Social Networks. Das Leben im Netz in Echtzeit

Soziale Netzwerke sind mehr und mehr im Kommen. Nach Facebook und Twitter, um nur die bekanntesten und weitverbreitetesten Dienste anzuführen, ist nun auch Google mit Buzz – wie Insider prophezeien: erfolgreich – „ins Soziale“ eingestiegen und belegt damit einmal mehr einen grundlegenden und immer weiter fortschreitenden Wandel im Internet. Das „klassische Internet“, das mit statischen Seiten wie die „längste Schaufensterreihe der Welt“ (Peter Glaser) anmutet, weicht zunehmend veränderlichen Inhalten, weicht Bloggs, Foren, Facebook, Twitter und Co. „Social-isierung“ und „Echtzeit“ sind die beiden Entwicklungen, die das Internet und damit alle, die daran teilhaben, verändern.

Bei beiden Entwicklungen spielt Facebook eine maßgebliche Rolle. 400 Millionen Facebook-Nutzer publizieren jede Woche etwa dreieinhalb Milliarden Links, Fotos, Geschichten, Kommentare und Filme (auf Twitter werden – vergleichsweise – täglich etwa 25 Millionen Tweets abgesetzt, zweieinhalb Millionen davon enthalten einen Link auf eine Empfehlung, einen Zeitungsartikel, ein Plog-Posting, ein Video oder ähnliches) – Publikationen, die man als persönliche Empfehlungen betrachten kann, sich mit den geposteten Inhalten zu beschäftigen. Und damit beantwortet sich für den einzelnen Nutzer zugleich die Frage, was in seinem sozialen Umfeld passiert. „Die Menschen“, so Dave Yovanno vom Social-Media-Dienstleister Gigya aus Palo Alto, „fangen an, seltener alleine im Netz herumzustreifen, sondern das Netz nach den Empfehlungen und Aktivitäten ihrer Freunde zu durchpflügen.“ Technische Empfehlungsmaschinen, d.h. Suchmaschinen wie allen voran Google, beginnen einen Teil ihrer Traffic-Macht (Lenkung und Generierung von Besucherströmen auf Webseiten) an soziale Empfehlungsmaschinen wie Facebook und Twitter abzugeben (die Größenverhältnisse zwischen Facebook und Twitter lassen sich gut verdeutlichen, wenn man sich vor Augen führt, dass weltweit mehr Menschen Farmville auf Facebook spielen als twittern).


Echtzeit-Netz

Eine wesentliche Rolle spielt die Frage „Was passiert genau jetzt?“ Das, was gerade jetzt im sozialen Umfeld passiert, hat für den einzelnen Menschen einen mindestens so hohen Stellenwert wie die Frage, was genau jetzt in der Welt passiert. Die Aktualität von Beiträgen wird im Netz zunehmend wichtiger. Ebenso wie ein drei Wochen, oder noch schlimmer ein drei Monate alter Link auf eine eBay-Aktion keine Relevanz mehr hat, bewegt sich die Online-Welt mehr und mehr in Richtung Echtzeit-Netz.

Definieren kann man das Echtzeit-Netz dadurch, dass es Techniken, Plattformen und Dienste umfasst, die Informationen im Moment der Entstehung bündeln und (fast) ohne Zutun des Empfängers an diesen weiterleiten. Seine – in manchen Bereichen erst zukünftigen – Auswirkungen kann man sich verdeutlichen, wenn man sich vergegenwärtigt, dass ein über Twitter veröffentlichter Link innerhalb der ersten halben Stunde über 50 Prozent der Klickanzahl erreicht, die er schließlich nach mehreren Monaten erreichen wird.

In der deutschen Twittersphäre, die mit etwa 200.000 aktiven Nutzern noch relativ klein ist, folgen einem Link, der auf einem Account mit mehr als 30.000 Followern veröffentlicht wird, im Schnitt 2.000 bis 3.000 Personen. Die konkrete Zahl wird durch eine Reihe von Faktoren bestimmt wie Tageszeit, Wochentag, Inhalt des Links und Häufigkeit der Retweets (Wiederholung der Links durch andere Twitterer). Dabei entsteht in der ersten Sekunde der Veröffentlichung eines Links eine große Dynamik, wenn fast gleichzeitig ein paar hundert Personen klicken – was sogar zu Server-Zusammenbrüchen führen kann.

Die scheinbaren „Nullaussagen“ (irrelevante Beiträge, wie dass man gerade Kaffee trinkt oder ähnliches) bilden aber gerade das Schmiermittel des Echtzeit-Netzes. Echtzeit kann nämlich nur dann entstehen, wenn ständig ein ausreichend großer Teil der Nutzerschaft online ist. Nur so können sich dann wichtige Meldungen in Minutenschnelle durch das Netz bewegen. Der Kaffeetweet ist der Grund, so Sascha Lobo, warum die Nutzer auf die Plattform gehen, sich zwanzig, dreißig Beiträge ansehen und vielleicht den entscheidenden darunter weiterempfehlen.

Die häufige Beschäftigung mit der Plattform anhand von eigentlich unwichtiger Kommunikation schafft eine ständige Halbaufmerksamkeit, ob etwas wirklich Relevantes passiert und bindet die Nutzer ihre gesamte Wachzeit über ans Netz.


Permanenz

Sämtliche Medien, allen voran das Internet, sind inzwischen auf einen Zustand der Ständigkeit eingerichtet, auf Permanenz. Während es früher nur zu gewissen Zeiten aktuelle Meldungen gab (wie z.B. Nachrichtensendungen), fließen heute die Ströme an Informationen, Meldungen und Unterhaltung unausgesetzt und vielarmig. Als erstes Medium lief das Radio rund um die Uhr und in den neunziger Jahren haben dann die TV-Sender ihre Nachtlücken im Programm ebenfalls geschlossen. „Sendeschluss“ oder „Testbild“ kennen jüngere Medienbenutzer heute gar nicht mehr. Und auch der Dial-up-Zugang zum Internet geht seinem Ende entgegen. Wer heute seinen Rechner einschaltet, ist online, verbunden in der Welt des Netzes.

Das Netz ist zum Inbegriff der Permanenz geworden, ständig ist es in Fluss, ununterbrochen aktualisiert es sich, vibriert geradezu vor Mitteilsamkeit. Früher, so Peter Glaser, gab es einen Zustand, dann kam eine Veränderung und damit dann ein neuer Zustand. Heute aber ist Veränderung der Zustand. Das Netz ist heute zunehmend nicht mehr einfach nur ein großer Automat, aus dem man Texte und Bilder zieht oder selbst welche in ihn einfüllt, vielmehr lebt das Netz, sind es die User selbst.

Gab es früher Massenmedien, sind es heute zunehmend Medienmassen. Die Informationsverbreitung wird kleinteiliger und komplizierter. Sie hängt nicht mehr so sehr vom Sender ab, sondern mehr und mehr von den Empfängern, davon wie viele von ihnen die Nachricht weitergeben in die nächste Ausbreitungskaskade. Die Summe der Empfehlungen (Hinweise und Links) von Facebook, Twitter und Co., denen man zu folgen bereit ist, bilden ein Gewebe aus Nachrichten und Unterhaltung, das mit den konventionellen Rubriken einer Zeitung nur noch wenig zu tun hat. Es entsteht eine Art flüssige Zeitung, strömend und individualisiert – mehr als eine Zeitung, weil auch Musik und Filme Bestandteile sind.


Schwache Bindungen

Menschen, so konnten Forscher an der Michigan State University beobachten, die unter mangeldem Selbstbewusstsein leiden oder mit ihrem Leben unzufrieden sind, zugleich aber intensiv Sites wie Facebook nutzen, können eine Art sozialer Energiereserve aufbauen. Sie hat mit „schwachen Bindungen“ zu tun, wie Soziologen diese Form menschlicher Beziehungen bezeichnen – vergleichbar mit dem Verhältnis zu Mitschülern oder Partybekanntschaften. Sie sind wichtig, denn sie bieten Perspektiven und Möglichkeiten, die man von engen Freunden oder Familienmitgliedern nicht mehr bekommen würde, weil man diese schon zu gut kennt.

Ungebundenheit (schwache Bindung) ist ein wichtiges Merkmal der Online-Kommunikation. Man tritt formlos einer Gruppe bei, hört zu, äußert sich und kann sie jederzeit ebenso formlos wieder verlassen, ohne dass einem das jemand übelnimmt. Es ist gleichsam ein gemeinschaftlicher Bewusstseinsstrom, an dessen Ufer man sich aufhält, mal eintaucht und auch wieder austritt.

Die Veränderung im Netz verändert zugleich aber auch den Anspruch der Menschen an ihr Umfeld, denn die dem Echtzeit-Netz zugrunde liegende Beschleunigung wird von denjenigen, die sie mitmachen (etwas Ähnliches hat sich beispielsweise auch durch die ständige Erreichbarkeit durch Mobiltelefone ereignet), schon bald als normal empfunden – und wird damit als Maßstab angelegt für die Reaktionszeit, die man dem Gegenüber einräumt. Diese Beschleunigung kettet uns immer enger und in immer kürzerem Takt an das Internet, verändert unsere Erwartungen an alle anderen Netzteilnehmer und macht uns zu einem Teil einer ständigen digitalen Sphäre, die sich wie ein unsichtbares Netz über die Welt legt.


Quellen

  • Sascha Lobo: Netz-Sozialisierung. Vom Überall-Netz ins Echtzeitnetz. C´t 6/2010 vom 1. 3. 2010 (S. 188)    
  • Peter Glaser: Jetzt. Sofort. Alles. Die Nutzer richten ihr Leben im Echzeit-Netz ein. C´t 6/2010 vom 1. 3. 2010 (S. 190)