“Shiatsu-TherapeutIn” ist ein Beruf und mehr als “Shiatsu im Anwendungsfeld Therapie”. Replik auf Frank Seemanns Bericht “Das Eine Shiatsu” (Peter Itin)

Gerne möchte ich eine Replik geben auf den Beitrag “Das Eine Shiatsu – ein persönlicher Bericht von der GSD-Fachtagung 2009″ von Frank Seemann im Shiatsu Journal Nr. 58 (Herbst 2009). Es ist schade, dass die beiden Vorträge der Fachtagung nicht im Shiatsu-Journal abgedruckt wurden, weil ich es sehr wichtig finde, dass diese Diskussionen und Reflexionen breit geführt werden. Aus meiner persönlichen Sicht und aufgrund der Erfahrungen in der Schweiz besteht ein Unterschied darin, ob ich mich über die Methode (Shiatsu) oder über den Beruf (Shiatsu-Therapeut) definiere. Wenn ich mich als Shiatsu-Therapeut definiere, dann ist das mehr als das “Praktizieren meiner Methode in einem Anwendungsfeld genannt Therapie”. Der Begriff Shiatsu-TherapeutIn umfasst auch methodenübergeordnete Kompetenzen, die ich erfülle und in mein Denken und Handeln integriere. Als Shiatsu-Therapeut habe ich einen klaren beruflichen Fokus, der sich aus der konkreten Berufspraxis ergibt. Mein Shiatsu und meine therapeutischen Kompetenzen verschmelzen im Beruf Shiatsu-Therapeut zu einer neuen Einheit und einem neuen Selbstverständnis.

Therapie bedeutet für mich zunächst zweierlei:

Ich arbeite mit Menschen, die Beschwerden haben und krank sind, oder die hohen körperlichen, seelischen und geistigen Belastungen ausgesetzt sind.

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Daraus ergeben sich folgende Situationen und Kompetenz-Erfordernisse:

  • Ich werde konfrontiert mit Heilserwartungen – ich muss ein realistisches Arbeitsbündnis aushandeln, ohne Heilsversprechen abzugeben, aber die Zuversicht stärkend.
  • Ich werde konfrontiert mit medizinischen Befunden und Diagnosen, die ich zumindest einordnen muss, damit ich mit der Klientin und gegebenenfalls überweisenden Fachpersonen über die Situation kommunizieren kann.
  • Ich werde konfrontiert mit seelischen Dynamiken (insbesondere Menschen mit starken Stressreaktionen, in Lebenskrisen, mit Traumafolgen oder psychischen Erkrankungen) und mit körperlich herausfordernden Situationen (z.B. Bandscheibenvorfall, Operationen usw.). Ich muss über das entsprechende Grundwissen verfügen, womit ich zu rechnen habe, was ich tun kann, wo meine Grenzen sind (was ich also lassen soll), und wie ich zielgerichtet und angemessen mithilfe von Shiatsu, Gespräch und Anleitungen arbeiten kann.
  • Ich muss mir beispielsweise im Klaren sein, dass ich Schleudertrauma-PatientInnen nicht mit der klassischen Masunaga-Nackendehnung behandeln darf, sondern dass es spezifische, geeignete Shiatsu-Techniken gibt, die ich kennen und anwenden sollte, und dass es Techniken aus verwandten Methoden wie Shintai oder Craniosacral-Therapie gibt, die ich gegebenenfalls gewinnbringend in meine Behandlung integrieren kann.
  • Ich werde somit konfrontiert mit den Grenzen meiner fachlichen Kompetenzen und mit persönlichen Grenzen, die ich respektieren und – allenfalls in Supervision – reflektieren muss. Ich muss erkennen, wann ich KlientInnen gegebenenfalls an andere Fachkräfte weiter verweisen muss und sollte ihnen beim Finden kompetenter Fachpersonen behilflich sein können.
  • Ich arbeite selbständig erwerbend und unabhängig in eigener Praxis. Ich benötige deshalb Kenntnisse in Recht und Betriebsführung. Ich orientiere mich an der Berufsethik des Berufsverbands und verpflichte mich zur kontinuierlichen Qualitätsentwicklung.
  • Ich muss (in der Schweiz) Krankenkassen Bericht erstatten über die Wirkungen meiner Behandlungen und die weiteren Entwicklungsaussichten.


Ich unterstütze Menschen prozessorientiert und ganzheitlich

  • Die Menschen kommen nicht einmalig zu mir, wie in einem Hotel oder Wellness-Zentrum, sondern haben ein klares Ziel, das für eine Reihe von Behandlungen den Fokus der Arbeit und das “Erfolgskriterium” bildet. Die Zielsetzung kann sich im Laufe des Prozesses wandeln oder differenzieren, aber ich habe die Aufgabe, dass das Formulieren von Zielen und das Erkennen von Veränderungen im Prozessverlauf explizit geschieht. Ich muss somit Standortbestimmungen auf professionelle Weise vornehmen und auch den Therapie-Abschluss sorgfältig vorbereiten und moderieren.
  • Die einzelnen Behandlungen sind nicht voneinander unabhängig. Eine Therapie ist mehr als die Summe von Einzelbehandlungen. Die Behandlungen beziehen sich aufeinander innerhalb einer bestimmten Prozess-Dynamik. Zum Beispiel ist es bei Trauma klar vorgegeben, dass das Bereitstellen eines sicheren Orts und das seelische Stabilisieren die allererste Aufgabe darstellt, und dass man die Ressourcen generell stärken sollte, ehe man sich den eigentlichen Herausforderungen des Traumas wie z.B. Lösen von Erstarrung und Unverbundenheit zuwendet. Es besteht auch ein Unterschied darin, akute Entlastung zu bieten oder grundlegende Schritte zu unterstützen.
  • Die Shiatsu Gesellschaft Schweiz umschreibt in ihrem Berufsprofil Shiatsu-TherapeutIn die Ziele der therapeutischen Arbeit mit der Förderung der gesunden Selbstregulierungskräfte und der Unterstützung von Selbstwahrnehmung und Selbstverantwortlichkeit in Bezug auf die eigene Gesundheit. Mit unserer Arbeit unterstützen wir persönliche Entwicklungs- und Wandlungsprozesse, die zu mehr Gesundheit, Wohlbefinden und Lebensfreude führen. Dies kann im Einzelnen unterschiedliche Vorgehensweisen umfassen. Es bedeutet jedoch, dass wir grundlegende Gesundheitsförderungskonzepte wie Ressourcen, Resilienz, Salutogenese und Empowerment kennen und in diesem Konzeptrahmen gezielt dazu beitragen, die Fähigkeiten der KlientInnen zu erhöhen (ohne dies mit Psychotherapie zu verwechseln).
  • Ich leiste als Therapeut eine ganzheitliche Unterstützung in dem Sinne, dass die drei Teile: Shiatsu, therapeutisches Gespräch und Anleitungen ein Ganzes bilden. Ihr Mischungsverhältnis muss dem Prozess und den Bedürfnissen und Möglichkeiten der KlientInnen angepasst werden. Therapeutische Gesprächsführung und Anleitungen (“Hausaufgaben“, Körper- und Imaginationsübungen usw.) müssen jedenfalls genau so professionell vorgenommen werden wie die Shiatsu-Behandlung, selbst wenn ihr zeitlicher Umfang meist viel geringer ist. Manchmal kann es aber geschehen, dass sie auch mehr Zeit als die reine Behandlung selbst in Anspruch nehmen.


Die Shiatsu-Definition ist zu ergänzen um eine Berufsdefinition

Der Begriff Shiatsu wurde in Japan vor 90 Jahren geprägt, um eine Methode zu beschreiben, welche gesundheitsfördernd und präventiv wirkt und Heilwirkungen hat, und um diese Methode auf der Basis eines staatlichen Diploms beruflich ausüben zu dürfen. Shiatsu ist seither zu einem Sammelbecken von Theorien, Konzepten und Techniken geworden. In der heutigen gesellschaftlich-wirtschaftlichen Situation wird es jedoch immer wichtiger, nicht nur im Begriffsrahmen von Techniken sondern auch von Berufen zu denken. Ich definiere mich persönlich nicht als Ausübenden von Shiatsu-Techniken sondern als professionellen Shiatsu-Therapeuten. Mein Shiatsu ist in ein übergeordnetes Berufsverständnis und Kompetenzfeld eingebettet. Beide Elemente, Shiatsu und Therapie, sind untrennbar miteinander verwoben und bilden etwas Eigenständiges Neues – wie bei einem Kuchen, der mehr ist und anders schmeckt als die einzelnen Zutaten.

Shiatsu-Ausbildungen definierten sich bisher primär als Methoden-Ausbildungen. Dies ging solange gut, als Shiatsu (und andere, vergleichbare Methoden) noch “jung und unbekannt“ waren. Inzwischen sind sie bekannt und werden immer mehr auch von anderen Berufsgattungen als attraktive Erwerbsmöglichkeit avisiert. Die Situationen in verschiedenen Ländern zeigen, dass eine Positionierung von Shiatsu in der Berufslandschaft (und in Berufsregistern) angestrebt und vorgenommen wird, sei dies als “gewerblicher Beruf“ (Österreich, Italien, Frankreich) oder als “„therapeutischer Beruf“ (Schweiz). Ich bin überzeugt, dass Shiatsu in den nächsten Jahren europaweit gefordert sein wird, den Schritt von der Methoden-Ausbildung zur Berufs-Ausbildung zu machen, was nach einem erweiterten Verständnis und nach zusätzlichen Kompetenzen (und Ausbildungseinheiten) verlangt, und dass dieser Schritt von Schulen und Berufsverbänden europaweit gemeinsam, rechtzeitig und sorgfältig gestaltet werden muss.


Quellen

  • Shiatsu Journal Nr. 61

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© Peter Itin (http://peteritin.wordpress.com), Shiatsu-Therapeut und Kursleiter in der Schweiz. Autor von “Shiatsu als Therapie”.