Was bedeutet Missbrauch in der Behandlungssituation?

Spricht man von Missbrauch in der Behandlungssituation, so kann man nach Margarete Scholze von der Beschwerdestelle des Wiener Landesverbandes für Psychotherapie zwischen kognitivem Missbrauch, emotionalem Missbrauch und sexuellem Übergriff unterscheiden:

  • Unter kognitivem Missbrauch versteht man jede Informationstätigkeit und Informationsverwertung, die nicht aus der Behandlung und ihren Zielen heraus begründbar ist.
  • Emotionaler Missbrauch liegt vor, wenn die Behandlungssituation eine wichtige Quelle für die Behandler*in ist, um ihre Einsamkeitsgefühle, ihren Mangel an Intimität und ihren Bedarf an Anerkennung abzudecken. So stehen nicht das Wohl und die Entwicklung der Klient*in im Vordergrund, sondern das Wohl der Behandler*n.
  • Als sexuellen Übergriff bezeichnet man jede Handlung, die absichtsvoll von der Behandler*in sexuell motiviert ist und in erster Linie der Bedürfnisbefriedigung der Behandler*in dient. Hier handelt es sich um eine Vermischung von professioneller und privater Ebene, da Sexualität niemals eine Behandlungsmethode, sondern eine Lebenspraxis ist.[1]Margarete Scholze bezieht sich in ihrer Darstellung auf das psychotherapeutische Setting. Sie kann aber als ethische Richtlinie auch für andere Formen der Behandlung, die ein … weiterlesen

Behandler*innen berufen sich in dieser Problemstellung oft auf die Wünsche der Klient*in, er*siesie hätte zugestimmt, ja dies sogar gefordert. Sie begründen ihre Handlungen dabei mit dem persönlichen Entscheidungsspielraum der*des Einzelnen, demzufolge erlaubt ist, worauf sich die Partner*innen in einem (verbalen) Konsens geeinigt haben. Diese, aus der Auflösung der allgemeinen Moralvorstellungen resultierende Unabhängigkeit von den „Hütern der Moral“ (wie Pädagogik und Kirche) berücksichtigt allerdings nicht die ungleiche Verteilung der Macht zwischen Behandler*in und Klient*in. Gegeben ist dieses Ungleichgewicht in der Behandlung dadurch, dass:

  • Klient*innen oft “leidend” kommen, hilflos oder verunsichert sind,
  • oft mit der Überzeugung kommen, dass sie in einem bestimmten Bereich unfähig, gestört, behindert oder unzureichend entwickelt sind, und
  • bereit sind, Hilfe anzunehmen und mitunter auch intimste Details aus ihrem Leben der Behandler*in zu offenbaren.[2]Anmerkung des Autors: Dies gilt insbesondere für die Psychotherapie, dieselben Mechanismen können allerdings auch in der Behandlungssituation des Shiatsu zum Tragen kommen, wobei der Unterschied … weiterlesen

Klient*innen schreiben dem*der Behandler*in mitunter eine große Macht zu (die von dieser häufig nicht reflektiert wird[3]An diesem Punkt ist anzumerken, dass in der Ausbildung zum*zur Shiatsu-Praktiker*in solche Aspekte häufig wohl auch nur unzureichend integriert sind (und keinen definierten Ausbildungsinhalt … weiterlesen), denn Klient*innen erfahren die Beziehung in der Behandlungssituation oftmals als etwas Besonderes. Behandler*innen stellen etwas zur Verfügung, was für Klient*innen unter Umständen nicht selbstverständlich ist, nämlich Empathie, Wertschätzung, Aufmerksamkeit, achtsame Berührung und das Wichtignehmen des*der Anderen.[4]Anmerkung des Autors: Eine korrekt durchgeführte und erfolgreich verlaufende Therapie ist deshalb (und das gilt vor allem für die Psychotherapie, die diesen Aspekt explizit einbezieht) auch dadurch … weiterlesen

Für die Psychotherapie kann man sagen, dass sie eine Dienstleistung in unfreiwilliger Freiwilligkeit ist. Je höher der Leidensdruck ist, desto unfreiwilliger ist die Freiwilligkeit der Klient*in. Aber auch für Shiatsu-Sitzungen ist zu bedenken, dass durch das Erleben von Empathie, einfühlsame Berührung u.ä.m. Abhängigkeit entstehen kann – und die Freiwilligkeit der Klient*in unter Umständen nicht in vollem Umfang gegeben ist.


Quelle

Margarete Scholze: „Berufsethik – Umgang mit Macht und Ohnmacht“. In: Psychotherapie Forum Supplement Vol. 11 No. 2, 2003, S. 41 – 43

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Margarete Scholze bezieht sich in ihrer Darstellung auf das psychotherapeutische Setting. Sie kann aber als ethische Richtlinie auch für andere Formen der Behandlung, die ein “Naheverhältnis” zwischen KlientIn und BehandlerIn beinhalten (wie z.B. Shiatsu), herangezogen werden.
2 Anmerkung des Autors: Dies gilt insbesondere für die Psychotherapie, dieselben Mechanismen können allerdings auch in der Behandlungssituation des Shiatsu zum Tragen kommen, wobei der Unterschied zwischen der Psychotherapie und Shiatsu auch in einem anderen Arbeitsvertrag liegt. Psychotherapie ist, vereinfacht gesagt, ein Beruf im Bereich des Gesundheitswesens mit Anspruch auf therapeutische Behandlung, wohingegen es sich bei Shiatsu um einen gewerblich definierten Beruf handelt. Diese scheinbar deutlichen Unterschiede und Abgrenzungen werden aber durch Erwartungen der Klient*innen (wie z.B. durch den, oftmals überhaupt nicht ausgesprochenen Wunsch nach Heilung) oder durch Aspekte in der Persönlichkeitsstruktur der Klient*innen “aufgeweicht” – aber auch unreflektierte und “verwaschene” Grenzen der Shiatsu-Praktiker*in (vgl. auch Wenn die Vergangenheit die Gegenwart belastet. Shiatsu und Übertragung) Für das psychotherapeutische Setting gilt zudem, dass in der Intimität der psychotherapeutischen Beziehung über alles gesprochen werden kann, auch über Bedürfnisse nach Regelübertretungen, über das Infragestellen von Moral, das Zulassen von verpönten und verbotenen Wünschen, Phantasien und Bedürfnissen. Es darf alles thematisiert werden, was sich die beteiligten Personen wechselseitig zutrauen und zubilligen. Zugleich aber liegt es in der Verantwortung (und auch der entsprechenden Ausbildung) des*der Therapeut*in, dass dies auf den Bereich der Phantasie und des gesprochenen Wortes beschränkt bleibt.
3 An diesem Punkt ist anzumerken, dass in der Ausbildung zum*zur Shiatsu-Praktiker*in solche Aspekte häufig wohl auch nur unzureichend integriert sind (und keinen definierten Ausbildungsinhalt darstellen).
4 Anmerkung des Autors: Eine korrekt durchgeführte und erfolgreich verlaufende Therapie ist deshalb (und das gilt vor allem für die Psychotherapie, die diesen Aspekt explizit einbezieht) auch dadurch gekennzeichnet, dass die durch diese Form der Beziehung erzeugte Abhängigkeit zunehmend aufgelöst wird, um die Klient*in mit dem Abschluss der Therapie in eine größere Freiheit zu führen.