Spirituelle Dimensionen von Krankheit und Heilung (Eduard Tripp)

Für die Grundlagen und Anregungen zu diesen Ausführungen
danke ich ganz besonders Claude Diolosa und seinem Unterricht

In den alten Medizinschulen der chinesischen, tibetischen und auch ayurvedischen Heilkunde ist die spirituelle Dimension von Erkrankungen und der Aspekt der spirituellen Heilung untrennbar verbunden mit der traditionellen Ausbildung zum Arzt, zum Heiler. Dieser spirituelle Aspekt der traditionellen Medizin umfasst die gesamte Heilkunst, bildet gewissermaßen ihre Grundlage und gibt ihr ihren Reichtum.

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Grundsätzlich, so die zugrunde liegende Erkenntnis, gibt es einen Reichtum, ein göttliches Potential gewissermaßen, das als Liebe, Mitgefühl, Mitfreude und Gleichmut beschrieben wird und die ganze Zeit alles durchdringt und alles umfasst. Dieses Potential ist immer und überall vorhanden, allgegenwärtig, in uns ebenso wie in anderen. Es gibt keine Trennung, weder zeitlich noch räumlich. Wir sind uns jedoch über diesen Reichtum, dieses Potential in uns nicht bewusst, was unsere grundlegende Unwissenheit bezeichnet. Wir wissen nicht, wer wir sind, kennen unser wahres Wesen, unseren innersten Kern nicht. Daraus entwickelt sich ein Ego, ein Ich, das in seiner Unwissenheit gleichsam die ganze Zeit behauptet: “Ich und die Wahrheit sind zwei getrennte Dinge” und deshalb in der Außenwelt, in seiner eigenen Projektion nach Ergänzung und Erfüllung sucht.

Im Buddhismus spricht man in diesem Sinne von einer Ich-Illusion. Ich-Illusion deshalb, weil wir uns als von der Wahrheit, von dem alles durchdringenden und umfassenden Reichtum getrennt erleben und unsere wahre Natur, unsere Buddha-Natur nicht erkennen können. Dieser grundlegende Mangel an Erkenntnis, dieser Zustand von Unwissenheit – auch als Verwirrtheitszustand bezeichnet – führt, gewissermaßen als karmische Konstitution, zu einer Fehlfunktion unseres Verdauungsapparates, speziell zu einer Dünndarm-Problematik (der Dünndarm ist wichtig für die Unterscheidung von “rein” und “unrein”, zwischen dem, was wir sind, und dem, was wir nicht sind) und zu einer Feuchtigkeits- und Schleimproblematik.

Der Spiegel unseres Geistes ist trüb geworden. Aus Unwissenheit heraus können wir den Reichtum, die Tiefe des Raumes nicht mehr klar und deutlich reflektieren. Jeder Mensch, so sagt man deshalb – es sei denn, er wäre voll bewusst, erwacht – leidet an einer Feuchtigkeits-Problematik, eben weil er unwissend, verwirrt und über sein eigenes Potential nicht bewusst ist.

Aus Unwissenheit und Verwirrtheit heraus entstehen Unsicherheitsgefühl und Angst (bis hin zu Panik und Paranoia). Wir sind unsicher und ängstlich und suchen deshalb ständig Identitätsgefühl und Sicherheit, suchen ständig nach Bestätigung. Im Kern unwissend darüber, wer wir sind und was wir sind, suchen wir Sicherheit in der relativen Welt, in unserem Körper, in unseren Gedanken und Gefühlen und darüber hinaus in unserer sozialen Umwelt, in unserem Beruf, unserem Status, unserem Besitz und ähnlichem mehr: “Ich bin Arzt”, “ich bin reich”, “du bist meine Frau, mein Mann”, “das ist mein Haus, meine Firma” ( …).

Während wir uns an unserer relativen Identität festklammern, wissen wir jedoch gleichzeitig – bewusst oder unbewusst – um die Vergänglichkeit aller Dinge, dass sich alles wandelt und dass wir nichts festhalten können. Unser Körper ändert sich, unsere Gedanken, Gefühle und Einstellungen ebenso wie die ganze Welt um uns. Ständig sind wir mit Veränderung – langsamer oder schneller, erwünschter oder unerwünschter – konfrontiert, und am Ende steht der Tod. Der Wandel, die Vergänglichkeit aller Dinge und – im Kern – die zugrunde liegende Unwissenheit über unsere wahre Natur machen uns ängstlich und führen auf der physiologischen Ebene zu einer Fehlfunktion der Niere (damit verbunden auch zu einer Schwäche der Sexualität und der Fortpflanzungsfähigkeit). Unwissenheit und Unsicherheitsgefühl bilden auch die Basis für die Störenden Emotionen (Verblendungen), die letztendlich dazu dienen, die Ich-Illusion weiter zu festigen und die zugrunde liegende Angst zu “bewältigen”.

Anhaftung und Begierde, das Bedürfnis die Dinge festzuhalten und das Bedürfnis nach Bestätigung (“Streicheleinheiten”), stärken und festigen die Ich-Illusion, die die Tendenz hat, sich aufzulösen und deshalb ständige Pflege und Zufuhr von Aufmerksamkeit erfordert. Aus Unsicherheit und Einsamkeit heraus trachten wir danach unser Leben abzusichern und suchen ständig nach Ich-Bestätigung dadurch, dass wir uns etwas “Gutes” tun oder uns etwas “leisten” – alles, was das Selbstwertgefühl stärkt und uns das Gefühl zu “leben” gibt. Hierzu gehören vielfach auch unsere Liebesbeziehungen, denn im buddhistischen Sinne gilt es klar zu unterscheiden, ob es sich dabei um Liebe handelt oder um Anhaftung. Liebe ist der “Wunsch nach Wohlergehen” und entsteht aus einem Gefühl des eigenen Wertes, des inneren Reichtums, aus “Überschuss” heraus – wohingegen es sich bei allen anderen Beziehungen und Bindungen um Anhaftung handelt.

Anhaftung entsteht aus einem Gefühl des Mangels, aus einem Gefühl, nicht vollständig zu sein, dass einem was fehlt. Anhaftung entsteht aus fehlendem Selbstwert und stärkt unser Ichgefühl, gibt uns ein Gefühl von Wert und Sicherheit: “Durch deine Liebe spüre ich meinen Wert”, “wenn du mich liebst, bin ich wertvoll” (…). Auf physiologischer Ebene führt Begierde zu Unruhe (“Wind”) im Herzen.

Wut und Hass dienen dem Schutz, der Verteidigung dessen, was wir haben, und gelten als die gefährlichsten Emotionen überhaupt, weil sie die Ich-Illusion noch stärker als andere Emotionen befestigen und dabei den Raum “erfrieren”. Der Spiegel des Geistes zersplittert, der Raum wird nicht mehr als allumfassend, voll Liebe und Mitgefühl erlebt. Wut und Hass führen zu Trennung, zu Ausgrenzung und Abgrenzung und können in einem Augenblick viele positive Eindrücke zerstören. Man macht die Wesen unglücklich und schädigt sie als auch sich selbst, weil sich die negativen Eindrücke im Geist verfestigen. Auf physiologischer Ebene führen Wut und Hass zu toxischer Hitze im Körper und machen uns anfällig für entzündliche Erkrankungen, führen insbesondere auch zu Hirnschlag.

Eifersucht und Neid – gemeint sind hier sowohl die dramatischen Formen von Eifersucht wie auch latente Formen von Neid, die sich in einem Gefühl der Benachteiligung äußern, dass man sich nicht (mit)freuen kann, wenn andere erfolgreich oder glücklich sind – gelten als nicht so gefährlich wie Zorn, sind aber besonders hartnäckig. Zorn ist eher sporadisch, explosiv und eruptiv, Eifersucht und Neid hingegen können auch über Jahre bestehen bleiben. Hier zeigt sich die Mischung von Hitze und Feuchtigkeit, das Doppelgesicht von Yin und Yang. Die Hitze ist verantwortlich für die aggressive Komponente, und die Ausdauer (Klebrigkeit) ist Folge der Feuchtigkeit. Eifersucht appelliert an den Partner: “Lass mich nicht allein”, “sag mir, dass du nur mich liebst” (…) und hilft die Ich-Illusion aufrechtzuerhalten. Physiologisch führen Eifersucht und Neid zu Feuchter Hitze im Körper, beispielsweise zu Hepatitis und Herpes.

Stolz (Arroganz, Hochmut) gilt – mystisch betrachtet – als die schwierigste Emotion, die auch noch Menschen mit hoher Verwirklichung in Verwirrtheit stürzen kann. Stolz führt in Versuchung: “Du kannst es, warum machst du es nicht …” und bedeutet eine Verschlimmerung der Unwissenheit. Ein stolzer Mensch kann keine Empfehlungen und Ratschläge annehmen, glaubt alles besser zu wissen, versteift und verkrustet sich. Auf physiologischer Ebene führt Stolz zu Verfestigung, zu Anhäufungen, Ablagerungen von Substanz und Schleim, zu sklerotischen Prozessen wie beispielsweise Arteriosklerose oder Steinbildung (alles was sich verdichtet und kristallisiert).

Je nach karmischer Entwicklung können unterschiedliche Emotionen als “geistig-spirituelle Konstitution” ausgeprägt sein und damit auch Krankheitsdispositionen, Krankheitsbilder, zu denen wir neigen. Und genau diese karmischen Anlagen sind es, die ein spiritueller Meister erkennt und zu deren Heilung er spezielle Mittel empfehlen kann.

Notwendig ist jedoch, dass jeglicher Praxis und jeglichem Versuch, Einsicht und Klarheit zu erlangen, zuerst die tiefe Erkenntnis über unseren Verwirrtheitszustand vorausgeht, die Erkenntnis, dass wir uns unseres Potentials nicht bewusst sind, dass wir uns und anderen aus unserer Unwissenheit heraus weh tun und den Menschen deshalb nicht wirklich helfen können. Aus dieser Einsicht heraus entwickelt sich unsere Sehnsucht nach Erkenntnis, unser Bedürfnis nach Verständnis. Dieses Verlangen ist es, das in uns erwachen muss, sich in uns entwickeln muss. Und dieses Verlangen ist es letztlich, das Beharrlichkeit, Ausdauer und Erfolg auf dem spirituellen Weg bringt. Ohne die rechte Motivation fehlt der Praxis die Kraft und die Ausdauer. Umgekehrt jedoch: Je größer unser Durst nach Erkenntnis ist, desto mehr Ernsthaftigkeit und Kraft fließen in die Praxis ein, beispielsweise in die Praxis der “Sechs Befreienden Handlungen” (“Sechs Vollkommenheiten”), die ein spirituelles Leben ermöglichen und untermauern:

Großzügigkeit (Geben) mit Körper, Rede und Geist (im Sinne von Unterstützung, Zuwendung, Liebe, mit dem was man besitzt, weiß und kann), beruht auf dem Verständnis, dem Wissen, dass der Raum in sich großzügig ist und dass uns gegeben und vieles ermöglicht wird (speziell was den spirituellen Weg betrifft), wenn auch wir großzügig gegenüber anderen sind.

Ethisches (tugendhaftes) Verhalten mit Körper, Rede und Geist bedeutet die Wesen, das Leben zu beschützen und fördern, nicht jedoch zu schädigen. Als Richtlinien gelten die fünf Regeln für die im weltlichen Leben stehenden Buddhisten:gesundheitsfördernder und therapeutischer Interventionen bilden:

  • Nicht zu töten, kein Leben nehmen
  • Nicht zu nehmen, was nicht gegeben wurde
  • Die Sexualität nicht zu missbrauchen, denn diese ist ein Ausdruck der Liebe und sollte mit jemanden geteilt werden, dem wir nahe stehen und verbunden sind
  • Mit Worten keinen Schaden zufügen oder die Unwahrheit sprechen (“rechte Rede”)
  • Sich vom Genuss berauschender Mittel enthalten als der Ursache von Achtlosigkeit und Anmaßung

Diese Regeln sind jedoch nicht als Verbote zu verstehen, vielmehr als Empfehlungen für ein spirituelles Leben im Sinne von: “Wenn du dieses Ziel erreichen willst, rate ich dir, dich so und so zu verhalten”. Zugleich ,als Übung in Selbstdisziplin (Sila), bildet das tugendhafte Verhalten die Grundlage für die höheren Aspekte des Bewusstseinstrainings und bildet die Basis für die weitere Vervollkommnung: “So, wie die Erde Grundlage für alles Leben ist und alles hervorbringt, was wächst, so ist Disziplin die Basis für jede spirituelle Anstrengung, und sie gebiert alle weiteren Tugenden”.

Nicht jedoch nur negative Handlungen schaffen viel Leid, wir Menschen verfügen darüber hinaus mit unserem Sprachzentrum über ein machtvolles Instrument, mit dem wir Schmerz, Leid und Uneinigkeit entstehen lassen können oder aber auch, wenn wir die Rede richtig und positiv einsetzen, die Wesen beleben und ihnen Kraft geben können.

Die dritte Ebene ethischen Verhaltens bilden unsere Gedanken, unsere Vorstellungen und Wünsche, die ebenfalls sehr kraftvoll sind, da der Geist alles zur Verwirklichung bringen kann. Alles, was wir uns wünschen und denken (besonders, wenn diese Wünsche und Gedanken viel Kraft, viel Energie bekommen), kristallisiert sich irgendwann und irgendwo. S.H. der Dalai Lama im Frühjahr 1998Auf dieser Kraft des Geistes beruht auch die Wirksamkeit des Betens. Gebete sind gewissermaßen die Äußerung von altruistischen, nicht Ich-bezogenen Wünschen – voll von Liebe und Mitgefühl sich und anderen gegenüber:

“Möge ich mehr und mehr Liebe und Mitgefühl entwickeln, um den Wesen zu nutzen”, “mögen alle Wesen glücklich sein” (…), denn das eigene Glück, so die Lehre des Mahayana-Buddhismus, folgt automatisch der Sorge um den Mitmenschen. So wie ein Gärtner Samen in den Boden pflanzt, um den Garten zu gestalten, pflanzt das Beten neue Eindrücke in den Geist, nährt und reinigt ihn. Positive Eindrücke werden dadurch aufgebaut, und Möglichkeiten (z.B. wichtige Begegnungen) entstehen aus sich selbst.

Geduld als dritte Verhaltensweise für eine spirituelle Entwicklung ist die Fähigkeit, tief im Inneren zu wissen, dass Entwicklung und Wachstum jederzeit möglich sind – und darüber hinaus noch die Gewissheit, dass diese Entwicklung auch, früher oder später, stattfinden wird und dass am Ende die volle Erkenntnis und Verwirklichung steht. Zugleich bedeutet diese Einstellung auch, mit sich selbst Geduld zu haben und nicht in spirituellen Leistungsdruck zu fallen. Zu wissen, dass Entwicklung möglich ist und auch erfolgt – jetzt oder ein wenig später.

Beharrlichkeit (Ausdauer, Disziplin) in Studium, Reflexion und Praxis entwickelt sich aus sich selbst, “befruchtet sich selbst”, wenn die richtige Motivation (Sehnsucht nach Verständnis und Erkenntnis), ethisches Verhalten und Geduld vorhanden sind. Beharrlichkeit bedeutet Werke zu studieren, Bücher zu lesen und Belehrungen zu hören, die anregend auf den Geist wirken, diese auf sich einwirken lassen, reflektieren und letztlich in praktische Handlungen umsetzen.

Meditation (Versenkung, Samadhi) ist die fünfte Stufe der Befreienden Handlungen und bedeutet die Ausführung von Übungen, die das Ziel haben, mehr Einsicht, mehr Erkenntnis zu erlangen, mehr Klarheit über den “Erleber” in uns, der alles ermöglicht, über die Natur des Geistes selbst – gleichsam das Bewässern der Samen in unserem Geist, damit sie wachsen und sich entfalten können. Durch die äußere Disziplin werden die Voraussetzungen geschaffen für die Ruhe unseres Bewusstseins, die wiederum unmittelbar in einen Zustand der Versenkung führt, zum Ruhen des Geistes in einem Punkt. Meditation bedeutet totales Loslassen – Loslassen von Bewertung, von Wegschieben und von Festhalten, die völlige Loslösung von jeglichen Mustern und Bewusst-Werden über den Raum, über das Potential, das alles ermöglicht.

Die höchste Stufe schließlich ist die völlige Erkenntnis (Weisheit, Prajna), die das ich-lose Wesen aller Erscheinungen erkennt und alle Verblendungen und Leid verursachenden Emotionen überwindet – die letztendliche Verwirklichung und Vollkommenheit, die Gesundheit auf höchster Ebene bedeutet.

Je weiter man in der Meditation fortschreitet, desto schwächer werden die Muster und Konzepte. Die Gefühle und Eindrücke in uns, die von unserer Aufmerksamkeit leben, bekommen weniger Zuwendung. Mehr Freiheit entsteht, die Ich-Illusion wird schwächer, der Geist beginnt sich zu klären und offenbart sein Potential. Deutlich zeigen sich Liebe und Mitgefühl. Der Raum wird jetzt als verbindend erlebt, ein Gefühl der Furchtlosigkeit erwächst, und die Ängste, die aus unserer grundlegenden Unwissenheit heraus entstehen, verlieren sich.

In diesem Sinne bildet die spirituelle Dimension von Heilung in der traditionellen Medizin den Kern, die Basis und die höchste Ebene des Medizinverständnisses zugleich. Die Ausbildung zum Arzt, zum Heiler im traditionellen Verständnis umfasst daher sowohl die relativen Mittel wie Kräutertherapie, Akupunktur und Massage (…) als auch die absoluten Mittel der spirituellen Entwicklung, den Weg zur Erkenntnis unserer wahren Natur und der wahren Natur des Geistes. Und ist es Aufgabe des Arztes oder Heilers, dies auch an seine Patienten und Schüler weiterzugeben – weit mehr als nur die relativen Mittel einzusetzen.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).