Sozialkontakt (und hier vor allem Körperkontakt) hilft Süchte zu überwinden. Tierexperimente bekräftigen die Erfahrungen von Selbsthilfegruppen und anderen therapeutischen Einrichtungen

Studien belegen, dass im Verlauf einer Drogenabhängigkeit der Drogenkonsum für die Betroffenen zunehmend zur einzigen Möglichkeit wird, sich positive Empfindungen oder Freude am Leben zu verschaffen. Und weil sie an ihrer Umwelt zunehmend weniger Anteil nehmen, verlieren Abhängige auch ihre Sozialkontakte. Die Freundschaften, die dennoch bleiben, stehen gewöhnlich im Kontext mit Drogen. Und obwohl man weiß, dass Selbsthilfegruppen und andere therapeutische Einrichtungen, die Sozialkontakte fördern, sehr gute therapeutische Erfolge in Hinblick auf das Suchtverhalten haben, gibt es dazu aber kaum Untersuchungen.

Mit den Auswirkungen positiver sozialer Interaktion auf das Suchtverhalten bei Ratten – um daraus auch Schlüsse auf die Auswiikungen auf Menschen ziehen zu können – befasst sich die Biologin Rana El Rawas (Mitglied der Suchtforschungsgruppe von Gerald Zernig und Alois Saria, Abteilung für Experimentelle Psychiatrie der Medizinischen Universität Innsbruck), denn wie Menschen sind auch Ratten soziale Wesen, deren Wohlbefinden durch das Zusammensein mit angenehmen Artgenossen deutlich gesteigert wird.


Untersuchungsmethode und Ergebnisse

Die Forscher wendeten eine Test-Methode an, die sich Konditionierte Platz-Präferenz (CPP, Conditioned Place Preference) nennt: Dazu wurde ein dreiteiliger Versuchskäfig benützt, in dem es eine mittlere, neutrale Kammer gibt und zwei angeschlossene Konditionierungskammern, die unterschiedlich gemusterte Wände und sich unterschiedlich anfühlende Böden haben. In eine dieser beiden Kammern werden die Ratten im Anschluss an eine Kokain-Injektion gesetzt, in die andere nach der Injektion mit einer wirkungslosen Salzlösung. Auf diesem Weg lernen die Tiere, je eine bestimmte Kammer mit der Droge zu assoziieren. Nach nur vier Kokainspritzen zeigten die Ratten, wenn sie sich in allen Teilen des Käfigs frei bewegen konnten, eine deutliche Vorliebe für die Kammer, in der sie das Kokain erhielten.

Danach begann die eigentliche Untersuchung: Von jetzt an erhielt ein Teil der Tiere in beiden Kammern nur noch Salzlösung, eine zweite Gruppe machte ebenfalls einen Entzug, erhielt aber gleichzeitig in der vorher drogenfreien Kammer die Möglichkeit, 15 Minuten mit einem gleichaltrigen, gleichgeschlechtlichen Artgenossen zu verbringen, und eine dritte erhielt nach wie vor in der einen Abteilung Kokain, aber in der anderen die Gelegenheit zu sozialer Interaktion.

Anschließend wurde getestet, welche Kammer sie bevorzugen, und dabei zeigte sich, dass bei den Ratten auf Entzug vier Episoden von Sozialkontakt genügten, um die entsprechende Kammer für sie attraktiver zu machen als die, in der sie ursprünglich Kokain erhalten hatten. Aber auch die Tiere, die die Droge weiterhin erhielten, zogen nach nur vier Episoden die Gesellschaft des Artgenossen dem Kokain vor. Und zudem: Ratten, die auf Entzug gesetzt worden waren und danach noch einmal Kokain bekamen, behielten ihre Vorliebe für die “soziale Kammer” bei.


Veränderung in den Hirnaktivitätsmustern

Gleichzeitig mit den Verhaltensmustern änderten sich dabei auch die Hirnaktivierungsmuster: Jene Hirnzentren, die während der Erinnerung an den Kokaineffekt bei den Ratten aktiviert wurden, beruhigten sich durch die soziale Interaktion wieder.[1]“These protective effects of social interaction were paralleled by a reduced activation assessed by Zif268 expression in brain areas known to play critical roles in drug-seeking behavior. Here, we … weiterlesen Gerald Zernig erklärt dazu (Der Standard, 28. 3. 2012): “Die Schale und der Kern des Nucleus accumbens sind zwei unmittelbar benachbarte Hirnregionen, die die Vorliebe für soziale Interaktion beziehungsweise Kokain wie zwei Gegenspieler auf einer Wippe vermitteln. Durch gezielte Inaktivierung der Schale wird die Balance in Richtung Kokain verschoben, bei Inaktivierung des Kerns in Richtung sozialer Interaktion”.          


Vor allem Körperkontakt macht den Wert der Begegnungen aus

Um herauszufinden, welcher Aspekt des Sozialkontaktes am wichtigsten ist, stellten die Forscher der Annäherung der Tiere aneinander verschiedene Hindernisse in den Weg. Wie sich dabei zeigte, ist es vor allem Körperkontakt, der für die Ratten den höchsten Wert einer Begegnung ausmacht: Selbst wenn sie einander nur durch Trennstäbe hindurch mit Schnauzen, Vorderpfoten und Schwänzen berühren konnten, blieben die positiven Effekte des Sozialkontakts erhalten, wenn auch nicht so ausgeprägt wie bei einem “vollen Kontakt”. Keine positive Wirkung erzeugten hingegen Partnerratten, die deutlich größer und schwerer waren als das ursprüngliche Versuchstier.

Aber auch der zur Verfügung stehende Raum spielte eine deutliche Rolle: Wurde die Kammer mit dem Artgenossen auf die Hälfte verkleinert, fanden die Tiere die soziale Interaktion weit weniger attraktiv, als wenn sie mehr persönlichen Freiraum hatten.

Zernig, der auch Psychotherapeut ist, sieht diese Erkenntnisse als unmittelbar in die therapeutische Arbeit übersetzbar: “Unsere Ergebnisse weisen darauf hin, dass körperzentrierte Psychotherapien besonders für die Behandlung von Abhängigkeitserkrankungen und gestörtem Sozialverhalten geeignet sind.”[2]In einer früheren Untersuchung – Activation of muscarinic and nicotinic acetylcholine receptors in the nucleus accumbens core is necessary for the acquistion of drug reinforcement. J. A. Crespo, … weiterlesen 


Hintergrund

Bei der umgangssprachlichen “Sucht” unterscheiden Medizin und Psychologie zwischen Abhängigkeitssyndrom, wenn es sich um eine Abhängigkeit von bestimmten Substanzen (zum Beispiel Alkohol oder Kokain) handelt, bzw. “Impulskontrollstörung” oder Zwangsstörung, wenn die Abhängigkeit nicht an Substanzen gebunden ist (z. B. Kauf- oder Spielsucht).

Laut Statistiken des Gesundheitsministerium leben in Österreich mehr als 25.000 Drogenabhängige, 170 starben im Jahr 2010 an ihrer Sucht. Laut dem Wiener Anton-Proksch-Institut sind in Österreich rund 330.000 Personen alkoholabhängig, ca. 1,3 bis 1,6 Millionen nikotinabhängig, 110.000 bis 130.000 medikamentenabhängig und 20.000 bis 30.000 abhängig von illegalen Drogen.

Bei den nichtsubstanzgebundenen Abhängigkeiten geht man von 40.000 bis 60.000 Personen aus, die an Spielsucht (etwa Automaten- oder Glücksspiel) leiden, geschätzte 60.000 sind vom Internet abhängig bzw. stark gefährdet, und rund 600.000 neigen zu gesteigertem bis exzessivem Konsumverhalten (“Kaufsucht”).


Quellen

Anmerkungen

Anmerkungen
1 “These protective effects of social interaction were paralleled by a reduced activation assessed by Zif268 expression in brain areas known to play critical roles in drug-seeking behavior. Here, we show that that social interaction during extinction also reduces FosB/Delta FosB- increased expression in the nucleus accumbens shell and core of rats expressing cocaine CPP followed by saline extinction” (Abstract zu New Frontiers in Persistent Pain, 2011).
2 In einer früheren Untersuchung – Activation of muscarinic and nicotinic acetylcholine receptors in the nucleus accumbens core is necessary for the acquistion of drug reinforcement. J. A. Crespo, K. Sturm, A. Saria, and G. Zernig. J Neurosci 26 (22):6004-6010, 2006 (http://dx.doi.org/10.1523/JNEUROSCI.4494-05.2006) – konnte gezeigt werden, dass der Lernbotenstoff Azetylcholin und nicht das als Glücksneurotransmitter gut bekannte und am meisten untersuchte Dopamin vermehrt freigesetzt wird, wenn Drogen für Versuchstiere interessant zu werden beginnen. Daraus folgt, dass es ein wesentliches Ziel in der Therapie von Abhängigkeitserkrankungen sein muss, das Suchtgedächtnis zu modifizieren, also die Erinnerung an die positiven und negativen Konsequenzen des Drogenkonsums zu verändern. Und das wird bisher am effizientesten mit Langzeitpsychotherapie erreicht.