Zen in der Kunst des Shiatsu (Rene Tischhart)

Neben den Schlagworten Heilung durch Berührung, Weisheit des Ostens zur Förderung der Gesundheit und Harmonisierung der Körperenergien sind es vor allem die in Aussicht gestellten Aspekte der Persönlichkeitsentwicklung und der spirituellen Reifung, welche Interessierte für Shiatsu als Weg und Methode begeistern. Neben der Vielzahl möglicher spiritueller Zugänge des einzelnen interessieren im Zusammenhang mit Shiatsu vor allem die orientalischen Wurzeln, die dem Taoismus und dem Buddhismus entstammen. Im speziellen ist hier der Dhyana-Buddhismus, den man in Japan als „Zen“ bezeichnet, gemeint. Doch welche Eigenarten des Shiatsu werden als zenistisch betrachtet? Es ist der Umstand, dass Shiatsu Tun im Nichtstun sein soll, dass Nichts gewollt werden soll, dass das Mögliche quasi von selbst geschehen soll und dass die Grenzen zwischen Geber und Nehmer fallen sollen. Das dem Zen eigene Paradoxe kommt dabei vielleicht am besten im Begriff „Absichtslosigkeit“ zum Ausdruck.

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Doch wie nun soll Absichtslosigkeit erreicht werden? Jede Annäherung an diesen Anspruch mittels unseres Verstandes kann keine befriedigende Lösung bringen, denn alleine die Absicht absichtslos sein zu wollen führt dieses Bemühen ad absurdum. Dies vor Hunderten von Jahren bereits erkennend haben Japaner Methoden der Versenkungspraxis entwickelt, die sich in ihrem Wesen einer äußeren Form bedienen, um geistiges Üben zu praktizieren. Ziel ist das Erfahren einer unaussprechlichen Wahrheit, letztlich dem Innewerden mystischer Einsicht. Das Zen ist in dieser Hinsicht der reinen Versenkungsmystik verwandt. Wer mystischer Erfahrungen nicht teilhaftig ist, bleibt, wie immer er sich auch drehe und wende, außerhalb stehen. Dieses Gesetz, dem alle echte Mystik gehorcht, lässt keine Ausnahme zu. Die äußere Form der Praxis (Kalligraphie, Schwertkunst, Blumenstecken, usw.) dient auf diesem Weg gleichsam nur als Werkzeug, dem im Übrigen keine große Bedeutung für den Alltag beigemessen werden kann. Sie ist nicht nützlich in einem ökonomisch-praktischen Sinne, sondern dient lediglich dazu, den geistigen Bemühungen eine Hülle zu geben und sie angreifbar zu machen.

Hier versteckt sich bereits eine erste große Hürde bei der Wahl von Shiatsu als Weg zu zenistischer Einsicht. Im Gegensatz zu den traditionellen Disziplinen des Zen ist Shiatsu sehr nützlich und wird aus diesem Grund auch vorrangig erlernt und praktiziert. Diese Nützlichkeit aber kann als Magnet für die Aufmerksamkeit des Praktizierenden von den zentralen Aspekten der Versenkungspraxis ablenken. Zudem wird Shiatsu mit einem Partner praktiziert und nicht alleine unter Aufsicht eines Meisters. Auch wenn der Partner für die ShiatsupraktikerIn erst das „Feld der Betrachtung“, seinen Körper, ja seine Gesamtpersönlichkeit, zur Verfügung stellt, stellt doch eine Begegnung zweier Menschen eine ungleich größere Anzahl an Sensationen für Sinne und Geist bereit, als es die Beschäftigung mit einer Sache kann. Demnach entstehen für die PraktikerIn alleine aufgrund der Methode erschwerte Umstände auf diesen Weg den „geistlosen Geist“ zu entdecken.

Nichts desto trotz wirkt sich ein Fortschreiten auf dem Weg der Erkenntnis im Sinne des Zen positiv auf die Qualität des Shiatsu aus. Warten können bis eine Technik ankommt, Zuhören können, um dirigierende Impulse des Körpers wahrzunehmen und einfach präsent zu sein stellen wesentliche Aspekte eines guten Shiatsu dar. Diese und andere mehr werden durch Zen-Praxis geschult und verfeinert und so verwundert es nicht, wenn oftmals Empfehlungen an Studenten gegeben werden, sich in Yoga, Qi Gong oder Meditation zu üben. Offensichtlich ist es gerade im Shiatsu einfacher mit einem bereits erworbenen Grundverständnis für diese Aspekte der Wahrnehmung und Haltung die Ebene des Zen im Shiatsu zu erfassen, oder anders gesagt: Offensichtlich ist es schwierig alleine mit Shiatsu die angesprochenen Qualitäten zu erspüren und als Lernender für sich zu etablieren. Kein Tai Chi- oder Karatelehrer würde es als notwendig erachten, einen Schüler unbedingt an eine andere Fraktion weiter zu empfehlen.

Um ein Gefühl für die Notwendigkeiten und Eigenarten zenistischer Entwicklung zu bekommen, empfiehlt sich ein Blick auf Erfahrungsberichte anderer Praktizierender. Eugen Herrigels Klassiker „Zen in der Kunst des Bogenschiessens“ eignet sich für diesen Zweck sehr gut. Er beschreibt in seinem kurzen und prägnanten Büchlein auch den „Weg des Schwertkämpfers“ in komprimierter Form und erläutert dabei die verschiedenen Stufen des Weges vom Anfänger bis hin zur Meisterschaft.[1]Nachfolgende Zitate aus E. Herrigel, „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, der wiederum auch aus dem Traktat „Das unbewegte Greifen“ von Zen-Meister Takuan über die Schwertkunst zitiert.


Die AnfängerIn

Es gilt unter Schwertmeistern aufgrund lehrreicher Erfahrungen, …, dass der Anfänger, wie stark und kampffroh, wie mutig und unerschrocken er auch von Hause aus sein mag, mit Beginn des Unterrichtes außer seiner Unbefangenheit auch sein Selbstvertrauen einbüßt.

Es ist der Beginn des Unterrichtes, der auch im Shiatsu vielen Sensitiven und Einfühlsamen ihren unbefangenen Zugang nimmt. Berührung ist etwas Universelles und Natürliches. Jede Mutter versteht es ihr Kind zu be-handeln und mit ihren Händen mit ihm zu sprechen. Jeder Teenager erkundet auf seine Art und in seinem Tempo den eigenen Körper und den der PartnerIn und findet zu dem, was als taktile Manifestation innerer Gefühle bezeichnet werden kann. Der vormals selbstverständliche Zugang zum Körper des anderen wird mit dem Anspruch Körperarbeit zu machen plötzlich als unzulänglich erlebt. Zurückhaltung gepaart mit dem überstarken Bemühen es „richtig“ zu tun verschütten die oft hier schon, wenngleich auch in einer naiven und quasi unbewussten Form, vorhandene Fähigkeit zur Intuition. Es ist das Erlernen der Form und des Handwerks, im Shiatsu der Meridiane, der Positionen, der Techniken und der Art, es aus dem Hara zu tun, welche die AnfängerIn erkennen lassen, dass Berührung gezielt und nuanciert passieren kann. Das Verstehen, dass es Prinzipien gibt, die eine gewünschte Qualität in die Berührung bringen, ja diese erst möglich machen, führt zuerst zu einer Verunsicherung des Lernenden.


Der Weg

Er (der Schüler) sieht keinen anderen Weg vor sich, als den unermüdlichen Übens, und auch sein Lehrer weiß vorläufig keinen anderen Rat.

Es gilt die Form zu perfektionieren. Theoretisches Wissen liefert die Grundlage für praktisches Verstehen und die SchülerIn erlangt durch unermüdliche Übung und beständigem Einsatz die handwerkliche Sicherheit im Einsatz des eigenen Körpers, dem Finden der Punkte und dem Kreieren eines angemessenen Behandlungsaufbaus. Dies ist die Phase, in der sich die meisten PraktikerInnen (immer wieder) befinden. Der Schliff an der Technik, das Erlernen und Finden alternativer Formen begleitet auch erfahrene PraktikerInnen unablässig auf ihren Wegen. Trotz aller notwendigen Bemühungen im technischen Bereich ist dem Lehrer, und meist in einer Ahnung begründet auch dem Schüler, klar, dass das Eigentliche auf diesem Weg so allein nicht erreicht werden kann.

Dabei kann der Anfangsunterricht gar nicht anders erteilt werden; er ist dem Anfänger durchaus angemessen. (…) Dennoch führt er nicht zum Ziel, wie der Lehrmeister nur zu gut weiß. Es liegt daran, dass er, um es kurz zu sagen, seine ganze Kunst und Wissenschaft zu Rate zieht. Indem er sich so verhält, büßt er (…) die „Gegenwart des Herzens“ ein.

Versiert im Auffinden der Bahnen und Punkte, geübt im passenden Einsatz der erlernten Techniken und sicher in der Anwendung der diagnostischen Hilfsmittel findet die erfahrene PraktikerIn kaum mehr KollegInnen in ihrem Umfeld, die ihr inhaltliche Anregungen oder Ergänzungen beisteuern können. Das Spüren ist routiniert und Erfahrungen aus der Praxis erhöhen die Akzeptanz und den Erfolg der Behandlungen. Hier in der scheinbaren Meisterschaft im Umgang mit der Methode setzt der eigentlich wesentliche Sprung in der „Menschwerdung durch Shiatsu“ an. Hier spätestens, wo Annerkennung und Erfolg als eitle Früchte der Bemühungen langsam ihren Glanz verlieren und keine nachhaltige Befriedigung zu spenden vermögen, entsteht die Sehnsucht nach tieferem Verstehen. Wie seltene Blitze unter der Praxis hat die PraktikerIn Erfahrungen des Auflösens von Grenzen und das Eintauchen in eine mühelose Art der stimmigen Dynamik erlebt und damit einen Vorgeschmack des zu Erstrebenden gespürt.


Die Ichlosigkeit

Wie ist dem abzuhelfen? Wie wird das Können „geistig“, wie wird aus der souveränen Beherrschung der Technik meisterliche Schwertführung? Nur dadurch, lautet die Antwort, daß der Lehrling absichtslos und ichlos wird. Er muss dahin gebracht werden, dass er sich nicht nur vom Gegner, sondern auch von sich selbst loslöst.

Eine Formulierung, die Shiatsu-PraktikerInnen nicht fremd klingt, wird doch meist von Beginn der Ausbildung an auf diesen Aspekt des Shiatsu hingewiesen, der dem so genannten Zen-Shiatsu seine spezifische Eigenart gibt. Mit dem Erstreben der Absichtslosigkeit wird der Fokus vom Empfänger des Shiatsu weg zum Geber hin gelenkt. So wie der Karateka, der Judoka, der Bogenschütze oder der Schwertkämpfer in erster Linie bemüht ist sich selbst zu besiegen, so versteht die PraktikerIn nun immer mehr, dass die Begrenzungen der Möglichkeiten des Shiatsu im eigenen Wollen und im Wirken durch den eigenen, begrenzten Geist liegen. Es beginnt die Phase der Übergabe aus dem Eigenen in ein Größeres. Handwerkliche Perfektion ermöglichen ein „Vergessen“ des Tuns, die Hände bedürfen nicht mehr der Aufmerksamkeit der PraktikerIn um ihre Arbeit zu verrichten. Der Geist wird dadurch frei sich feineren Nuancen der Wahrnehmung und des Seins zuzuwenden. Der Rhythmus, die Tiefe und der Ort der Berührung werden quasi in einem Zustand momentaner Stimmigkeit selbst bestimmt. Nicht mehr die PraktikerIn ist aktiv, nein, Es tut die Arbeit. Anfangs selten und in gewissermaßen selbstvergessenen Momenten, dann öfter und in längeren Sequenzen. Schließlich entsteht eine zunehmend stärker werdende Gewissheit geführt zu werden und die Haltung der PraktikerIn wird mehr und mehr zu einer Einladung an das Es, die Führung zu übernehmen.


Die Meisterschaft

Der Schwertmeister ist wieder unbekümmert wie der Anfänger. Die Unbekümmertheit, die er bei Beginn des Unterrichts eingebüßt hat, hat er am Ende als unzerstörbaren Charakter wiedergewonnen. Im Unterschied zum Anfänger ist er zurückhaltend, gelassen und bescheiden und es fehlt ihm jeder Sinn dafür, sich aufzuspielen.

Hier fehlen die Worte, angemessen zu berichten. Im buddhistischen Sinne steht das Tun in diesem Stadion außerhalb des Gesetzes von Ursache und Wirkung, d. h. der Meister erzeugt durch sein Handeln kein Karma mehr. Was geschehen soll geschieht, was nicht geschehen soll geschieht nicht. Das Werkzeug zur Erkenntnis verliert jetzt seine Bedeutung, da der Mensch, der Meisterschaft erlangt hat, in ein Größeres eingetaucht ist und sein Sprungbrett getrost zurücklassen kann. Am Beginn des Eigentlichen angekommen wird Shiatsu als solches wohl nicht mehr wichtig sein. Im Sinne des Zen hat es seine Aufgabe erfüllt.

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© Rene Tischhart, Shiatsu-Praktiker in Kärnten und organisatorischer Leiter der Shiatsu-Schule Kärnten (http://www.shiatsu-kaernten.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Nachfolgende Zitate aus E. Herrigel, „Zen in der Kunst des Bogenschießens“, der wiederum auch aus dem Traktat „Das unbewegte Greifen“ von Zen-Meister Takuan über die Schwertkunst zitiert.