Traumata (Pamela Ellen Ferguson)

Übersetzung: Anne Frederiksen

Meine Serie von Workshops über Traumata, die ich kürzlich in einigen europäischen Städten – von Belfast bis Berlin – gegeben habe, brachte einige unerwartete und dramatische Ergebnisse. Unsere Diskussionen und praktischen Techniken eröffneten den erfahrenen Shiatsu-Therapeuten neue Einsichten, zudem bekamen sie hochspezialisierte Behandlungsmöglichkeiten für ihre Patienten an die Hand.

Aber die Workshops waren weit mehr. Da die Atmosphäre Ki- inspiriert, sicher und unterstützend war, begannen die Therapeuten, ihre eigenen Kindheits- und Erwachsenentraumata miteinander zu teilen. Niemand erwartete eine Gruppentherapie. Das Teilen kam ganz spontan zustande. Wir hörten persönliche Geschichten über einen Mordversuch durch den Ehemann, Vergewaltigung durch Kollegen, Geschichten über emotionalen und körperlichen Missbrauch in der Ehe, über Auto- und Fahrradunfälle, gewaltsamen Raub und persönliche Verletzungen. Es wurde auch von Unfall- oder Operations-Traumata in der Kindheit berichtet, die durch indifferente oder grausame Eltern oder gleichgültige Ärzte noch verschlimmert wurden.

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Ich bat alle Teilnehmer, ihre traumatischen Erfahrungen auf einem großen Blatt Papier mit Farbstiften, lustigen Stickern von Tieren, Autos, Menschen, Schmetterlingen, Herzen, Sternen usw. festzuhalten, um der Vergangenheit Licht, Raum und ausdrucksstarke Farben zu geben. Trotz des Spektrums von erschreckenden Geschichten, konnten wir alle immer wieder auf das hilfreiche Sicherheitsventil zurückgreifen: Lachen und Humor!

Ich bat alle Teilnehmer, sich zu zweit zusammen zu tun und mit Hilfe der Fünf Elemente über ihr Kunstwerk zu sprechen und dann die angemessenen Meridiane und Dehnungen für einen Behandlungsaustausch zu wählen, um dem Partner zu helfen, alle schlummernden Erinnerungen aus dem frühen Trauma oder Unfall zu heilen.

Die Workshops haben den Therapeuten – und auch mir – ein großes Spektrum von allgemeinen Traumata-Themen eröffnet, die kulturelle und ethnische Unterschiede transzendieren und ihnen seltene Einsichten in Behandlungen und diagnostische Vorgehensweisen gegeben. Wir alle sind der Auffassung, dass Traumata sich oft während einer Shiatsu-Sitzung zeigen oder entdeckt werden, obwohl der Patient aus anderen Gründen, zum Beispiel wegen Kopfschmerzen, Menstruationsproblemen, Rückenschmerzen oder Tinnitus, zu uns gekommen ist.

Bei der Arbeit in meiner Praxis habe ich entdeckt, dass ein Trauma bestimmten Meridianen völlig neue Dimensionen hinzufügen kann. Den Magenmeridian zu behandeln, ist zum Beispiel eine wirksame Methode, jemandem, der das Gefühl für sein Zentrum durch den Verlust seines Hauses im Krieg oder durch eine Katastrophe verloren hat, Struktur und Fokus zu geben. Der Dreifacherwärmer hilft, sich einer neuen Situation oder einer neuen Umgebung anzupassen. Der Herzkreislaufmeridian kann demjenigen Wärme geben, der durch Trauma oder Schock körperliche oder emotionale Kälte verspürt. Der Nierenmeridian hat eine Resonanz zu Erinnerungen an weit zurückliegende oder erst kürzlich entstandene Traumata. Diese Erinnerungen können während einer Sitzung, in der der Nierenmeridian ausgewählt wurde, um zum Beispiel ein chronisches Problem wie Schmerzen im unteren Rücken zu beheben, spontan an die Oberfläche kommen. Der Nieren-Yu Punkt (Blase 23) ist der Punkt, der viele Schichten von Erinnerungen an Traumata, besonders aus der Kindheit, speichert. Eine meiner Patientinnen begann plötzlich, über einen immer wieder kehrenden Traum zu sprechen, den sie in der Kindheit gehabt hatte. Darin hatte ihr Bruder ihr wieder und wieder einen Dolchstoß in die Nieren versetzt. Während sie sprach, unterstützte ich nur ihren unteren Rücken und riet ihr, einen Therapeuten aufzusuchen, wenn sie glaubte, dass sie weitere Aufklärung über die Ursache des Traumas wünschte.

Shiatsu-Therapeuten sollten niemals versuchen, Erinnerungen zu provozieren. Aber sie sollten wissen, was zu tun ist, wenn diese spontan an die Oberfläche kommen. Wichtig ist es, die Patienten zu unterstützen und ihnen zuzuhören, wenn sie das Bedürfnis haben zu sprechen und ihre Traumata mit uns zu teilen bereit sind. Niemals aber sollten Shiatsu-Therapeuten über ihre Berufsgrenzen hinausgehen. Sie sollten nicht versuchen, psychotherapeutisch zu arbeiten, wenn sie keine zusätzliche Ausbildung haben. Sie sollten immer wissen, wann und zu wem sie den Patienten weiterempfehlen. Shiatsu ist so non-invasiv, dass es viele „unteriridische“ Schichten heilen kann und eine sichere Struktur für die Erinnerungen bietet, die während einer Behandlung indirekt an die Oberfläche kommen.

Aus meiner Praxis mit Traumata-Patienten und Patienten mit Posttraumatischen Stress-Syndromen habe ich einige wichtige Richtlinien herausgefiltert, die sich durch die Arbeit in meinen Workshops ergeben haben.


Tipps für die Praxis

  • Bedränge das Ki Deines Patienten nicht, sitze nicht zu nahe an seinem Körper, obwohl Du das im Basisunterricht gelernt haben magst.
  • Sitze nicht zu nahe am Kopf des Patienten, wenn Du am Hals arbeitest. Respektiere den Ki-Kreis um ihn, besonders um seinen Hals herum, damit kein klaustrophobisches Gefühl entsteht.
  • Arbeite strukturiert und klar. Benutze nicht zu viele Techniken, lass das Ki sich vielmehr entfalten und ausdehnen.
  • Vermeide zu reiben, zu schaukeln oder zu streichen. Dies kann ein weiteres Trauma hervorrufen und dazu führen, dass der Patient sich unwohl fühlt oder ihm übel wird.
  • Benutze keine kniffligen Techniken.
  • Wenn der Patient zu weinen beginnt, ist es hilfreich, dass er sich hinsetzt. Die horizontale Lage kann für einige Patienten sehr bedrohlich sein.
  • Stehe nicht über dem Kopf des Patienten, wenn Du seine Arme dehnst. Gehe achtsam mit dem Ki-Raum des Patienten um.
  • Bleibe ruhig, wenn ein Patient sich plötzlich von Dir wegrollt oder es ablehnt, am Hara, den Oberschenkeln, an verletzten Stellen oder einer Zone, die operiert wurde, berührt zu werden. Mache minimale körperferne (off the body) Qi Gong-Arbeit, indem Du dem Meridianverlauf folgst oder Dich auf einen Punkt konzentrierst, der Dir wichtig ist.
  • Achte auf die Körpersprache und den Gesichtsausdruck des Patienten.
  • Sei nicht verletzt oder beleidigt, wenn ein Patient sich plötzlich zurückzieht und darüber klagt, dass Deine Berührung a) zu sanft oder b) zu fest ist. Extreme Variationen in der Berührung können manchmal erschreckende Erinnerungen hervorrufen. Frage den Patienten, ob er etwas mit Dir teilen und/oder sich setzen möchte, um sich bei einer Tasse Tee mit Dir auszutauschen und ob er Hinweise wünscht, an welchen Therapeuten er sich evtl. wenden kann .

In meinen Workshops haben sich auch besondere Trauma-Kategorien entwickelt und daraus einige praktische Hinweise:


Unterdrückte Traumata

Wenn ein Ersttrauma nicht vollständig geheilt wird (sei es medizinisch, durch Shiatsu oder/und andere angemessene Formen der Therapie) oder wenn dieses emotionale Schockwellen hervorruft, die nie wirklich angesprochen wurden, ist es möglich, dass es in anderer Ausprägung wiederkehrt. Ein Beispiel: „Hugo“ hat in seinen 50ern mehrere Selbsttötungsversuche unternommen, nachdem das Ende einer Liebesbeziehung all den Schmerz wieder an die Oberfläche brachte, den er Jahre zuvor nach einem doppelten Familientrauma – Selbsttötung seiner Mutter und Tod seiner noch jungen Schwester – verschlossen hatte. Er war viele Jahre in therapeutischer Behandlung, nahm Medikamente und war für jegliche Form von physischen Therapien unzugänglich.


Schleudertraumata

Schleudertraumata haben viele unterschiedliche Begleiterscheinungen, die selten mit dem ursprünglichen Unfall in Verbindung gebracht werden. Diese schließen chronische Kopfschmerzen, Nackenschmerzen, Probleme mit den Augen, Gleichgewichtsprobleme, Tinnitus, Schluckbeschwerden, Probleme mit dem unteren Rücken, Schwindel, unerklärliche Ängste und Alpträume ein. Das traumatisierte oder „zersplitterte Ki“ um den Kopf und Nacken des Patienten herum sollte vor allem mit langsamen und einfühlsamen körperfernen (off the body) Kreisbewegungen behandelt/therapiert werden, bevor spezielle Meridiane oder Akupunkturpunkte erfolgreich behandelt werden können. Es ist hilfreich, wenn der Patient mit Hilfe eines großen Bogens Papier, Farbstiften und Spielzeugautos, den Unfall rekonstruiert, so dass er und der Therapeut den tatsächichen Verlauf des Unfalls und das Muster der Verletzungen untersuchen können. Wenn der ursprüngliche Unfall nicht untersucht und ganzheitlich behandelt wird, sind die Patienten oft in weitere Unfälle verwickelt und die Schleudertraumata überlagern sich.


Nach innen gewendete Traumata

Diese passieren, wenn Familienmitglieder oder Polizisten sagen, es sei „nichts passiert“ und sich abweisend verhalten. Das kann der Fall sein, wenn von einer versuchten Vergewaltigung berichtet wird oder von verbalem, rassistischem oder emotionalem (nicht aber physischem) Missbrauch oder von einem Verkehrsunfall, der einen extremen Schock verursachte, aber keine sichtbare körperliche Verletztung. Das schwere emotionale Trauma gärt unter der Oberfläche und kann Jahre später durch eine beiläufig hingeworfene Bemerkung, einen Geruch oder eine plötzliche Bewegung oder gar eine einfache Shiatsu-Nacken-Behandlung zum Ausbruch kommen oder eine Reaktion hervorrufen. Es hilft, die Patienten in die Sitzposition zu bringen und sie in ein Laken zu „hüllen“. Manchmal wollen sie gerade in dem Augenblick nicht berührt werden, haben aber das Bedürfnis zu reden. Lasst es zu, dass sie ihre Erfahrungen mit Euch teilen. Es ist gut möglich, dass der Shiatsu-Therapeut der erste ist, der die ganze Geschichte erfährt.


Doppelte Traumata

Diese passieren, wenn jemand einen Unfall oder einen Angriff erlebt hat oder „tyrannisiert“ oder „gemobbt“ wurde und die Zeugen (insbesondere Familienmitglieder, Schul- oder Studienfreunde oder Kollegen) dabei standen, aber nichts getan haben, um zu helfen. Das Gefühl des Verrates oder der Isolation setzt sich im Bewusstsein fest und, wenn das Trauma nicht behandelt wird, kann es später durch ähnliche Erfahrungen verstärkt werden und wieder aufbrechen oder durch einen Kommentar oder die Behandlung eines entsprechenden Meridians wieder hervorgerufen werden. Je nach Situation hilft es, wenn der Shiatsutherapeut die verletzte Zone unterstützt oder Masunagas Rückendiagnosezone der Lunge (1. bis 3. Brustwirbel) hält, um das „zersplitterte Ki“ zu reparieren und zu wärmen, während der Patient über den Unfall spricht.


Generationstraumata

Diese passieren, wenn ein Familienmitglied ein körperliches Trauma erlebt hat (durch Krieg, Bürgerkrieg, persönliche Tragödien usw.) und dieses als emotionales Trauma von der nächsten Generation als Depression, unerklärliche Angst, emotionale Instabilität und Suchtproblem erfahren wird. Wenn Shiatsutherapeuten es schwierig finden, einen Patienten zu diagnostizieren, hilft die Fünf Elemente Karte mit den vier Zyklen, um den Patienten über seine Familiengeschichte oder die Erfahrungen seiner Eltern zu befragen.


Sexuelle Traumata in der Kindheit

Diese können Jahre der emotionalen Instabilität zur Folge haben oder Beziehungsprobleme und Essstörungen hervorrufen. Vergangene Schrecken werden während des Erwachsenenlebens auf verschiedene Weise wieder geweckt. Zum Beispiel kann das geschehen, wenn eine Frau ein Kind zur Welt bringt oder wenn der Patient eine Landschaft, einen Raum oder ein Ambiente betritt, der an den Ort des vergangenen Missbrauchs erinnert und so das vergangene Trauma wieder an die Oberfläche bringt. Auch eine bestimmte Art von physischer Therapie oder eine bestimmte Berührung oder Dehnung sowie das Zusammentreffen mit jemandem, der die gleiche Stimme oder den gleichen Charakter wie der Angreifer hat, können Auslöser sein. Klares und direktes Shiatsu hilft, ein physisches und emotionales Gefühl der Sicherheit wieder herzustellen. In manchen Fällen kann das allerdings einige Monate, wenn nicht Jahre, dauern.


Posttraumatisches Stress-Syndrom

Dieses kann nach einem Krieg, einem Bürgerkrieg oder einer gewalttätigen Attacke oder Tragödie zu Depressionen, chronischen Schlafstörungen, Wutausbrüchen, Persönlichkeitsveränderungen führen, es kann Furcht hervorrufen, die durch so etwas Simples wie das Zuknallen einer Tür oder einer Fehlzündung beim Auto ausgelöst wird oder sich in Ängsten manifestieren kann, wenn die Umgebung zu ruhig ist, da der traumatisierte Patient nur Lärm und Aufruhr gewohnt war. Gruppentherapie oder Gesprächsgruppen und regelmäßiges, ruhiges Shiatsu, durch das der Patient wieder Vertrauen fasst, helfen, einige der Symptome, besonders körperliche Blockaden, zu lindern.

Schließlich, um noch das zum Schluss zu sagen: Ich liebe es, in meinen Workshops die Geschichten und die Kunstwerke berühmter Maler, die unter Traumata oder Depressionen litten, mit den Teilnehmern zu teilen (René Magritte hat als ganz junger Soldat in Belgien am Ersten Weltkrieg teilgenommen; Edvard Munch litt unter schweren Depressionen und Familientraumata; Vincent van Gogh musste wegen eines psychotischen Zusammenbruchs ins Krankenhaus eingeliefert werden, der, so glaubt man, durch Epilepsie und Absinth ausgelöst wurde). Die New Yorker Psychologin Maria Sestin hat mich diesbezüglich inspiriert. Sie arbeitet mit lateinamerikanischen und mittelamerikanischen Frauen, die durch verschiedene Traumata – ausgelöst durch Bürgerkriege oder häuslichen Missbrauch – an Depressionen leiden. Oft begannen sie erst dann zu weinen und zu sprechen, wenn Maria Sestin ihnen Bilder von Frida Kahlo zeigte. Sie konnten ihr eigenes Leiden mit den Porträts der berühmten mexikanischen Künstlerin in Beziehung setzen (New York Times „Wenn Kunst Schmerzen imitiert“, 14. Juli 2005).

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© Pamela Ellen Ferguson, Dipl. ABT (NCCAOM), CI (AOBTA, GSD-Germany), RMT; Austin, Texas. Veröffentlichung der deutschen Übersetzung in Shiatsu Journal Nr. 49, Sommer 2007