 3. Wenn eine Ausbildung von z.B. bloss zwei Jahren / 300 Stunden Ausbildungsstandard für die berufliche Tätigkeit mit Shiatsu wird, gefährdet man die berufliche Basis und Akzeptanz der bisher Praktizierenden. Jedoch stellt sich die Frage, ob die Berufsverbände mit dieser Einstellung einen Don Quichote-Kampf gegen die Windmühlen der Marktentwicklung führen. In Italien, wo Wellness-Shiatsu stark verbreitet ist, gibt es bereits Schulen, die zweijährige Shiatsu-Ausbildungen anbieten. Tenkei Tamai hatte 1919 den Mut, sein therapeutisches Arbeiten vom verbreiteten Wohlfühl-Anma mit einem neuen Begriff, Shiatsu, abzusetzen. Die heutige Situation ist genau umgekehrt: der „Wellness-Bereich“ möchte gerne auf eine schnelle und günstige Art von etablierten und renommierten Begriffen und Methoden wie Shiatsu (Yoga, Ayurveda usw.) profitieren. Es scheint mir undenkbar, dass sich das therapeutische Shiatsu einen neuen Namen gibt. Jedoch wird es sich als Methode der Alternativmedizin oder der Komplementärtherapie in ein umfassenderes Berufsbild eingliedern. Die Einrichtung staatlich anerkannter Abschlüsse muss dazu dienen, therapeutisches Shiatsu vom nicht-therapeutischen Shiatsu abgrenzen.

Der von Paul benutzte Begriff „alternativmedizinisch“ hat berufspolitische, rechtliche Implikationen. In Grossbritannien mag dieser Begriff keine Probleme auslösen. Die rechtliche Situation ist dort sehr liberal, und gewisse Shiatsu-Richtungen erheben klar den Anspruch, Symptome zu heilen. In der Schweiz und in Deutschland haben nur Ärzte und HeilpraktikerInnen die Befugnis, Krankheiten zu diagnostizieren und zu heilen. Dementsprechend finden wir in beiden Ländern HeilpraktikerInnen, die Shiatsu ausüben. In der Schweiz ist dieser Tatbestand jedoch häufig bloss eine Folge der rechtlichen Rahmenbedingungen, da einzelne Kantone das rechtsmässige Ausüben von Shiatsu an eine entsprechende Auflage knüpfen. Das berufliche Selbstverständnis entspricht jedoch vielfach nicht der Heilpraxis. In Frankreich, Italien und Österreich ist die rechtliche Lage klar: Shiatsu darf (bislang) nur zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge und -pflege genutzt werden.

In der Schweiz ist seit 2003 ein Prozess in Gange, staatlich anerkannte Berufsabschlüsse für „Komplementärtherapie und Alternativmedizin“ (KAM) zu entwickeln. Nach langen Diskussionen unter den rund 50 Berufsverbänden des KAM-Bereichs wurden einstimmig eine Unterscheidung in zwei Berufsausrichtungen vorgenommen: Komplementärtherapie (KT) und Alternativmedizin (AM).

Beiden Berufsausrichtungen ist gemeinsam, dass sie sich als ganzheitlich und natürlich verstehen und die Selbstregulierungskraft stärken.

  • KT-spezifisch ist die Abstützung auf eine Methode (z.B. Shiatsu), die Ausrichtung an den gesunden Kräften (Gesundheitsförderung), die Förderung der Selbstwahrnehmung und der Selbstverantwortung, sowie die Nachhaltigkeit der Wirkungen, welche Veränderungen von Energie-/Lebensmustern und eine prozesshafte Begleitung und Unterstützung bedingt.
  • AM-spezifisch ist die Abstützung auf ein medizinisches Gesamtsystem, die Erstellung gesundheitlicher Diagnosen, den Einsatz verschiedener Interventionsverfahren, die auch invasiv und verschreibend sein können, und die symptombezogene und heilungsorientierte Ausrichtung.

Zu KT gehören Methoden wie Shiatsu, Alexandertechnik, Atemtherapie, Bewegungs-/Tanz-Therapie, Biodynamik, Craniosakraltherapie, Feldenkrais, Kinesiologie, Polarity u.a. (siehe www.xund.ch). Zur AM gehören die klassische Naturheilkunde, TCM, Homöopathie und Ayurveda.

Wer die Berufsprofile für KT und AM genauer liest und reflektiert, bemerkt folgenden grundlegenden Unterschied: Das Ziel, Symptome zu beseitigen, d.h. Negatives zu verhindern, ist nicht dasselbe wie das Ziel, das Gesunde und Positive zu stärken.

Das in der Schweiz üblicherweise praktizierte Shiatsu, das in der Tradition von Masunaga verwurzelt ist,  gehört vom Selbstverständnis her nicht zur Alternativ-Medizin sondern zur Komplementärtherapie. Jedoch ist festzustellen, dass in Grossbritannien auch Shiatsu-Richtungen bestehen, die sich stärker an der TCM orientieren (Diagnosestellung, Arbeit mit Punkten) und einen Heilanspruch erheben. Shiatsu wird dann in ein „alternativmedizinisches“ Setting integriert, und beispielsweise um Moxa und Ernährungsberatung ergänzt.

An das Praktizieren von Alternativmedizin werden in der Schweiz hohe grundmedizinische Anforderungen geknüpft, da medizinische Diagnosen gestellt werden, ein Heilanspruch besteht, (natürliche) Heilmittel verschrieben werden und invasiv gearbeitet wird und somit ein erhöhtes Gefährdungspotential besteht. Das für die Zulassung vieler Schweizer Kassen zuständige Erfahrungsmedizinische Register fordert für Alternativ-Medizin den Nachweis von 600 Stunden Allgemeinmedizin, für Komplementärtherapien wie Shiatsu 150 Stunden. Beide Stundenzahlen müssen als durchaus realistisch und angemessen bezeichnet werden.

Shiatsu als Methode der Komplementärtherapie hat nicht die Symptom-Beseitigung zum Arbeitsfokus, sondern die Stärkung und Unterstützung der ganzheitlichen Gesundwerdung. Diese Ausrichtung der Arbeit hat die durchaus erwünschte „Nebenwirkung“, dass sich viele Symptome auflösen, weil der Körper keine Stress- und Warnsignale mehr aussenden muss. Shiatsu als Komplementärtherapie wertet das behandlungsergänzende Gespräch, das Zeigen von Übungen und dergleichen auf. Diese leisten einen wichtigen Beitrag zur Selbstwahrnehmung und zur selbstverantwortlichen und nachhaltigen Änderung von krankmachenden und belastenden Mustern, Einstellungen und Verhaltensweisen. Das Gespräch im Shiatsu ersetzt keine Psychotherapie, aber es fördert Kohärenzgefühl, Resilienz und Ressourcen und führt zur Selbstermächtigung, um die Terminologie der westlichen Konzepte der Gesundheitsförderung zu nutzen.

Es wäre vieles zu vertiefen und zu verdeutlichen: am Europäischen Shiatsu-Kongress im Kiental im Oktober wird die SGS über das Projekt „Höhere Fachprüfung Komplementärtherapie“ der Schweiz orientieren. Vorneweg folgendes: In diesem Rahmen  werden die Ausbildungen zukünftig konsequent von den Anforderungen der effektiven Berufspraxis und den beruflich erforderlichen Kompetenzen her definiert. Diese sind zunächst methodische (shiatsu-spezifische). Der SGS-Vorstand und die Shiatsu-Schulen sind sich einig, dass 500 Stunden über drei Jahre nach wie vor angemessen sind. Die Ausbildungen werden jedoch zukünftig modularisiert und mithilfe eines staatlichen anerkannten Verfahrens in Bezug auf ihre Qualität zertifiziert.

Ergänzend dazu werden folgende Mindest-Anforderungen an jede Fachausbildung gestellt werden:

  • Gesundheitsverständnis und Ethik
  • Nothilfe
  • Grundkenntnisse in Strukturen und Funktionen des Körpers sowie Entstehung, Verlauf und Auswirkungen von Krankheiten
  • Interaktion und Gesprächsführung
  • Lernen, Entwicklungspsychologie
  • Umgang mit sich Selbst und Andern
  • Betriebliche und rechtliche Kenntnisse zur Praxisführung, Kenntnisse des Gesundheitswesens
  • Berufsidentität, Berufsentwicklung, Qualitätssicherung.

Gesamthaft sollen diese „gemeinsamen Grundlagen“ für den Berufsabschluss in Komplementärtherapie 300 Ausbildungsstunden ausmachen. Der Anteil der schulmedizinischen Kenntnisse wird gegenüber heute gleich bleiben (ca. 150 Stunden). Einzelne Methoden (z.B. Craniosakral-Therapie) benötigen jedoch mehr Anatomie-Kenntnisse als z.B. Shiatsu, was spezifisch geregelt werden soll.

Bisher verlangte die SGS 150 Stunden Praxiserfahrung während der Ausbildung. Diese Zahl soll für den ganzen KT-Bereich auf 250 angehoben werden, da für staatlich anerkannte Gesundheitsberufe üblicherweise ein Praktikums-Jahr gefordert wird. Bisherige Praktizierende mit psychologischen Kenntnissen sollen als Praktikums-Begleiterinnen wirken, sodass auch hier eine Qualitätssteigerung erfolgt.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Marktentwicklungen und die rechtlichen Rahmenbedingungen zu Weiterentwicklungen und zu differenzierten Berufsprofilen im Shiatsu führen. Diese erfolgen zunächst länderspezifisch, müssen aber auch in eine gemeinsame europäische Philosophie integriert werden.


Eine erste Weichenstellung erfolgt durch die Differenzierung in nicht-therapeutisches und therapeutisches Shiatsu.

Im Nicht-therapeutischen Shiatsu wird heute verbreitete Currciulum für die Anwendung von Shiatsu zur allgemeinen Gesundheitsvorsorge zunächst weiterhin Bestand haben. Die rechtliche Regelung in Österreich ist hierfür Modell. Der Markt-Druck besteht zudem in Richtung einer einfachen Wellness-Stufe. Diese könnte zugleich eine geeignete Basis für die weiterführende, therapeutische Stufe bilden, wie dies Paul Lundberg skizziert.

Das therapeutische Shiatsu ist als eine Art „Aufbau-Stufe“ zu verstehen. Im therapeutischen Shiatsu wird sich meines Erachtens eine Unterscheidung in die Berufsausrichtung Komplementärtherapie und Alternativmedizin ergeben. Die Schweiz wird im europäischen Rahmen eine Pilotfunktion zur staatlichen Regelung von Shiatsu als komplementärtherapeutischen Beruf einzunehmen. Grossbritannien scheint mir prädestiniert, Shiatsu als Teil der Alternativmedizin genauer zu definieren.

Es steht im Shiatsu noch einiges an Klärungsarbeit an. Die europäischen Berufsverbände stehen vor der Herausforderung, im Rahmen ihrer nationalen Rechtsentwicklung optimale Bedingungen für ihre Mitglieder zu erreichen. Es gilt zu verhindern, dass Shiatsu im Europa von Morgen die Rahmenbedingungen von aussen aufgesetzt werden. Deshalb sind die Berufsverbände gefordert, auch langfristig zu denken und gemeinsame Visionen, Berufsprofile und Curricula zu entwickeln.

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© Peter Itin (info@peteritin.ch), Shiatsu-Therapeut und Kursleiter in Basel und Muralto; Ausbildung in Traumaheilung bei Peter Levine (Somatic Experience); Tai Chi-/Chi Gong-Lehrer im Chen Stil; Berater des Vorstands der Shiatsu Gesellschaft Schweiz; derzeit Präsident des Dachverbands Xund (veröffentlicht in Shiatsu Journal 48, Frühjahr 2007)