Was tue ich im Shiatsu? Ein persönlicher Bericht nach 17 Jahren Praxis (Josef Ernst)

Vorwort

Ca. 20 Jahre nach Beginn meiner Ausbildung haben meine kritischen Überlegungen zu Shiatsu in der ÖDS Praktikerinnen-Umfrage 2016 ihren vorläufigen Höhepunkt gefunden, als ich noch einmal die Frage 20 “Shiatsu Erklärungsmodelle” mit dem Österreichischen Dachverband für Shiatsu (ÖDS) abstimmen musste. Inhaltlich und sprachlich habe ich die gedanklichen Modellierungen, die mich in meiner bisherigen Arbeit manchmal erhellend und begeisternd, oft bedrängend und ernüchternd begleitet hatten, noch einmal durchdacht.[1]Arbeit zur Erlangung des Titels „ÖDS qualified senior teacher“, März 2017. Die „Shiatsu-Umfrage 2016“ ist Teil dieser Arbeit.

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Die Mühe hat sich gelohnt. Durch die Notwendigkeit, meine Handlungen beim Shiatsu zu kategorisieren, zu hinterfragen und sprachlich möglichst präzise zu beschreiben einerseits und den Vergleich mit meinen Kolleginnen[2]Der Text verwendet abwechselnd weibliche und männliche Wortendungen, meint aber Männer und Frauen gleichermaßen. andererseits konnte ich Frieden mit all den Unwägbarkeiten, Widersprüchlichkeiten und unpräzisen Behauptungen schließen. Seither habe ich den Eindruck, dass meine Behandlungen meist eine leichte und fröhliche Grundstimmung haben – als ob es um nichts Bedeutungsvolles  ginge.

Dem ÖDS danke ich für die Unterstützung der Umfrage und den Praktikerinnen, die daran teilgenommen haben, für die bereitwillig gegebenen Antworten. Mein besonderer Dank gilt Herrn Dr. Eduard Tripp als Vermittler zum ÖDS für seine wertvollen Beiträge zu einer umfassenderen Sicht der Dinge und meinem Freund und Kollegen Oskar Peter für dessen erfrischende Kommentare.


Zusammenfassung

In dieser Arbeit beschreibe ich sechs Gedanken-Modelle, die jeweils einen mir möglichen Zugang zu meinem Verhalten während einer Shiatsu-Sitzung beschreiben. Jedes Modell hat seine Vorzüge, bleibt mir aber auch stellenweise fragwürdig. Daher unterziehe ich jedes dieser Modelle einer Kritik.

Eine gelungene Shiatsu-Sitzung besteht selten aus der Anwendung nur eines einzigen Modells, es  laufen ohnedies mehrere Vorgänge gleichzeitig ab. Der Nutzen der Modellierung meines Handelns besteht darin “vorläufig, im Augenblick zu wissen, was ich tue oder nicht-tue und mir im Klaren darüber zu sein, welche Intention ich damit verfolge. Im besten Falle wird mir während des Arbeitens der Zustand der Selbst-Vergessenheit[3]Vielleicht ist Selbst-Vergessenheit auch eine Funktion des Alterns? geschenkt, dann leert sich das Denken ganz ohne mein Zutun. Davon wird oft geschwärmt, es gibt aber meines Erachtens keine Technik dafür, außer eben konsequent immer weitere Fragen zu stellen, bis es ganz von alleine genug ist. Am Beginn einer Sitzung solange zu warten, bis dieser Zustand erreicht ist, ist mir nicht möglich. Wer Meditation kennt, weiß, dass die Dauer bis zum Eintritt in das Nicht-Denken unvorhersehbar ist. Also möchte ich meinen Kolleginnen aus eigener Erfahrung die Scheu vor der eigenen Reflexion nehmen.[4]Wenn sich jemand ohnedies sicher in seinem Tun fühlt, braucht sie diese Arbeit nicht zu lesen. Viele dieser Fragen sind bei mir erst im Lauf der Zeit entstanden und jede neue Frage macht unsicher. … weiterlesen

 “Wenn euch Denken vor und während der Arbeit bewusst wird, genießt es, aber denkt authentisch und konsequent, nehmt es nicht allzu wichtig und bleibt flexibel darin. Dann habt ihr die Chance, euch gut und sicher zu fühlen. Eine Alternative dazu ist die Konzentration auf die Materie. Hier gibt es genug zu spüren, um den phantasierenden Geist im Zaum zu halten.”

Vom bewussten energetischen Spüren halte ich sehr wenig[5]Ich überlasse das gerne den Energetikern, Geistheilern und Euro-Schamanen. Ich übe seit 21 Jahren regelmäßig Taiji und Qigong und habe etwa 12 Jahre lang Wushu ( ≈ Kungfu) trainiert. Ich nehme … weiterlesen, jeder Versuch in diese Richtung führt bei mir sofort zum Phantasieren, Reflektieren und Zweifeln.

Nach diesem privaten Bekenntnis ist der Raum frei für eine selbstbewusste und kritische Diskussion von verschiedenen Shiatsu-Handlungsmodellen. Die Dialektik lebe hoch![6]Der Begriff “Non-Dualität” ist mir vertraut, er nützt mir aber nichts. Damit mögen sich Philosophen oder Zen-Mönche die Zeit vertreiben. Ich bin hier, um zu unterscheiden und zu handeln!

Shiatsu will ein Beruf sein, ein Gewerbe, mit dem Geld verdient wird. Klientinnen sind also Auftraggeber. Es findet hier eine Geschäftsbeziehung[7]Die Klärung der Geschäftsbeziehung, des Auftrags an den Praktiker und die Annahme dieses Auftrages erlebe ich sehr schwierig. Ich muss das immer wieder neu überdenken und mit jeder Klientin in … weiterlesen statt und nicht etwa eine spirituelle Feierstunde im Gewahrsein des Eins-Seins aller Dinge. So etwas könnte nur auf Spendenbasis und klar ausgesprochen vollzogen werden. Sonst wäre es gelogen, vernebelt, unklar und würde in erster Linie das eigene spirituelle Suchen bedienen.
Zusammenfassung meiner persönlichen Ausgangssituation

  • Shiatsu ist ein gebundenes Gewerbe, eine besondere Form der Massage.
  • Intensive Auseinandersetzung mit sich selbst, betroffen sind viele Dimensionen (Körper, Sinne, Denken, Fühlen, Emotionen, Spiritualität, Persönlichkeit, Beziehungen, usw.).
  • Konfrontation mit fernöstlichen Denk- und Wahrnehmungsmustern (naturgemäß größtenteils durch westlich sozialisierte und denkende Lehrerinnen und daher durch entsprechende kognitive Filter vermittelt).
  • Konfrontation mit der Traditionellen Chinesischen Medizin (TCM) – einer alternativen, empirischen, antiken Gesundheitslehre aus einem anderen Teil der Welt.
  • Konfrontation mit Behauptungen über Meridiane als Zentrum unseres Arbeitens, einer Modellierung des menschlichen Da-Seins in all seinen Dimensionen. Die Quellen dafür sind schwer zu finden[8]Es werden viele teilweise signifikant verschiedene und immer wieder auch neue Behauptungen darüber aufgestellt (Evolution von Shiatsu).. Dass Shiatsu auch ohne Meridiane und das andauernde explizite Bemühen des Qi-Begriffes möglich ist, wurde mir leider verschwiegen.[9]Andererseits verstehe ich die Notwendigkeit, etwas “Konkretes darzustellen”, damit die ganze Disziplin auch schriftlich einord- und verhandelbar wird – gegenüber Behörden, gegenüber der … weiterlesen
  • Erlernen einer Drucktechnik, die sehr viel Disziplin und Selbstwahrnehmung erfordert, verbunden mit dem Glauben an ein Meridian-Modell.[10]Glauben ist notwendig. Fragen und Überprüfen ist genau so gut, besonders wenn der Glaube nicht den gewünschten Erfolg bringt. Vgl. Kapitel 2.1. “Ein Schritt zurück führt manchmal nach vorne.”
  • Notwendigkeit der Akquisition von Kunden mit unzureichenden Kommunikations-Mitteln. Shiatsu ist nicht leicht erklärbar, weil ein Kultur-Transfer im Raum steht, es um das Spüren statt um das kognitive Verstehen geht, weil das Ergebnis einer Shiatsu-Sitzung unvorhersehbar ist, weil es eigentlich eine Massage aber doch etwas ganz Anderes ist.
  • Breit gestreute Konkurrenz mit Gesundheits-Dienstleistern aller Art, von klassischer Massage, Physiotherapie, Chiropraktik, Osteopathie über Kinesiologie und Psychotherapie bis hin zur gesamten Palette der Energetiker wie Cranio-Sacral-Arbeit[11]Cranio-Sacral-Arbeit ist für mich keine Energie-Arbeit, sondern basiert auf handfesten, erklär- und wahrnehmbaren Schwingungen der Materie. Ich erwähne es hier nur deshalb bei den Energetikern, … weiterlesen, Geistheilung, Aufstellungsarbeit, etc.
  • Extreme Diskrepanz zwischen offizieller Kompetenz (Förderung und Erhaltung der Gesundheit), erlernter Technik und realem Kundenzustrom (therapieresistente oder unheilbare, komplexe Krankheiten, Abnützungserscheinungen, Lebenskrisen, usw.). Aufgrund des eher vagen Berufsbildes sind die Erwartungen der Kunden auch entsprechend breit gestreut. Pointiert formuliert: Theoretisch kann mit Shiatsu alles behandelt werden, für jedes Thema stehen wir aber in Konkurrenz mit Spezialistinnen, die ihre Sache besser können. Und arbeiten dürfen wir nur an Gesunden, was von den Krankenkassen natürlich nicht bezahlt wird.
  • Um ein breiteres Bild vom Berufsalltag meiner Kolleginnen zu bekommen, habe ich im Sommer 2016 eine Umfrage mit Unterstützung des ÖDS durchgeführt. Die Darstellung der Ergebnisse ist Teil dieser Arbeit und liegt bei.[12]Vgl. Ernst 2016.
  • In kaum einem anderen Beruf erlebe ich so viel Begeisterung für das eigene Tun. Nur Künstler sind noch hartnäckiger im Ertragen von unbefriedigender Einkommens-Situation oder dem Hoffen, dass irgendwann der “Durchbruch” gelingt. Bis dahin ist man geduldig, arbeitet an sich und fragt sich, ob man gut genug ist. Das rührt meines Erachtens daher, dass das Tun selbst tatsächlich sehr angenehm erlebt wird und einem immer wieder neue Einsichten beschert. Außerdem wollen wir gerne dazu beitragen, die Welt und die Menschen glücklich zu machen. Und selbst wenn die Begeisterung wegfällt, mangelt es oft an Alternativen. Der Shiatsu-Praktiker findet sich dann in einer ähnlichen Lage wie viele seiner Klientinnen, nämlich in einer schwierigen Lebenssituation.


Meine Erklärungsmodelle für Shiatsu


Ein Schritt zurück führt manchmal nach vorne


Im Laufe meiner Berufspraxis wurden die Anzeichen dafür, dass ich mir im Zuge meiner Ausbildung eine nicht haltbare Auffassung von Shiatsu angeeignet hatte, immer weniger ignorierbar. In den ersten Jahren der Ernüchterung war ich geneigt, das meiner eigenen Unzulänglichkeit zuzuschreiben, einem “Noch-Nicht-Können”, z.B. noch nicht richtig zu spüren, oder noch nicht richtig berühren, die Meridiane nicht zu finden oder nicht genug von den Zusammenhängen zwischen ihnen zu verstehen. Ein Wendepunkt ergab sich aus der Begegnung mit dem japanischen Shiatsu-Meister Kenzaburo Yoshioka im Jahr 2014 in Frankfurt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits 15 Berufsjahre hinter mir. Herr Yoshioka war damals ca. 80 Jahre alt, sehr gesund und beweglich, bezeichnete sich selbst als Vertreter des KANSAI-Stils und war Mitglied der staatlichen japanischen Kommission zur Beurteilung von Shiatsu-Zwischenfällen. Für mich stellte er ein bedeutend besseres Vorbild als Herr Masunaga dar, dessen Tod durch Krebs ich als einen Widerspruch zwischen Lehre und Praxis sehe.[13]Ich habe Widerstände dagegen, eine Lehre über das Leben und die Gesundheit zu übernehmen, die von jemandem stammt, der früh (ausgenommen durch Unfälle) stirbt. Außerdem hatte ich schon immer Schwierigkeiten mit dem Spüren von Qi, ohne das im Masunaga-Shiatsu sinnvolle Interventionen jeglicher Grundlage entbehren – so hatte ich zumindest alle jene verstanden, die mit diesen Begriffen gerne hantieren. An Herrn Yoshiokas Ausführungen und Unterricht fielen mir folgende Dinge sehr angenehm auf:

  • Der Begriff “Qi” wurde NIE verwendet. Auf eine diesbezüglich Frage, antwortete die Übersetzerin spontan aus sich heraus “Die Interpretationen von Qi im Westen basieren ohnedies meist auf Übersetzungsfehlern.”
  • Der Begriff “Meridian” wurde NIE verwendet.
  • Die Begriffe “Tonisieren” und “Sedieren” wurden NIE verwendet, vielmehr war von “Spannung erzeugen” und “Spannung lösen” die Rede.
  • Die Phrase bzw. die Aufforderung, etwas “zu spüren” wurde NIE ausgesprochen.
  • Es gab KEINE Diagnostik, sondern nur “häufig günstige Handlungen”.
  • Es ging um “Ausübung von Druck mit unterschiedlichen Zeit-/Intensitäts-Gradienten” um verschiedene Wirkungen bezüglich des Gewebe-Tonus zu erreichen zu versuchen.
  • Es ging um eine “angemessene” Körperhaltung.
  • Wir erhielten eine geschichtliche Abhandlung über die Entwicklung von Shiatsu in Japan, verschiedene Strömungen und Auseinandersetzungen mit anderen manuellen Körpertherapien. “Masunaga” kam darin nicht vor.


Der Nachgeschmack, den die Übungsbehandlungen an mir hinterließen, war “erfrischend, klärend” anstatt “benebelnd, kosmisch, Trance-artig”, wie ich es im Austausch mit Kolleginnen in Österreich oft erlebt hatte.

Nach dieser Begegnung war mein Selbstbewusstsein soweit gestärkt, dass ich mir eine fundamentale Kritik an meiner Vorstellung von Shiatsu erlauben konnte. Wenn ein japanischer, anerkannter Shiatsu-Meister ohne die Verwendungen der Wörter “QI”, “Meridian” “Spüren” und “Masunaga” auskommt, dann sind diese Dinge vielleicht gar nicht so wichtig, sondern es geht im Kern um etwas ganz anderes. Ich habe mich auf die Suche nach diesem Kern gemacht, viel mit Kolleginnen diskutiert und schlussendlich ein(ig)e Frage(n) in der Umfrage unter den österreichischen Shiatsu-Praktikerinnen im Jahr 2016 zu diesem Thema entworfen. Das Ergebnis hat mich in der Annahme bestätigt, dass Meridiane und TCM[14]Ich erhebe nicht den Anspruch, die TCM zu verstehen. Ich kann nur über das sprechen, was mich gelehrt wurde. nur mögliche Gesichtspunkte von Shiatsu sind.

Bedenkt man, dass Masunaga ein Schüler von Namikoshi war und die explizite Meridian-, Qi- und TCM-Theorie erst durch Masunaga in das damals übliche Shiatsu integriert wurde[15]Vgl. http://www.wikiwand.com/de/Masunaga_Shizuto., sehe ich mich nunmehr als jemanden, der diesen Schritt trotz eifrigen Bemühens seiner Lehrerinnen und seiner selbst im Erleben nicht ausreichend nachvollziehen kann. Ich bin also in meiner Wahrnehmung von Körper, Leben und wohltuendem Drücken und Lehnen (beinahe) eigenständig in der Zeit vor Masunaga gelandet und fühle mich nun in meiner Praxis dem Namikoshi-Stil nahe. Andererseits stellen die Ideen von und über Meridiane gedankliche Modellierungen dar, die ich nicht missen möchte.[16]Vgl Ernst 2012, “Mythen, Märchen, Meridiane”.,[17]Noch etwas amüsiert mich nun ein wenig: Mir wurde und wird immer wieder vorgeworfen „zuviel zu denken“ – und siehe da: im Shiatsu ist mir ein Stil, der weniger gedankliche … weiterlesen

Shiatsu ist für mich nun “die Herstellung einer therapeutischen Situation durch Körper-Kontakt, in der vieles möglich aber nichts vorhersehbar ist. Der Mensch als Ganzes (körperlich, seelisch und geistig) wird wohlwollend und achtsam wahrgenommen und berührt. Diese Form der Aufmerksamkeit und Zuwendung macht Veränderung und Wachstum möglich. Außerdem wird intensiver Druck an der Grenze zum Schmerz von den meisten Klientinnen bedeutungsvoll und belebend wahrgenommen.” Diese Beschreibung von Shiatsu will nicht neu oder originär sein, aber mein Verständnis dafür war lange Zeit durch die Thesen der Meridian-, Tsubo-, und TCM-Modelle überdeckt, gleichsam zugeschüttet.

Was mir also hier zu erzählen bleibt, ist eine sehr persönliche Beschreibung/Kategorisierung verschiedener, mir derzeit bewusster Zugänge zu der oben erwähnten Schaffung einer therapeutischen Situation, sowie das Hinweisen auf die kommunikativen Fallen im öffentlichen Diskurs (Rechtfertigung, Berufsbild, Abgrenzung zur Esoterik, PR-Maßnahmen), sowie die Fallen im eigenen Denken. In den nächsten sechs Kapiteln werden diese einzelnen Shiatsu-Zugänge näher beleuchtet, in aufsteigender Reihenfolge der Anzahl der Nennungen, die bei der ÖDS-Praktikerinnen-Umfrage im Herbst 2016 abgegeben wurden.

Vielleicht spiegelt diese Reihenfolge auch den Reifeprozess eines westlich geprägten und daher kognitiv orientierten angehenden Therapeuten wider: zuerst wird der theoretische Hintergrund und die Denkweise der fernöstlichen Gesundheitsauffassung mit Begeisterung erlernt (TCM), dann erfolgt die Erweiterung dieses Modells durch die Einsichten von Masunaga, dann dehnen sich die Möglichkeiten im Bewusstsein der Praktikerin noch weiter aus und transzendieren Raum und Zeit (multidimensionales Shiatsu), dann wird einem langsam klar, dass gar nichts funktioniert, wenn die Klientin nicht dazu bereit ist (Förderung der Eigenverantwortung), dann findet man zurück zur Realität erster Ordnung (Arbeit mit der Materie, den körperlichen Strukturen) und dann wächst die Einsicht, dass Heilung nur von Mensch zu Mensch (Berührung und Begegnung) geschehen kann und dabei selten Konzepten folgt. Shiatsu-Kunst braucht also vielleicht zyklisches Lernen[18]Vgl. Ernst 2012, 16 “Verstehen und Lernen im Mythos”., bei dem die gleichen Fragen immer wieder gestellt werden, allerdings bei jedem Durchlauf aus einer neuen Perspektive heraus und mit tieferer Sicht und Einsicht.

Erklärungsmodelle
Abbildung 1: Meine Shiatsu-Zugänge (Erklärungsmodelle

Der Fragetext zu den 6 Shiatsu-Erklärungsmodellen lautete:

“Welche Erklärungsmodelle/welche Aspekte von Shiatsu sprechen dich am ehesten an, sind Basis deines Arbeitens und hältst du für die Beschreibung von Shiatsu für wesentlich?”

Für die Antwort standen den Praktikern 3 Plätze zur Nennung zur Verfügung, wobei nur am ersten Platz eine Auswahl erforderlich war, eine Nennung auf Platz 2 und 3 war freiwillig. Die 6 Auswahlmöglichkeiten (Modelle) waren vorgegeben. 436 Praktikerinnen haben an der Umfrage teilgenommen.

Erklärungsmodelle - Reihung nach Nennungen
Erklärungsmodelle gereiht nach Nennungen
Blau: Anzahl der Nennungen
Rot: Nennungen gewichtet

Abbildung 2: Bewertung der 6 Erklärungsmodelle (436 Teilnehmer)[19]Quelle: Ernst 2016, ÖDS-Praktikerinnen-Umfrage 2016, Frage 20.


Modell 1: Arbeit mit QI nach TCM


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Qi = Leben (oder auch Qi = Struktur + Information + Funktion) strömt durch den gesamten Körper, macht ihn aus und steht auch im Zusammenhang mit Emotionen und Denkmustern. In den Meridianen und Tsubos der TCM ist Qi besonders wahrnehmbar und zugänglich. Auf Basis einer energetischen Einschätzung des IST-Zustandes durch Tasten, Zuhören, Schauen, Riechen usw. wird der Sollzustand des „freien und harmonischen Flusses von Qi“ durch Tonisieren, Sedieren, Umleiten, Staus Lösen, usw. angestrebt. Die Beobachtungen und Maßnahmen sind wissensbasiert (wenngleich es sich um fremdes und nach westlichen Standards vielfach unüberprüftes Erfahrungswissen handelt), kausal und ziel-orientiert.


Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

  • leichte Verständlichkeit und Lehrbarkeit
  • Wissen erzeugt Selbstbewusstsein
  • klare Abfolge: Intervention erfolgt auf Basis einer diagnostischen Einschätzung, die Therapeutin weiß also, was zu tun ist und kann das auch ihrem Klienten erklären.

Das gewohnte Therapeutische Modell “Hier ist eine Fachfrau, die mir helfen kann” gibt der Klientin Sicherheit und schafft eine gute Ausgangsbasis für einen Heilungserfolg.


Wie ist das lehr- und lernbar
Die Lehrsätze der TCM sind gut darstellbar. Die Theorie der 5 Elemente ist kognitiv nachvollziehbar und darüber hinaus ein intellektuelles Vergnügen. Daher eignet es sich gut für Skripten, Lehrpläne und zur Begründung von Akademien. In der Praxis ergeben sich oft Mehrdeutigkeiten, was Teil der ersten Lektion im Aufgeben des Kausalitätsprinzips ist.


Öffentliche Kommunikation

Das Lehrgebäude ist sowohl für aufgeschlossene Medizinerinnen als auch für Laien verständlich. Der exotische Charakter von “China” ist manchmal nachteilig, für Menschen mit einer Neigung zum Alternativen jedoch attraktiv. Die Mehrdeutigkeiten, bzw. Nicht-Kausalitäten können als fernöstliche, höhere Einsicht vermarktet werden.


Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Die TCM wird gerne als theoretischer Hintergrund für die Arbeit mit Meridianen verwendet. Nicht alle zentralen Begriffe der TCM, z.B. “Sedieren”, “Tonisieren”, “Ausleiten”, “Hitze”, “Kälte” sind mit Shiatsu bearbeitbar. Es wird an dieser Stelle sichtbar, dass es sich um zwei verschiedene Disziplinen handelt, deren konsequente Verquickung nicht zielführend ist. TCM ist meines Erachtens wesentlich stärker kausal orientiert. Die Behandlung folgt zeitlich gesehen auf die Befundung. Im Shiatsu dagegen entstehen während der Behandlung andauernd neue Wahrnehmungen und Handlungsimpulse. Die Behandlerin lässt sich vom Qi führen. Alleine durch das Betrachten/Berühren eines Tsubos oder Meridians (also bereits während der Befundung) kann sich dessen Zustand verändern. Wahrnehmung und Intervention verschmelzen also zeitlich miteinander.

Auch die Bedeutung der Zeit bzw. der Geschichte unterscheidet TCM von Shiatsu. Wenn eine Klientin seit der Jugend an Übergewicht leidet, prinzipiell gerne Schokoladekuchen isst und aktuell eine Beziehungskrise durchlebt, wird eine Shiatsu-Behandlung, die sich an der mir möglichen TCM-Diagnostik orientiert, weniger nützlich sein, als eine Shiatsu Basis-Ganzkörperbehandlung: Mir würden sich bei dem Versuch einer Einschätzung nach TCM mittels Anschauen des Körpers und der Zunge wahrscheinlich die Begriffe „Feuchtigkeit“ und „Milz-Qi-Mangel“ aufdrängen, also langfristige Zustände. Puls-Diagnostik (die den aktuellen Zustand besser wiedergibt) beherrsche ich nicht, also bleiben mir nur Ideen und Assoziationen der Art „Herz-Konstriktor ist gut für emotionale Themen“ oder „Lenkergefäß beruhigt den Geist und schließt vielleicht wieder an den Sinn an.“ oder „Die Leber ist sicher auch unglücklich.“ Was soll ich nun mit all diesen Ideen anfangen? Es kann also leicht zu einer unnötigen Verkomplizierung kommen. Mit einer Standard-Ganzkörperbehandlung dagegen fühle ich mich sicher – in der geschilderten Situation auch etwas sehr Wertvolles.

In meiner Rolle als Shiatsu-Therapeut habe ich oft damit zu kämpfen, dass ich genau weiß, was für meine Klientin aus Sicht der TCM schädlich ist und gut wäre, ihre Lebenssituation und ihre Konditionierung bzw. Sozialisierung lassen das aber nicht zu. Beispiel: Eine AHS-Lehrerin mit “Milz-Qi-Mangel” und viel sichtbarer “Feuchtigkeit” kommt häufig auf Grund des Stundenplanes von 8:00 bis 16:00 nicht zu einer vernünftigen warmen Mahlzeit. Sie benötigt daher zwischendurch schnelle Energielieferanten in Form von Schoko-Nuss-Riegeln, isst dann am Abend zur Belohnung für die erbrachte Leistung gut und bewusst und wundert sich, warum ihre Bemühungen zur Gewichtsreduktion nicht greifen. Soll ich ihr zu einem Berufswechsel raten?! Oder ihr Gesprächstherapie empfehlen „um ihr Lebens-Konzept und die Folgen daraus (auf Grund eines gesellschaftlichen Organisationsproblems) zu überdenken?“


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Der Mensch wird als mehr oder weniger gut funktionierendes Muster gesehen und bewertet. Seine Einbettung in Gesellschaft und Kosmos wird zwar betont, logischerweise kann aber nicht auf aktuelle Zustände der Gesellschaft Bezug genommen werden. Es ist fraglich, ob die Situation eines Menschen im alten China unreflektiert auf jene eines im 21. Jhdt. in Österreich (Informationszeitalter, sichtbare Grenzen des Lebensraumes Erde, Aufklärung, Demokratie, Emanzipation, usw.) Lebenden übertragbar ist.


Modell 2: Arbeit mit Qi nach Masunaga


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Es werden zusätzliche Meridianverläufe postuliert und die Verbindung zwischen 2 Punkten/Zonen rückt weiter in den Vordergrund (2-Hand-Shiatsu). Das „Hier und Jetzt“ wird betont und führt zur Frage „Was will JETZT und VON MIR berührt werden“. Datensammlung und rationale Verknüpfung des Beobachteten wird als kopflastig und eher störend empfunden. Es braucht daher eine andere Entscheidungshilfe zum Finden einer optimalen Intervention, wie z.B. „energetische Haradiagnose“  oder „Fingertest nach Saito“, usw.


Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

Shiatsu als Arbeit an den Meridianen emanzipiert sich von der TCM-Theorie. Was im Menschen geschieht und was er wirklich JETZT braucht, wird nun nicht mehr so modellhaft abgehandelt. Wir kommen der Unfassbarkeit des Lebens näher und gehen durch unsere Arbeit unmittelbar darauf ein.

Die Meridiane sind nun nicht mehr nur die Verbindungen der klassischen Akupunktur-Punkte. Die nahe liegende Idee, dass Qi-Funktionen an Armen und Beinen gleichermaßen spürbar sind, wird konkretisiert. Tetsuro Saito behauptet, dass in einem konkreten Menschen die Meridiane ihre Lage verändern und dadurch ein Ungleichgewicht zum Ausdruck bringen.[20]Vgl. Saito 2009, 15ff Aus meiner Sicht werden Diskussionen über die genaue Lage überhaupt entbehrlich. Die Meridiane können als breite, mehrdimensionale Ströme vorgestellt werden, die es (intuitiv[21]Intuition kann auch als nicht-reflektierte Zusammenfassung einer Vielzahl von Daten (Erfahrungen – auch über Generationen weitergegebener) betrachtet werden. Manchmal ist Intuition nützlicher als … weiterlesen) zu erfassen gilt.[22]Auch ich spüre etwas: das lässt sich aber mit herkömmlichen, wenngleich durch Übung besonders geschärften Sinneswahrnehmungen beschreiben, z.B. als Wärmegradienten, unterschiedliche … weiterlesen In der Sprache des radikalen Konstruktivismus könnte man es auch so ausdrücken: “Der Meridian ist dort, wo ich ihn mir vorstellen=erleben kann”. Wenn wenig los ist, ist das Qi schwach und ich muss danach genauer und länger suchen.

Es sind auch gänzlich neue “Flüsse” erfahrbar, z.B. Spiralen, Ringe, Super-Vessels von Ryoku Endo. Ich denke, von der Idee her kommt das der Realität des Menschen näher, allerdings wirft es auch neue Fragen und Unsicherheiten auf.


Wie ist das lehr- und lernbar

Es wird in diesem Zusammenhang viel behauptet im Sinne einer “Existenz” von Schwingungen, die es zu erfühlen gilt. Gleichzeitig wird auf die Interferenz zwischen Beobachtetem und Beobachter hingewiesen bis hin zur angestrebten Auflösung dieser Dualität. Dieser Widerspruch und seine Konsequenzen werden aber selten genauer diskutiert. Was sollen derlei Darstellungen und Beschreibungen aber mehr bedeuten als eben eine Dokumentation der Erlebnisse dessen, der sie in einer bestimmten Situation gemacht hat? Wenn etwas nicht reproduzierbar und halbwegs objektivierbar ist, habe ich wenig Appetit darauf, es zu lernen = nachzuvollziehen, ist doch meine Realität eine andere. Ich erlebe in einer konkreten Situation auch etwas – eben meine Wahrnehmung, nicht mehr und nicht weniger. Als bestes Beispiel für diesen seltsamen Widerspruch möchte ich meine Erlebnisse mit der energetischen Hara-Diagnose schildern. Wenn meine Wahrnehmungen weder richtig noch falsch sind, kann ich diesen Vorgang auch nicht reflektieren und nicht üben. Das Spektakel also einfach nachahmen und so tun, als ob ich etwas empfinden würde (Motto: “Du SOLLST irgendwo ein Kyo spüren!”), in der Hoffnung, dass nach vielen Nachahmungen daraus ein wertvoller, ernst zu nehmender Vorgang werde? Mir geriet das immer zu einem Schauspiel, das mir mehr Zweifel und Verunsicherung als griffigen Ausgangspunkt für eine sinnvolle Behandlung bescherte. Mittlerweile (nach 17 Jahren) betaste ich auch manchmal den Bauch, wenn ich sonst keinen Impuls für einen Behandlungseinstieg erhalte. Ich tue das aber nicht auf der Suche nach einem “energetischen Erlebnis” sondern als Untersuchung der Spannungsverhältnisse im Gewebe in verschiedenen Tiefen.

Als praktikableres Training kann ich mir vorstellen, die Schülerin das Hara und seine Zonen betasten zu lassen mit dem Auftrag: „Vielleicht findest Du einen Zugang zu der Person vor Dir – eine Idee, mit welchem/welchen Meridian(en) du arbeiten möchtest? Wenn nicht, dann bleib so lange entspannt sitzen, bis du einen Impuls in irgendeine Richtung bekommst!“ Über diese Impulse kann dann gesprochen werden, aber jede und jeder in seinen eigenen Worten – ohne den Zwang der vorgefertigten Schablonen „Kyo“ und „Jitsu“, zu deren Bedeutung ohnedies wieder jede einen anderen Zugang hat.


Öffentliche Kommunikation

“Wir bringen durch Berührung der Meridiane den Menschen in Balance und unterstützen das freie Fließen von Energie.” Nicht jeder Mensch glaubt an Meridiane und dass das Leben als “fließende Energie” beschreibbar ist. Wollen wir auf diese Ungläubigen in unserer Praxis verzichten oder wollen wir sie aus ihrer Unwissenheit erlösen oder wollen wir uns kraft unseres angenommenen “Mehr-Wissens” wie Ärzte “von oben herab” verhalten?

Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Wir sind auf die Wahrnehmung von Qi angewiesen, diese ist aber nicht immer gegeben.

Der Umgang mit Situationen, in denen ich nichts spüre, wird nicht reflektiert und geübt, sondern die Wahrnehmung von Qi wird als Grundlage des Shiatsu postuliert. Das führt dann zur ungemütlichen Situation, dass ich mich schäme (dass ich nicht genug spüre), unsicher werde oder ins “Herumwerkeln” flüchte. Selbst-Sicherheit ist aber ein wichtiges Tonikum für den Behandlungserfolg und die Kundenzufriedenheit.

Selbst wenn ich den Eindruck habe, dass die Sitzung gut war und das Qi großartig und harmonisch zu fließen begonnen hat, stellt sich die erwünschte Veränderung im Leben der Klientin dennoch oft nicht ein. Das führt unweigerlich zu den Fragen: “Was habe ich falsch gemacht?” oder “Wozu die ganze Theorie, wenn sie mir nichts nützt?” An dieser Stelle könnte ich meine Ausbildung in Frage stellen, mich zum Besuch von weiteren Seminaren entschließen oder die ganze Theorie als schwach einstufen.


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Die kritische Reflexion des Qi- und Meridian-Begriffs (Dimensionen, Verläufe, Abweichungen, sinnlicher Zugang) fehlt. Durch das Hochstilisieren des fernöstlichen Meister-Prinzips wird das Denken und Fragen als unerwünschte Geste abgewertet. Ich hätte nichts gegen eine konsequente Hinwendung zu Glauben und Nachahmung. Dann müsste sich aber die gesamte Shiatsu-Aus- und Fortbildungsszene vom kognitiven Überbau befreien und sich auf das Trainieren von Körperhaltung und Sinneserfahrung konzentrieren.

Soul Goodman schreibt in seinem Newsletter vom 29.11.2016:[23]Vgl. http://www.shintaiinternational.com

Why all this information about traditional shiatsu?

I am inspired to share this material at this time because I have seen many bodyworkers growing frustrated and bored with the application of complex diagnosis and rigid protocols. I see them struggle to give strong, effective sessions that build a thriving practice. A practitioner may know many techniques and concepts but not be generating chi flow within treatments, which is the factor that creates the most positive and reliable results.

Although modern meridian treatment is very valuable, it is best combined with a strong foundation of more simple, whole body chi techniques. This information been dropped from many curriculums during these last decades of shiatsu standardization and accreditation.


Modell 3: Multidimensionale Arbeit mit Qi


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Der gesamte Kosmos wird als Netzwerk aus Information (die sich stellenweise zu trägerer Materie verdichtet) und Alles mit Allem verbunden betrachtet. Daher ist Veränderung durch fokussierte Aufmerksamkeit in der richtigen Haltung möglich. Zeit und Raum spielen dabei keine Rolle mehr. Es wird nichts erwartet oder angestrebt. Alles, was passiert, ist richtig. Die Handlungen der Praktikerin können auch ohne Berührung des Körpers in der Aura oder nur im Bewusstsein stattfinden.


Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

Beschränkungen und Widersprüchlichkeiten unserer 4-dimenisonalen Realität (Raum-/Zeitkontinuum) fallen weg.

Fragen nach der Verantwortung für meine Handlungen (= therapeutische Interventionen) werden überflüssig.

Ich brauche nicht mehr zu reflektieren und mich auch körperlich nicht mehr zu bewegen – konsequent gedacht brauche ich nicht einmal eine Praxis dafür bereitstellen. Am Praktischsten erscheint mir überhaupt, die Klienten überweisen einfach das Geld oder sie verzichten auch auf dieses Ritual und werden einfach so gesund. “Als Jesus ihn liegen sah und vernahm, dass er schon so lange krank war, spricht er zu ihm: Willst du gesund werden? Der Kranke antwortete ihm: Herr, ich habe keinen Menschen, der mich in den Teich bringt, wenn das Wasser sich bewegt; wenn ich aber hinkomme, so steigt ein anderer vor mir hinein. Jesus spricht zu ihm: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin! Und sogleich wurde der Mensch gesund und nahm sein Bett und ging hin. Es war aber Sabbat an diesem Tag.” (Bibel, Johannes 5, 6-9). Wer mir Gotteslästerung oder Zynismus unterstellen möchte, weil ich an dieser Stelle einen Vergleich mit Jesus anstelle, selbst aber die multidimensionale Arbeit mit Qi erfolgreich praktiziert, den bitte ich herzlich, mich zu kontaktieren. Ich würde mich über eine ernsthafte Begegnung und Auseinandersetzung sehr freuen. Ich kann die Grenze zwischen dem, was machbar und zulässig, also “erlaubt” und dem, was als Größenwahnsinn bezeichnet werden muss, selbst nicht erkennen. Daher praktiziere ich diesen Zugang zu Shiatsu nicht.

Der Zusammenhang zwischen Religion und Heilung interessiert mich jedoch sehr.[24]Vgl. Brabec de Mori 2013, Religion=Medizin,[25]Vgl. Thetter 1980, 15ff

Auch im Shiatsu ist der Aspekt „Ritual“ wohl ein Wirkungsfaktor (leider meist unreflektiert).


Wie ist das lehr- und lernbar?

Dieser Zugang braucht nicht gelernt zu werden und ist daher, abgesehen von der Ermunterung es zu tun, auch nicht lehrbar. Er muss nur gelebt werden (können) – in großer Naivität (“weil die Quantenpyhsik auch so ähnlich funktioniert”) oder mit großer Hingabe an eine Autorität (“weil eine  Meisterin ein Video dazu gemacht oder mich dazu autorisiert hat”) oder selbst-ermächtigt mit großem Mut.


Öffentliche Kommunikation

Dieser Zugang sollte nicht öffentlich diskutiert werden. Es kann nur Verwirrung daraus entstehen.


Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Augenblicke, in denen sich mir ein solcher Zugang eröffnet, sind selten.


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Der Verstand und ein kommunizierbares Berufsbild.


Modell 4: Förderung von Eigenverantwortung


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Die Praktikerin verhilft dem Klienten dazu, sich in all seinen Dimensionen besser zu „spüren“. Auf diesen ersten, wichtigsten Schritt folgt der nächste, der allerdings vollständig im Verantwortungsbereich der Klientin liegt: sich selbst für ein Leben zu entscheiden, das sich „gut anspürt“.


Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

Die Frage nach der Verantwortung für die Interventionen des Therapeuten stellt sich weniger heftig.

Der Zustand eines Menschen hängt maßgeblich von seinen Lebensgewohnheiten ab. Verbesserungen im Gesundheitszustand gehen also mit Veränderungen der Lebensführung Hand in Hand. Wenn wir nur den Zustand des Menschen behandeln, stehen wir oft auf verlorenem Posten und die unerwünschten Symptome kehren immer wieder zurück.

Dieser Zugang macht uns zu Begleitern auf einem sehr persönlichen Entwicklungs-Weg, zu Therapeuten, die nicht durch ihre Behandlung, sondern durch ihr persönliches Sein als Orientierungspunkt wirken.

Die bewusste Entscheidung, lange Zeit immer wieder zum Shiatsu zu kommen – “auch wenn sich nichts ändert” – und dann plötzlich nicht mehr, hat sehr viel mit Eigenverantwortung zu tun.

Dass sich die Klientin nach einer Shiatsu-Behandlung “einfach gut fühlt” stellt keine besonderen Herausforderungen an unsere Arbeit dar und entspricht genau unserer gewerblichen Position.

Das ist das beste Modell für den Aufbau von Stammkunden, die für eine gut funktionierende Praxis sehr wichtig sind.[26]Vgl. Ernst 2016, Frage 17


Wie ist das lehr- und lernbar

Als Fahrzeug für diesen Lern-Prozess steht uns in erster Linie das unmittelbare sinnliche Erleben zur Verfügung, sowohl beim Lernen als auch bei der Weitergabe von Eigenverantwortung.

Schritt 1: Die Praktikerinnen müssen verstehen, was Eigenverantwortung bedeutet. Als Hilfsmittel schlage ich intensives, vorbehaltloses Berichten über ihre Eindrücke während der Ausbildung bei Übungsbehandlungen vor. “War angenehm” ist zwar nett aber wenig hilfreich. Vor allem Aussagen darüber, was nicht so angenehm war, oder wonach wir uns gesehnt hätten, scheinen mir wesentlich hilfreicher. Dabei kann auch das Gefühl für den Unterschied zwischen “Ich brauche dies und das” und “Du hast das schlecht gemacht.” geschärft werden. Die klare Unterscheidung zwischen “meinen Bedürfnissen” und “deinen Handlungen” ist eine wesentliche Voraussetzung für die Möglichkeit einer Begegnung. Auch die Einsicht, dass “ich dir das nicht geben kann, was du brauchst”, ist äußerst wertvoll und reinigend. Mit der Klarheit über den Stand der Beziehung in dieser Hinsicht ist auch psychischer Selbstschutz gegeben. Wir müssen es aushalten lernen, dass wir nicht jedes Bedürfnis befriedigen können.

Zwischen den Erlebnissen „Ich bin völlig getrennt und alleine der Existenz ausgeliefert.“ und dem „Wir sind eins.“ liegt eine Bandbreite verschiedener Grade von Verbundenheit. Das Einheitsgefühl erinnert uns – vorübergehend – an einen kindlichen aber auch einen transzendenten Zustand, aus dem heraus positive Einsichten und auch Veränderungen für das aktuelle Leben entstehen können. Eigenverantwortung besteht darin, diese Zustände sinnvoll in die Realität einordnen, in und mit ihnen manövrieren und sie zur Gewinnung von Lebensfreude nutzen zu können.

Schritt 2: Ausgestattet mit der Einsicht, dass ich als Therapeut ich bin und jemand anderer als die Klientin, kann ich die Klientin dazu ermuntern, immer mehr “sie selbst zu sein”, indem sie ihre Bedürfnisse wahrnehmen lernt, darauf achtet und auch die Erlaubnis bekommt, diese zu äußern. Nachfragen, “wie die Intensität des Drucks erlebt wird” ist ein erster Schritt in diese Richtung und bringt oft unerwartete Antworten. Es können vom Klienten auftauchende Empfindungen oder Einsichten während Shiatsu geäußert werden. Die Praktikerin bleibt dabei aufmerksam ruhig und spinnt diese Dinge nicht weiter, sondern hört einfach zu und nimmt sie zur Kenntnis.[27]Ausgezeichnete Anregungen und Beispiele für gelungenes Sprechen während der Behandlung sind bei Itin 2007, 185ff zu finden. Sie werden über die Intuition unter Umständen den Impuls für die nächste Shiatsu-Handlung liefern. Das wäre auch eine Manifestation des Grundsatzes, sich vom Qi führen zu lassen.

Den Transfer des Gesprochenen vom Shiatsu-Raum, in dem das Bewusstsein körpernäher arbeitet, in ihre Lebensrealität muss die Klientin dann selbst bewerkstelligen (wollen).


Öffentliche Kommunikation

“Shiatsu gibt Ihnen ein Gefühl dafür, was Ihnen gut tut!” wäre sicher nicht zu viel versprochen.


Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Wir sind darauf trainiert worden, zu glauben, dass wir mehr wissen als unsere Klientinnen. Diese Überzeugung ist einerseits sehr hilfreich (weil Glauben und Hoffnung auf Heilung tatsächlich förderlich sind), andererseits auch ein Korsett, das die Entwicklung des Klienten behindern kann. Das an die Ärzteschaft herangetragene Bild der “Götter in Weiß”, wird als Konsum-Haltung zu Recht kritisiert, allerdings trifft diese Metapher auf die “Manipulierer des Qi-Feldes” genau so zu. Wir sind da gerne auf einem Auge blind.

Beim Geschäftsabschluss zwischen Klientin und Praktiker könnte dieses Thema besprochen werden.[28]Das Unterschreiben des üblichen “Ich bin selbst verantwortlich…”-Formulars, dem ja ein ganz anderes Motiv zugrunde liegt, nämlich das Freispielen des Praktikers von der Verantwortung für … weiterlesen Eine Erwartungshaltung der Klasse “Ich habe Schlafstörungen – bitte machen Sie das weg!” ist oft bei Klienten gegeben und wir steigen gerne darauf ein. Oft funktioniert es auch, manchmal aber auch nicht. Dann fühle ich mich schlecht.


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Unser Bedürfnis nach “machen können”, nach Macht also.

Des Klienten Erwartung nach einer bestimmten Leistung für sein Geld, sofern diese Frage nicht geklärt ist. Die konsequente Position zu der Frage nach dem Honorar und der Leistung, die dafür erbracht wird, müsste also lauten: „Ihre Gesundheit liegt einzig in Ihrer Hand und Verantwortung. Die einzige Leistung die ich erbringe, liegt darin, dass ich mich 50 min mit Ihnen beschäftige.“ So wurde mir das zwar während der Ausbildung mit einem kurzen Satz klar gemacht, diese Haltung zu integrieren, wenn gleichzeitig viel Zeit auf die Erläuterung des Nutzens der einzelnen Tsubos und gut funktionierender Meridiane, dem Tonisieren, Sedieren und Ausgleichen verwendet wird, ist für mich eine schwer zu erbringende Meisterleistung.


Modell 5: Arbeit mit den körperlichen Strukturen


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Durch Druck und Bewegung werden Haut, Bindegewebe, Muskel, Nerven, Faszien, Knochen, Gelenke, usw. gezielt stimuliert. Dadurch entstehen Verbesserungen hinsichtlich Durchblutung, Tonus verschiedener Strukturen, Reizverarbeitung, (körperlicher) Selbstwahrnehmung und Beweglichkeit. Bei den Fragen nach dem „WO, WIE und in welcher Abfolge soll gearbeitet werden“ bedienen wir uns Erfahrungswissens aus Japan (Anma, Shi-Atsu), Thailand (Nuad), China (Tuina) und westlichen Faktenwissens der Anatomie, Osteopathie und Physiotherapie.

Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

Das ist ganz einfach erklärbar.

Das ist sicher nicht esoterisch.

Das ist beobachtbar, messbar, kritisierbar und diskutierbar. Damit entspricht es unserem gewohnten, aufgeklärten Standard im Denken und in der Wissenschaft.


Wie ist das lehr- und lernbar

Sowohl theoretisch (Anatomie, Physiologie, traditionelle Behandlungs-Abfolgen) als auch praktisch (Ausführung von Druck, Dehnung und Bewegung) sind dem Lernen und dem Üben keine Grenzen gesetzt.


Öffentliche Kommunikation

Diese gestaltet sich sehr einfach und entspricht unserer derzeitigen rechtlichen Einordnung. Es müsste nur betont werden, dass wir beim Shiatsu eine Technik anwenden, die in der Welt der Massage einzigartig ist, nämlich den “anhaltenden, geraden und differenzierten Druck in Richtung Zentrum des Körpers”. Damit können wir uns deutlich abgrenzen und werden unverwechselbar.

Die Erwähnung von “Qi” (oder gar “Energie”) in der Öffentlichkeit wäre bei diesem Shiatsu-Zugang entbehrlich. Als Insider wissen wir, dass körperliche Strukturen und Funktionen auch Repräsentationen von Qi sind – wir arbeiten damit und müssen uns nicht darüber öffentlich unterhalten. Andererseits sind potenzielle Klientinnen gerade von dem Mehrwert, der durch das Wissen um Qi entsteht, angezogen. Sonst würden sie ja einen Heilmasseur, Osteopathen oder Chiropraktiker aufsuchen.


Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Da wir uns mit einem sehr breiten Feld an Methoden der Körper-Arbeit auseinandersetzen, werden alle Techniken nur oberflächlich erfasst. Ich habe in konkreten Situationen oft die Sehnsucht nach mehr und konkreterem Wissen aus Anatomie, speziell der Osteopathie, oder physiotherapeutischen Konzepten.[29]Diese Sehnsucht liefert aber auch ein starkes Motiv für das Weiterlernen.

Wenn es um Abnützungserscheinungen oder das Thema des Alterns an sich geht, ist der strukturelle Zugang zu Shiatsu naturgemäß ein Kampf auf verlorenem Posten.

Bei psychischen Fragestellungen habe ich zweierlei erlebt:

A) Das Fokussieren der körperlichen Strukturen schafft unmittelbare Erleichterung, rührt aber am eigentlichen Thema kaum.

B) Die unvermittelte Öffnung eines Kindheits-Traumas durch meine Arbeit mit körperlichen Strukturen hat mich zu etlichen Supervision-Sitzungen getrieben und mich insgesamt „hellfühliger“ in diesem Feld werden lassen: Ich versuche das in Zukunft durch gesteigerte Wachsamkeit zu vermeiden, weil ich mich dabei überfordert fühle.


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Es wird manchmal schwierig, einen langfristigen Sinn in seiner Arbeit zu finden. Schließlich ist die Vorstellung der vollständigen Einheit zwischen Körper und Seele/Geist schwer verdaulich, weil die Beschau des auf Vergänglichkeit programmiert Seins nicht zu jedem Zeitpunkt erwünscht und angenehm ist. Der Kommentar von Ärzten angesichts latenter Schmerzen in der Lendenwirbelsäule oder schwindender Sehkraft “Was wollen Sie? Sie werden nicht jünger!” ist ja auch nicht sehr beliebt, obwohl realitätsnah.

Auf die erstaunliche Wirksamkeit der Arbeit mit Tsubos und Meridianen zum richtigen Zeitpunkt mit der richtigen Intensität wollen wir nicht verzichten.

Ebenso ist die Beschleunigung des Auffindens von bedeutungsvollen Körperzonen und Linien durch unser Hintergrundwissen über Meridiane und diagnostische Zonen ein enormer Startvorteil gegenüber anderen Methoden der Körperarbeit.


Modell 6: Berührung und Begegnung


Erläuterung im Zuge der Umfrage

Ein Mensch begegnet einem anderen Menschen authentisch und mitfühlend durch körperliche Berührung. Druck und Wärme sind wohl die ersten Sinneseindrücke eines Embryos im Mutterleib. Im besten Fall sind diese Eindrücke an die Erfahrung von „Genährt werden“, „Sicherheit/Geborgenheit“, „Wachstum“ und „Entwicklung“ gekoppelt. Für diese Art von Berührung sind keine weiteren Modellierungen möglich und auch nicht nützlich. Die einzige, wenngleich überaus herausfordernde Aufgabe besteht darin, dem Da-Sein und seiner möglichen Entwicklung im Hier und Jetzt Raum zu geben und diese aufmerksam, wohlwollend, respekt- und vertrauensvoll zu begleiten.


Was mir an diesem Konzept gefällt und was mir bei der Arbeit hilft

Die Berührung wird einfacher, authentischer.[30]Vgl. http://www.rebalancing.de


Wie ist das lehr- und lernbar

Während der Ausbildung sollten wir die Chance auf detaillierte und auch intime Rückmeldung nutzen, anstatt schon dort die Rolle des gnadenvollen Gebers zu pflegen. Die Verantwortung für die Etablierung einer Kultur von nützlichen und aussagekräftigen Feedbacks liegt bei den Lehrern. Es gehört viel Mut und Fingerspitzengefühl dazu, diesen wertvollen Vorgang an der Grenze zwischen harmlosem Danken und verletzender Abwertung zu steuern. Es soll keine Gesprächstherapie daraus werden, aber auch kein bequemes Ritual der Höflichkeit.

Eine wichtige Unterstützung durch die Lehrer liegt darin, die intuitiven Handlungs-Impulse der Übenden zu fördern und jene zu ermutigen, ihren Ideen nachzugehen. Ich habe oft erlebt, dass ein Lehrer beschreibt, was er energetisch wahrnimmt. Das hat mich immer nur verunsichert, weil ich es nicht wahrgenommen hatte, zumindest nicht energetisch. Ich habe vielmehr interessante Stellen hinsichtlich der Körper-Architektur und feiner Spannungs-, Aktivitäts- bzw. Schwächemuster gesehen und auch bestimmte Assoziationen zu der betrachteten Person gehabt. Weil die Lehrer aber immer “Energie” dazu sagten und mir nicht erklärten, dass oben genannte Muster und Assoziationen gemeint sind / gemeint sein könnten, habe ich mich schlecht und unfähig dabei gefühlt. Ich kann ja nicht in andere hineinsehen und möchte auch nichts unterstellen, aber könnte es sein, dass alle “nur” Körperlandschaftsmuster sehen und Assoziationen dazu haben, das aber sprachlich nicht so beschreiben können, und nun diese Verwirrung des sprachlichen Ausdrucks unreflektiert weitergeben? Ich will nicht behaupten, dass Fähigkeiten wie „Hellsichtigkeit“ oder „Hellfühligkeit“ nicht existieren, aber ich (und andere Kolleginnen, mit denen ich gesprochen habe) haben sie nicht und praktizieren trotzdem Shiatsu. Eine Shiatsu-Ausbildung sollte nicht auf solchen Fähigkeiten aufgebaut sein.

Die wichtigste Erkenntnisquelle, auf der auch die positive Grundidee des fernöstlichen Meisters beruht, ist die eigene Erfahrung. Ein solcher Ansatz erfordert die eigene Entwicklung, denn die eigenen Erfahrungen und ihre „Umsetzungen“ ins Innere bilden unsere Handlungsgrundlagen. Das ist die mittlerweile auch wissenschaftlich belegte These Freuds gewesen, warum seine psychoanalytische Ausbildung primär die eigene Entwicklung in den Vordergrund stellt.[31]Wissenschaftlich war der erste Beleg dazu Affenversuche in den 50erJahren, die – ursprünglich ungeplant – aufzeigen konnten, dass Mutterliebe der unbewusste Rückgriff auf eigene Erfahrungen im … weiterlesen Das würde eine Hinwendung zu deutlich mehr expliziter Selbsterfahrung vor allem der Lehrenden bedeuten, um Traumata in der Tiefe und ihre Auswirkungen zu erkennen, zu leiten – um dann „wirklich begleitungsfähige“ PraktikerInnen auszubilden.


Öffentliche Kommunikation

Das neue Motto des ÖDS lautet sehr passend “Shiatsu berührt” und ist auch für ein breites Publikum gut verständlich.

Das Wort “Berührung” wird von Frauen positiver bewertet als von Männern. Die Zulässigkeit der Berührung ist abhängig vom sozialen Kontext und vom Geschlechterverhältnis Berührerin zu Berührtem. In einer im Jahr 2015 durchgeführten Studie wurden 1.368 Personen aus verschiedenen europäischen Ländern gebeten, auf einer vorgegebenen Körperkarte die Zonen einzuzeichnen, deren Berührung in einem bestimmten sozialen Kontext für sie zulässig ist. Abbildung 3 zeigt die statistische Zusammenfassung der individuellen Zeichnungen: Je heller die Farbe, desto mehr Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten diese Zone als “zulässig” eingezeichnet. Männliche Berührer sind in blau geschrieben, weibliche in rot.

zulässige Berührung in verschiedenen sozialen Kontexten

Abb. 3: Zonen der zulässigen Berührung in verschiedenen sozialen Kontexten. (aus Suvihleto et. al. 2015) [Anm. d. Verf.: „Acq.“ bedeutet acquaintance = Bekannter]

Größe der Zone, die berührt werden darf

Abb. 4: TI = touchability index (= Größe der Zone, die berührt werden darf) für Männer (links) und Frauen (rechts), abhängig vom Geschlecht der Berührerin/des Berührers und vom sozialen Kontext. (aus Suvihleto et. al. 2015)

Der besondere Kontext “Shiatsu-Behandlung” ist in den Abbildung 3 und 4 zwar nicht erfasst, aber was die öffentliche Kommunikation betrifft, so liefert das Studienergebnis dennoch den Hinweis, dass die Zonen der Berührung, die wir gerne zulassen, größer sind, wenn es Frauen sind, die uns berühren. Die Situation ändert sich wahrscheinlich vollständig, wenn die Berührung von der Empfängerin nicht als Berührung an sich eingeschätzt wird, sondern als “notwendige Maßnahme”, die der Gesundheit dient. So gesehen ist es wieder sehr nützlich, wenn wir den wissensbasierten Aspekt unserer Arbeit in der Öffentlichkeit betonen. Er schafft den Boden für Vertrauen (gerade von ganz normal kognitiv orientierten Kundinnen) und lässt mehr Berührung zu, weil das Rollenspiel [Therapeut <> Klientin] die Berührungen aus einem positiven Vorurteil heraus neutral erscheinen lässt und einen schützenden, geklärten Raum bildet.

Es gibt auch das Dienstleistungsangebot “Berührerin”[32]Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=8FM4peWJ2Os, Interview mit einer Berührerin, das ich sehr sehenswert finde und viele diesbezüglichen Fragen treffend beantwortet. und den Berufsverband für Tantramassage.[33]Vgl. http://www.tantramassage-verband.de, https://www.youtube.com/watch?v=yEsGPuObixk Die Sprache, die dort gepflegt wird, zeigt viele Ähnlichkeiten mit der in unserem Berufsfeld. Wir kommen also um eine Auseinandersetzung mit Erotik und Sexualität nicht herum.[34]Der aktuelle Imagefilm des ÖDS erzeugt in mir auch stellenweise solche Assoziationen, was ich aber gut finde. Es sind subtile Andeutungen von etwas, das uns Freude macht und phasenweise im Alltag … weiterlesen Ich denke, wir sollten keine übertriebene Scheu vor diesem Thema haben, allerdings den passenden Rahmen wahren (Die Interpretation dieses Satzes ist Vereinbarungssache zwischen Praktikerin und Klientin). Wir könnten zwar Definitionen von Erotik und Sexualität entwerfen, damit es zu keinen Missverständnissen kommt und die richtigen Grenzen festlegen, oder explizit diese Begriffe aus unserer Arbeit verbannen, das würde ich aber als “zu kalt” und außerdem “realitätsfern” bezeichnen.

Ich kann nur erzählen: Ich habe Stammkundinnen mit allerlei kleinen Beschwerden, bei denen ich keinen Behandlungserfolg erkennen kann. Warum kommen diese immer wieder? Ich denke, sie erhalten durch mein Shiatsu etwas, das sie in ihrem Leben sonst nicht bekommen: Ein Mann berührt sie an Stellen[35]Vgl. Abbildung 3., die sonst nie liebevoll berührt werden – absichtslos, ohne Hintergedanken und ohne Begierde – und er macht sogar den Eindruck, dass er es gerne tut. Ich würde aber darüber nicht in der Öffentlichkeit reden oder gar diese Leistung von Shiatsu als Verkaufsargument benutzen. Wikipedia schreibt zum Thema “Kulturelle Entwicklung der Erotik”: “Als allgemeines Ideal galt und gilt in der Regel die harmonische Verbindung von Liebe, Erotik und Sexualität, also die Vereinigung von geistiger, emotionaler und körperlicher Liebe. Schon die Philosophie im alten Griechenland postulierte die Notwendigkeit einer Einheit von Körper, Geist und Seele, damit der Mensch mit sich selbst im Einklang sei.” Diese Einheit ist zwar auch unser Credo aber ohne alle die daraus folgenden Konsequenzen (z.B. Fragen der Erotischen Anziehung oder der Sprengung von moralischen Vorstellungen) mitzubedenken. Beim Sprechen über diese Dinge (vor allem in der Öffentlichkeit) gilt sicher “Weniger ist mehr”, da die Möglichkeiten für Missverständnisse groß sind.


Schwierigkeiten, die ich in der Praxis erlebe

Die manchmal auftauchende Frage “Was tue ich da gerade?” ist stets eine Prüfung der eigenen Sicherheit und Selbst-Bewusstheit. Die künstlich geschaffene Sicherheit aus dem (vermeintlichen) Wissen über die Lebenszusammenhänge und was hier und jetzt tun ist, fällt weg. Wir sind dem Moment und der Beziehung zur Klientin ausgeliefert. Wir brauchen also eine große Menge an Vertrauen – in uns selbst, in den Klienten und ins Leben.

Wir müssen mit einem scheinbaren Paradoxon umgehen lernen: Beim Shiatsu stärke ich die Selbst-Ermächtigung des Klienten, indem ich ihm mit meinem Vertrauen und Glauben an sein Körper-Geist-Seele-System vorausgehe, mich ihm anvertraue – sinnlich wahrnehmbar durch den Druck meines Lehnens. So kann er sich als tragfähiges Wesen erleben (Oskar Peter).

Die Frage nach der “Grenze” wird sehr deutlich erlebbar. Nehmen wir an, hier befinden sich zwei Wesen, die nach einer inneren Einheit von Körper, Geist und Seele streben. Oder diese Einheit ist (vielleicht durch unsere Arbeit) schon sehr weit fortgeschritten. Da wir alle Teile der großen, gemeinsamen Wurzel sind, wird sich wohl Anziehungskraft oder Resonanz zwischen den beiden einstellen. Als Therapeut bin ich nun zuständig für den Umgang mit dieser Anziehungskraft. Gehe ich ihr nach, ist eine Vereinigung auf allen drei Ebenen nahe liegend (aus geistiger Resonanz erwächst Liebe, aus emotionaler entsteht Erotik und aus körperlicher Resonanz kommt Sexualität). Das wäre ein natürlicher Vorgang, der aber nicht erwünscht ist. Und so bleibe ich als Gestalter dieser besonderen Beziehung einen Schritt davor stehen. Wir begegnen einander, nehmen die Möglichkeit der Verbindung zur Kenntnis, lächeln erfreut, verabschieden uns und gehen wieder unserer Wege.

Als Therapeuten sind wir „Ersatzspieler“, deren Aufgabe es ist, die Klienten Schritt für Schritt so weit zu bringen, dass sie für das „wirkliche Spiel“ bereit sind, unsere Aufgabe beendet ist und sie in die Welt hinausgehen. Wir aber sollten unsere Rolle niemals mit dem realen Leben verwechseln. Sparringpartner zu sein bedeutet nicht wirklich im Ring zu stehen und dient ausschließlich dem Klienten – abgesehen von der Befriedigung, unterstützen zu können und auch davon (finanziell) zu leben.


Was kommt aus meiner Sicht zu kurz?

Hinsichtlich der Marktpositionierung fehlen die Argumente, dass wir mit besonderen Fähigkeiten der Körper-Interpretation ausgestattet sind. Berühren, harmonisieren, zum Spüren hinführen, usw.  können andere Techniken auch.[36]Vgl. www.rebalancing.de

Das wertvolle Erfahrungswissen über zusammenhänge Körperzonen und Organe bleibt ungenutzt.

Das gesamte Potenzial von Techniken und Interventionen, die etwas tun und bewusst die strukturelle oder energetische Situation zum Besseren verändern wollen, bleibt ungenutzt.


Energiearbeit

An erster Stelle möchte ich meinen Zugang zu den Begriffen “Qi” und “Energie” darstellen:

Qi = Das Funktionieren. “Qi spüren” bedeutet für mich ein intuitives Erfassen der Qualität eines funktionalen Zusammenhangs im Menschen und in seinem Austausch mit seiner Umwelt. Weil es mir niemand genauer erklären konnte oder wollte, hatte ich früher immer nach einem besonderen Erlebnis im Daumen, einem Kribbeln oder Ähnlichem Ausschau gehalten und war selten fündig geworden. Was ich unter meinem Daumen spüre, kann auch ganz einfach als Spannung, Widerstand, Wärme, Schwingung und mit anderen Berührungsstellen verbundene Schwingung  beschrieben werden.  Wenn ich großzügig im Umgang mit der Sprache bin und das Funktionieren als intendierten Inhalt unterstelle, kann ich den Satz “Das Milz-Qi ist Jitsu” wie folgt interpretieren und dann auch gelten lassen: “Ich habe intuitiv den Eindruck, dass bei diesem Menschen die Verarbeitung von Information etwas übertrieben abläuft, er denkt vielleicht zu viel, versucht alles zu verstehen und zu integrieren und macht sich über zu viele Zusammenhänge Gedanken und Sorgen. Dabei übersieht er das Wesentliche, nämlich sich selbst, sein einfaches Da-Sein und So-Sein und läuft Gefahr, sein inneres Gleichgewicht zu verlieren. Die Entsprechung am Körper spürt sich vielleicht überladen/nervös an, die Schwingung ist dort intensiver als im Vergleich mit meinen Erfahrungen bei anderen Menschen.” Ich habe aber oft den Eindruck, dass beim Aussprechen des Satzes “Die Milz-Energie ist gestaut” tatsächlich das Vorhandensein von zu viel oder unerwünschtem Fluidum gemeint wird, das nun manipuliert werden soll (zum Beispiel “Ja-Ki ausleiten” durch schnelle, wegstreichende Gesten, usw.). Ich will so etwas im Shiatsu nicht tun. Erstens habe ich nicht immer eine entsprechende körperliche Wahrnehmung in den Zonen, die der Milz zugeordnet werden. Zweitens erlebe ich die technischen Werkzeuge dafür als unbrauchbar, und drittens kann ich nicht sicher sein, dass das eine  zulässige Intervention in das Leben eines anderen Menschen ist, deren Konsequenzen ich dann auch zu verantworten hätte. Alles was ich tun will und kann, ist: die damit verwandten Körperzonen zu berühren und zu beobachten, welche Veränderungen im Gewebe und in meiner Wahrnehmung und Empfindung sich einstellen. Damit habe ich genug getan: Durch wohlwollende Aufmerksamkeit stellt sich eine neue, bessere Variante des fremden Kontinuums vielleicht ein, oder auch nicht – falls der Augenblick dafür nicht gekommen ist. Mit dieser Auffassung mache ich mich auch frei von der Möglichkeit des Misserfolges. Anstatt in der Ausbildung viel Zeit damit zu verbringen über tonisierende und sedierende Techniken widersprüchlich zu reden und zu experimentieren, ohne eine Möglichkeit der Überprüfung der Ergebnisse zu haben, schlage ich eine verstärkte, konsequente, wertfreie Reflexion der erlebten Wahrnehmung vor.

Energie = Synonym für Qi, siehe oben. Mir ist sehr wichtig, dass ich bei diesem Begriff nicht missverstanden werde: Ich glaube nicht an ein Fluidum oder Ähnliches, das im Körper verschoben oder aus ihm heraus oder hinein befördert werden könnte. Diese Diskussion findet ja schon ewig, auch in China, statt  und ihr Ausgang ist letztlich für unsere Arbeit nicht wichtig. Mir ist aber meine Auffassung dazu wichtig. Ich tue mir nämlich auch mit den Begriffen “Kyo” und “Jitsu” schwer.

In der Öffentlichkeit ist die Verwendung des Wortes “Energie” aber ein zweischneidiges Schwert. Frau kann die Gegenwelt zum Materiellen attraktiv finden, und fühlt sich dann endlich im Alternativen aufgehoben und mit ihren Bedürfnissen wahrgenommen. Andere stellen sich die berechtigte Frage “Was soll das sein?” und wenden sich ab, weil sie mit Esoterik nichts zu tun haben möchten. Wieder andere denken naturwissenschaftlich, verstehen den Begriff Energie so, wie es dort üblich ist, und kommen damit in Widerspruch zu unserer Arbeit. Davon auszugehen, dass die Empfängerinnen unsere öffentlichen Botschaften wissen, dass Materie auch nur eine spezielle Form von Energie ist, finde ich kein brauchbares Argument. Das wäre ähnlich dem Singen von „Amen – Halleluja“ unter der Annahme, dass sich auch alle Menschen im Kern der Tatsache bewusst sind, dass wir uns zu vollständiger Liebe hin entwickeln dürfen. Entweder wir diskutieren lange darüber, was wir mit Energie meinen und wie wir es allgemein verständlich und kritisierbar ausdrücken oder wir verzichten auf die Verwendung dieses ohnedies schon mehrfach interpretierbaren Wortes gänzlich.

Energetiker sind Gewerbetreibende, die einen entsprechenden Gewerbeschein besitzen. Dazu gehört in Österreich auch die Cranio-Sacral-Arbeit, die ich ganz und gar nicht als Energiearbeit betrachte, sondern als Umgang mit handfesten Schwingungen.  Abgesehen von dieser Berufsgruppe liegt mir eine Abgrenzung zu den Energetikern am Herzen. Ich weiß nicht genau, was Energetiker so tun. Ich habe zwar einen Wochenendkurs in Aura-Chirurgie besucht, mir dort ein Bild von Energiearbeit gemacht und mir auch eine „Matrix advanced Quantenheilung“ gegönnt, aber daraus möchte ich kein Urteil ableiten, weil die Menge meiner gemachten Erfahrungen nicht ausreicht. Aber ich will als Shiatsu-Praktiker nicht mit Energetikern in einem Atemzug genannt werden (Reiki-Praktikerinnen gehören auch dazu). Mein Bedarf nach Abgrenzung kommt aus folgenden Beobachtungen und Überlegungen:

Wenn jemand Geld für eine erhoffte Heilung durch “Aura-Chirurgie”, “a-logische Erlösungsarbeit”, “Quantenheilung”, “Eintauchen in den Lichtkreis”, “Engel” ausgibt und sich nachher besser fühlt, will ich das nicht weiter kommentieren. , . Als Teilnehmer am Markt für Gesundheits-Dienstleistungen lege ich aber Wert auf ein klares Profil meiner Arbeit. Die beispielhaft erwähnten Methoden hantieren mit “Wahrnehmung”, “Vorstellung” und “Transformation” und betrachten diese Vorgänge als Energie. Ein weites Feld tut sich auf. Alles ist möglich.

Daran stört mich nur die Verwendung des Wortes Energie, weil es einen gedanklichen Sog für den Glauben an die Machbarkeit (von außen) legt anstatt in die Eigenverantwortung zu führen. 

Wenn wir Shiatsu anbieten, muss den potenziellen Kunden klar sein, dass wir im Kern anders als Energetiker arbeiten, nämlich mit Hilfe der sinnlichen Erfahrung, die aus dem Körper kommt. Dieses Bewusstsein muss in den Shiatsu-Praktikerinnen geklärt und gestärkt werden, bevor der Begriff Energie als Metapher für das Funktionieren eingeführt wird. Andernfalls sehe ich keine Möglichkeit für eine vernünftige Diskussion von Shiatsu in der Öffentlichkeit (Öffentlichkeitsarbeit und Werbung), was aber Voraussetzung für das Ernst-genommen-Werden in einer aufgeklärten Gesellschaft ist.

Mein Shiatsu ist keine Energiearbeit.

Mein Shiatsu ist nicht esoterisch.


Schlussfolgerungen


Vorschläge für die Praktizierenden

Einfach drücken und lehnen anstatt dem Qi nachzujagen, macht die Berührung autenthischer und unsere Arbeit leichter.

Wir brauchen keine Scheu davor zu haben, mit unseren Klientinnen zu sprechen und unsere Kenntnisse, auch wenn sie nicht unmittelbar zu Shiatsu gehören, also Ernährungstipps, Ratschläge zu Bewegung, usw. weiterzugeben. Auch das Zuhören an sich ist eine wertvolle Dienstleistung.[37]Vgl. Ernst 2016, Frage 21

Argument 1: Es kann der Hinführung zu Eigenverantwortung dienen.

Argument 2: Mit der Harmonisierung der Meridiane allein sind manche Schwierigkeiten nicht lösbar. Ob die einzelne Praktikerin von ihren Klienten als streng orthodoxe Vertreterin der Shiatsu-Kunst, als ganzheitlich denkende Lebensbegleiterin oder als kompetente Therapeutin (auf einem Spezialgebiet) wahrgenommen werden möchte, liegt in ihrem Verantwortungsbereich und darf sie sich daher aussuchen.

Stellen wir unser Wissen ruhig zur Schau. Für Menschen, die in unserem Kulturkreis aufgewachsen sind, gehört Wissen zu den vertrauensbildenden Faktoren.

Es ist weder beim Verkaufsgespräch, noch während der Arbeit notwendig, transzendente Argumente oder Prozesse ins Feld zu führen. Was wir tun, ist rational erklärbar.[38]Wahrscheinlich nicht umfassend und allgemein gültig, sondern von Fall zu Fall unterschiedlich – immer mit Rücksichtnahme auf die Zuhörerin, ihren momentanen Bewusstseinszustand und ihre … weiterlesen Es braucht dazu weder unerklärbare Energie-Formen und deren Manipulation, noch esoterische Gedankengänge oder Wahrnehmungen.


Vorschläge für die Lehrenden

Verzichten wir auf esoterische Aussagen innerhalb des Lehrbetriebs. Sätze wie “Alles ist mit allem verbunden.” oder “Im Nicht-Tun ist alles schon getan.” können vielleicht Ehrfurcht der Zuhörer erzeugen, einem angehenden Shiatsu-Praktiker ist damit aber wenig geholfen.

Treffen wir eine klare Entscheidung, wie wir selbst den Begriff “Qi” verstehen und wie wir ihn den uns anvertrauten Schülerinnen erklären möchten, besonders wenn wir uns mit Themen wie “Qi im Leber-Meridian spüren” beschäftigen. Als Grundsatz sollte gelten: „Bemühen wir uns darum, soviel als möglich in kulturell üblicher Sprache auszudrücken.“ Wenn wir für ‘nicht Sagbares’ Begriffe aus einer anderen Sprache und/oder einem anderen Kulturkreis verwenden, entsteht eher Verwirrung. Wahrnehmen, Staunen und Schweigen wäre dann meist besser gewesen.

Ermuntern wir unsere Schülerinnen, ihre Empfindungen und das, was sie spüren, klar und verständlich mitzuteilen, ohne Erwartungen und ohne die Verpflichtung, überhaupt etwas zu spüren. “Qi spüren” ist eine Hintergrund-Funktion, die sich im Lauf der Zeit (vielleicht erst nach 30 Jahren einstellt und dann erst einen Sinn ergibt). Shiatsu kann auch sehr gut ohne die Fähigkeit, Qi bewusst wahrzunehmen, ausgeführt werden.

Zentrale Kompetenz von Shiatsu-Praktikerinnen sollte sein, den Druck, den sie in den Körper des Behandelten einbringen, konsequent und kreativ zu gestalten. “Drücken” und „Lehnen“ muss das sein, was wir wirklich können, und zwar in einer Art, die uns niemand nachmachen kann.[39]Vgl. Ernst 2016, Frage 18

Die Idee, „Qi vorsätzlich zu manipulieren“ scheint mir generell fragwürdig: erstens sind Urteile wie Kyo und Jitsu schwierig, zweitens ist damit noch immer nicht gesagt, dass dieser Zustand im Augenblick nicht möglicherweise der beste ist, den dieser Mensch im Moment einnehmen kann, und drittens wurden mich von verschiedenen Lehrern widersprüchliche Techniken z.B. zur Sedierung von Jitsu gelehrt. Folgendes Konzept fände ich da sicherer und sinnvoller: Wenn ich wirklich meinem Kern näher bin als die Klientin, werden ihre Lebenskräfte „ES (Das Fließen aus dem Kern heraus und um den Kern herum)“ den meinen nachzuahmen versuchen. So lernen auch Kinder durch das Vorbild ihrer Eltern. Wohlwollendes Zusehen durch das Vorbild ist die beste Unterstützung für den Lernenden.


Mein Shiatsu will wohlwollendes Zusehen (über die Hände) beim Fließen sein.

Finger- (oder Ellbogen- oder Knie- oder Hilfsmittel-) Druck ist unsere Kernkompetenz. Das WO und WARUM sind nachrangig und ergibt sich durch Intuition und Erfahrung.


Vorschläge für den Dachverband

Der Dachverband spielt eine große Rolle darin, wie Shiatsu von Institutionen und Behörden wahrgenommen wird. Ich halte es für günstig, wenn in diesem Feld wie bisher eine rationale Sprach-Gestik gepflegt wird. Begriffe wie „Energie“ bringen dort keine Vorteile, sondern schaffen eher Missverständnisse. Auch auf die Verwendung von „Qi“ könnte verzichtet werden. Wie soll man einen Begriff, der aus einem fremden Kulturkreis stammt, sinnvoll in behördliche Richtlinien einbetten?

Schulen, die nicht über „Qi“, „Jitsu“, „Kyo“ sprechen oder es manipulieren möchten, sollte mit Wohlwollen begegnet werden. Es könnte gutes Shiatsu aus der Zeit vor Masunaga dort zu finden sein.

Den Versuch, Shiatsu in das bestehende Gesundheitssystem formal zu integrieren (Verrechnung
mit der Krankenkasse, usw.) halte ich für Verschwendung von Energie. Der Erklärungsbedarf für
Dinge, die nicht in kognitive Schemata passen, und die Mühen mit Wirkungs-Nachweisen,
wissenschaftlichen Studien usw. scheinen mir zu groß. Das Einbringen von Shiatsu in
aufgeschlossene und interessierte Institutionen dagegen ist eine wünschenswerte und notwendige
Aufgabe, die der gesellschaftlichen Anerkennung von Shiatsu in höchstem Maße dient. Zum
Beispiel bei der Einrichtung von Praktikta und Kooperationen in Spitälern, Seniorenheimen könnte
der Dachverband eine vorbereitende („Türen öffnen“) und begleitende Rolle übernehmen

Die Praktikerinnen sollten beim Bekanntmachen des Begriffes Shiatsu in der Gesellschaft unterstützt werden. Und zwar in einfacher Sprache und ohne esoterische Geste. Die Positionierung als “besonders angenehme Form der Körperarbeit mit viel Wissen über körperliche, seelische und geistige Zusammenhänge” scheint mir am Brauchbarsten.

Zur Erinnerung zitiere ich die sehr gelungene Beschreibung von Shiatsu in unseren Statuten vom 15.11.2013:

Shiatsu ist eine ganzheitliche Behandlungsweise, die der Theorie und Praxis der traditionellen japanischen und chinesischen Gesundheitslehre entstammt. Ihr Ziel ist es, den Selbstheilungs- und Wachstumsprozess eines Menschen durch Berührung zu fördern. Sie versteht den Zustand eines Menschen und damit Gesundheit und Krankheit in Körper, Seele und Geist als Ausdruck der energetischen Gleichgewichte und Ungleichgewichte. Durch Arbeit mit dem Körper strebt sie deren Harmonisierung an. Dabei wird überwiegend eine dem Shiatsu eigene Druckpunktmethode mit tiefgehender Wirkung eingesetzt.


Literatur

  • BRABEC de MORI Bernd, FUTTERKNECHT Veronica et al (Hg.), Heilung in den Religionen, Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft für Religionswissenschaft, Band 5, Lit Verlag, Wien 2013
  • ERNST Josef, Mythen, Märchen, Meridiane; Sprache und Wissen im Shiatsu,
  • www.shiatsu-dialog.at, 2012
  • ITIN Peter, Shiatsu als Therapie, Books on Demand GmbH, 2007
  • KUBNY Manfred, Qi-Lebenskraftkonzepte in China; Definition, Theorien und Grundlagen, Haug 2002
  • SAITO Tetsuro, Shin So Shiatsu, Verlag Beatrix Simak, 2009
  • SUVILEHTO Juulia T., GLEREAN, Enrico, DUNBAR, Robin I. M., HARI, Riitta, NUMMENMAA, Lauri, Topography of social touching depends on emotional bonds between humans, Proceedings of the National Academy of Sciences of the United States of America PNAS, vol. 112, no. 48, December 1, 2015
  • THETTER Rudolf, Magnetismus – Das Urheilmittel, Verlag Gerlach und Wiedling, Wien 1980

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© Dipl.-Ing. Josef Ernst, qualified teacher, Praxis in 1210 Wien, Angerer Straße 8/10.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Arbeit zur Erlangung des Titels „ÖDS qualified senior teacher“, März 2017. Die „Shiatsu-Umfrage 2016“ ist Teil dieser Arbeit.
2 Der Text verwendet abwechselnd weibliche und männliche Wortendungen, meint aber Männer und Frauen gleichermaßen.
3 Vielleicht ist Selbst-Vergessenheit auch eine Funktion des Alterns?
4 Wenn sich jemand ohnedies sicher in seinem Tun fühlt, braucht sie diese Arbeit nicht zu lesen. Viele dieser Fragen sind bei mir erst im Lauf der Zeit entstanden und jede neue Frage macht unsicher. Meine Reflexions- und Schreiblust soll nicht zu Verunsicherung oder neuen Schwierigkeiten mit unvollständigen, nicht beweisbaren und nur aus einer bestimmten Perspektivie heraus richtigen Behauptungen über Shiatsu führen.
5 Ich überlasse das gerne den Energetikern, Geistheilern und Euro-Schamanen. Ich übe seit 21 Jahren regelmäßig Taiji und Qigong und habe etwa 12 Jahre lang Wushu ( ≈ Kungfu) trainiert. Ich nehme mir also das Recht zu dieser Aussage. Ich habe Shaolin-Mönche im fast privaten Rahmen beobachten und das Werfen einer Nadel durch eine Glasscheibe aus nächster Nähe mitverfolgen dürfen. Auch mein Qigong- und Taiji-Meister Wang Dongfeng sagte “Qi spüren sehr schwierig”.
6 Der Begriff “Non-Dualität” ist mir vertraut, er nützt mir aber nichts. Damit mögen sich Philosophen oder Zen-Mönche die Zeit vertreiben. Ich bin hier, um zu unterscheiden und zu handeln!
7 Die Klärung der Geschäftsbeziehung, des Auftrags an den Praktiker und die Annahme dieses Auftrages erlebe ich sehr schwierig. Ich muss das immer wieder neu überdenken und mit jeder Klientin in einer anderen, mir passend erscheinenden Sprache verhandeln. Die Möglichkeiten erstrecken sich von “Das bekommen wir schon hin!” über “Ich weiß nicht, ob sich das so schnell ändern wird, aber schauen wir  einmal, wie Ihnen die Behandlung gefällt.” bis zu “Da empfehle ich Ihnen eher einen Chiropraktiker.” Vgl. meine innere Langfassung dieser Klärung auf Seite 7f: “Shiatsu ist für mich die Herstellung einer therapeutischen Situation ….”
8 Es werden viele teilweise signifikant verschiedene und immer wieder auch neue Behauptungen darüber aufgestellt (Evolution von Shiatsu).
9 Andererseits verstehe ich die Notwendigkeit, etwas “Konkretes darzustellen”, damit die ganze Disziplin auch schriftlich einord- und verhandelbar wird – gegenüber Behörden, gegenüber der Öffentlichkeit, gegenüber den Lernenden, gegenüber der Konkurrenz, und auch um der Berufsgemeinschaft einen Rahmen zu geben. Vgl. auch Kapitel 2.1. “Ein Schritt zurück führt manchmal nach vorne.”
10 Glauben ist notwendig. Fragen und Überprüfen ist genau so gut, besonders wenn der Glaube nicht den gewünschten Erfolg bringt. Vgl. Kapitel 2.1. “Ein Schritt zurück führt manchmal nach vorne.”
11 Cranio-Sacral-Arbeit ist für mich keine Energie-Arbeit, sondern basiert auf handfesten, erklär- und wahrnehmbaren Schwingungen der Materie. Ich erwähne es hier nur deshalb bei den Energetikern, weil es aus rechtlichen Gründen mit diesem Gewerbeschein arbeitet.
12 Vgl. Ernst 2016.
13 Ich habe Widerstände dagegen, eine Lehre über das Leben und die Gesundheit zu übernehmen, die von jemandem stammt, der früh (ausgenommen durch Unfälle) stirbt.
14 Ich erhebe nicht den Anspruch, die TCM zu verstehen. Ich kann nur über das sprechen, was mich gelehrt wurde.
15 Vgl. http://www.wikiwand.com/de/Masunaga_Shizuto.
16 Vgl Ernst 2012, “Mythen, Märchen, Meridiane”.
17 Noch etwas amüsiert mich nun ein wenig: Mir wurde und wird immer wieder vorgeworfen „zuviel zu denken“ – und siehe da: im Shiatsu ist mir ein Stil, der weniger gedankliche Modellierungen pflegt wesentlich näher als das Zen-Shiatsu, das von jemandem (Masunaga), der Psychologie- und Philosophie studiert hatte, geprägt wurde. Ich denke nicht zuviel, ich beobachte nur gerne genau und kritisch und versuche dann, das von mir Wahrgenommene in Sprache zu fassen.
18 Vgl. Ernst 2012, 16 “Verstehen und Lernen im Mythos”.
19 Quelle: Ernst 2016, ÖDS-Praktikerinnen-Umfrage 2016, Frage 20.
20 Vgl. Saito 2009, 15ff
21 Intuition kann auch als nicht-reflektierte Zusammenfassung einer Vielzahl von Daten (Erfahrungen – auch über Generationen weitergegebener) betrachtet werden. Manchmal ist Intuition nützlicher als bewusste Datenaufbereitung, manchmal ist sie aber nur eine schlechte Angewohnheit. Ich denke: Wichtig ist, dass sich der Akteur “sicher fühlt”.
22 Auch ich spüre etwas: das lässt sich aber mit herkömmlichen, wenngleich durch Übung besonders geschärften Sinneswahrnehmungen beschreiben, z.B. als Wärmegradienten, unterschiedliche Widerstände des Gewebes, Verbundenheit, Pulsieren und Schwingen (möglicherweise ist das der cranio-sacral-Rhythmus). Diese Erlebnisse führen manchmal sogar zu Empfindungen, Emotionen und Bildern, was wiederum mit Hilfe von Spiegelneuronen einfach erklärbar ist. Ob diese Bilder nun mit dem Klienten zusammenhängen oder eher mit meiner Person, bleibt immer fraglich, da hilft nur nachfragen. Mit “Qi” könnte im Original vielleicht genau eine Zusammenfassung dieser Erlebnisse gemeint gewesen sein. Durch die Übersetzung, Unreflektiertheit und Lust auf “Magie” der Personen, die diesen Begriff in den Westen gebracht haben, hat sich dann ein kommunikatives Wirrwarr bei der Weitergabe des Qi-Begriffes eingeschlichen.
23 Vgl. http://www.shintaiinternational.com
24 Vgl. Brabec de Mori 2013, Religion=Medizin
25 Vgl. Thetter 1980, 15ff
26 Vgl. Ernst 2016, Frage 17
27 Ausgezeichnete Anregungen und Beispiele für gelungenes Sprechen während der Behandlung sind bei Itin 2007, 185ff zu finden.
28 Das Unterschreiben des üblichen “Ich bin selbst verantwortlich…”-Formulars, dem ja ein ganz anderes Motiv zugrunde liegt, nämlich das Freispielen des Praktikers von der Verantwortung für psychische oder körperliche unerwünschte Zwischenfälle, ist damit nicht gemeint.
29 Diese Sehnsucht liefert aber auch ein starkes Motiv für das Weiterlernen.
30 Vgl. http://www.rebalancing.de
31 Wissenschaftlich war der erste Beleg dazu Affenversuche in den 50erJahren, die – ursprünglich ungeplant – aufzeigen konnten, dass Mutterliebe der unbewusste Rückgriff auf eigene Erfahrungen im Säuglingsalter waren; heute können wir das wohl in das komplexe System der Spiegelneuronen integrieren, die auch die Basis für das Mitgefühl bilden.
32 Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=8FM4peWJ2Os, Interview mit einer Berührerin, das ich sehr sehenswert finde und viele diesbezüglichen Fragen treffend beantwortet.
33 Vgl. http://www.tantramassage-verband.de, https://www.youtube.com/watch?v=yEsGPuObixk
34 Der aktuelle Imagefilm des ÖDS erzeugt in mir auch stellenweise solche Assoziationen, was ich aber gut finde. Es sind subtile Andeutungen von etwas, das uns Freude macht und phasenweise im Alltag fehlt.
35 Vgl. Abbildung 3.
36 Vgl. www.rebalancing.de
37 Vgl. Ernst 2016, Frage 21
38 Wahrscheinlich nicht umfassend und allgemein gültig, sondern von Fall zu Fall unterschiedlich – immer mit Rücksichtnahme auf die Zuhörerin, ihren momentanen Bewusstseinszustand und ihre Bedürfnisse.
39 Vgl. Ernst 2016, Frage 18