Absichtslosigkeit und Wirksamkeit. Ein Widerspruch? (Eduard Tripp)

Absichtslosigkeit als Konzept im Shiatsu entstammt dem chinesischen Prinzip des Wu Wei und bedeutet in diesem Kontext, dem Fluss des Qi (Ki) ohne bewusste Zielvorstellung zu folgen, die KlientIn aus innerer Leerheit heraus zu begleiten, aus dem innersten Zentrum, dem Hara. Absichtslosigkeit ist in vielen Ansätzen des Shiatsu ein wesentliches Element und macht, so der theoretische Ansatz, viel von der Qualität und der Wirksamkeit von Behandlungen aus. Wozu, so lässt sich nun aus diesem intuitiven Zugang zu Shiatsu fragen, ist es also notwendig, Diagnostik anzuwenden und – noch pointierter – verhindert Diagnostik nicht geradezu die Wirksamkeit der Shiatsu-Behandlung?

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Diagnostik ist generell nur dann sinnvoll, wenn sie zu Behandlungskonzepten und entsprechend durchgeführten Behandlungen führt. Stellt man – stellvertretend für andere Diagnostik- und Behandlungsschemata – im Sinne der traditionellen chinesischen Diagnostik ein energetisches Disharmoniemuster fest, z.B. eine Schwäche im Nieren-Bereich und eine (relative) Fülle im Herz-Bereich, so bedeutet dies eine klare Handlungsanweisung: die „Niere“ auffüllen und (das hängt noch vom Gesamtkontext der genaueren Diagnostik ab) das „Herz“ beruhigen. Einer solchen Behandlungsstrategie folgt man dann mit entsprechenden Kräutern in der Kräutertherapie oder mit einer entsprechenden Behandlung im Shiatsu.

Damit aber werden wir „absichtsvoll“. Wir verfolgen ein Ziel und schränken uns zugunsten des von uns erarbeiteten Konzeptes ein. Wir kommen mit einem diagnostischen Ansatz – nochmals sei betont, dass es dabei keine Rolle spielt, welcher Art die Diagnostik ist, ob nach der Traditionellen Chinesischen Medizin, den Fünf Elementen/Wandlungsphasen oder nach kyo und jitsu – immer zur gleichen Einengung, Einschränkung in der Begegnung. Behandlungskonzepte, so hat es den Anschein, stehen geradezu konträr zur Absichtslosigkeit, die kein Ziel verfolgt, vielmehr intuitiv, aus dem Bauch heraus, „der Energie folgt“.

Dieser Widerspruch, in den wir mit jeder Behandlung gestellt sind, bedeutet meinem Verständnis nach sowohl eine reale Entscheidung (folge ich in einer konkreten Situation meiner Intuition oder folge ich meinem Behandlungskonzept?) wie auch einen scheinbaren Widerspruch, den unser Leben insgesamt ausmacht.

Um die Dialektik von Absichtslosigkeit und absichtsvollem Tun zu illustrieren, möchte ich den philosophischen Ansatz der „zwiefältigen Welthabe des Menschen“ von Martin Buber darstellen, der der jüdisch-christlichen Tradition entstammt. In seinem Hauptwerk „Ich und Du“ (erstmals erschienen 1923) legt Buber dar, dass der Mensch in zweierlei Beziehung zur Welt steht, die er mit den beiden „Grundworten“ Ich-Es und Ich-Du benennt.

Ich-Es beschreibt im Sinne Bubers die Beziehung zwischen einem Subjekt (dem Menschen) und den Objekten (alles, was ihn umgibt). Der Mensch erfährt auf diese Weise die Welt. Er schafft sich ein Wissen über Dinge, Objekte und Lebewesen. Er erfährt etwas über sie und geht mit ihnen um. Als Erfahrender nimmt er aber innerlich nicht Anteil an ihnen, er ist von den Objekten seiner Erfahrung getrennt. Die Erfahrung der Welt verbindet ihn nicht mit ihr, zumal auch die Welt keinen unmittelbaren Anteil an seiner Erfahrung hat.

Das Grundwort Ich-Du hingegen beschreibt die Welt als Begegnung. Ein Mensch, dem gegenüber man das Grundwort Ich-Du spricht, ist kein Objekt, über das man etwas erfährt, sondern man steht in einer unmittelbaren Beziehung mit ihm. Erst wenn man aus dieser Beziehung wieder heraustritt, erfährt man etwas über das Gegenüber. Erfahrung (Wissen, Erkenntnis) ist ein Resultat der Distanz, der „Du-Ferne“. Die Beziehung zum Du hingegen ist immer unmittelbar. In der wahren Begegnung stehen zwischen mir und dir weder Phantasien noch Absichten. Jeder Zweck und jedes Mittel wäre ein Hindernis, und erst wo „alle Mittel zerfallen“, findet wirkliche Begegnung statt.

Die Dialektik der Beziehungsmöglichkeiten von Ich-Es und Ich-Du beschreibt Buber als Sein und Erfahrung. Sein ist Gegenwart, der Augenblick der Begegnung ist Gegenwart. Erfahrung jedoch ist Vergangenheit und alle Inhalte der Erfahrung sind Vergangenheit. Jedes Sein, in dem das Du gegenwärtig ist, wird zwangsläufig aber auch wieder zur Erfahrung, zur Vergangenheit. So präsent das Du in der unmittelbaren Begegnung auch ist, nach dem Ende des Beziehungsprozesses wird die Begegnung unweigerlich zur Erfahrung, die wir in Erinnerung rufen können, bewerten, einordnen und reflektieren. Jedes Du wird immer wieder zum Objekt, jedes Objekt aber kann auch wieder zu einem Du, zu einem Gegenüber, werden.

Absichtslosigkeit lässt sich so im Sinne von Buber als unmittelbare Begegnung verstehen, ist „absichtslose“ Gegenwart im Sein. Und schon hier zeigt sich der dialektische Widerspruch, wenn wir in der Shiatsu-Sitzung Absichtslosigkeit anstreben, denn jedes Streben bedeutet eine Absicht. Jede Begegnung, die ein Ziel verfolgt, einen Zweck und dazu bestimmte Mittel einsetzt, steht im Widerspruch zur absichtslosen Gegenwart. Jeder Zweck und jedes Mittel macht aus dem Gegenüber letztlich ein Es, ein Objekt, das wir auf diese Weise aber auch gezielt behandeln können.

Die Welt der Objekte, des Wissens und der Erfahrung ist von existentieller Bedeutung für unser Leben. Wir erfahren auf diese Weise die Welt, und die so erfahrene Welt ist einigermaßen zuverlässig. Sie hat Dichte und Dauer. Sie hat Zusammenhang in Raum und Zeit, ist überschaubar und wir können in ihr handeln wie auch planend und handelnd auf sie einwirken.

Dem Sein und Werden allerdings begegnen wir, so es uns in diesem Augenblick möglich ist, als unserem Gegenüber ganz und ausschließlich. Die Welt begegnet uns und erschließt sich uns auf diese Weise als Sein. Nichts anderes ist gegenwärtig als das „Eine“, aber dieses Eine ist umfassend – „welthaft“ in der Sprache Bubers. In solcher Gegenwart können wir aufgrund der uns angeborenen Natur allerdings nicht dauerhaft leben. Wir müssen sie auch wieder zu Gunsten der Ich-Es-Beziehung überwinden. Die Welt der Objekte ist gleichwohl ein wesentlicher, ein konstituierender Aspekt der menschlichen Natur, weder schlecht noch minderwertig. Problematisch ist die Ich-Es-Beziehung nur dann, wenn sie dominierend wird: „Ohne Es kann der Mensch nicht leben. Aber wer mir ihm allein lebt, ist nicht der Mensch“, so Buber. Wer in Beziehung tritt, nimmt an einer unmittelbaren Wirklichkeit teil (an einem Sein), ohne sie sich aneignen zu können. Wo aber keine Beziehung (Teilhabe) ist, ist keine „Wirklichkeit der unmittelbaren Begegnung“.

Für Buber sind beide so beschriebenen Pole des Menschseins gleichberechtigt und gleich wichtig. Jeder Mensch lebt auf Grund seiner ihm angeborenen Natur im „zwiefältigen Ich“. Der Zweck des Grundwortes Ich-Es ist das Erfahren der Welt und der Gebrauch der Dinge, das Handeln und Planen. Der Zweck der Beziehung hingegen ist die Berührung des Du.

Das Ich, das sich zwangsläufig wieder aus dem Beziehungserlebnis löst, verliert diese unmittelbare Wirklichkeit allerdings nicht vollständig. Die Teilhabe bleibt in ihm lebendig, und dies ist der Bereich der Subjektivität, in dem sich das Ich seiner Verbundenheit und seiner Abgelöstheit in einem gewahr wird.

Das Leben vollzieht sich so im Wechsel von Aktualität (Begegnung im Grundwort Ich-Du) und Latenz (Erfahrung und Gebrauch im Grundwort Ich-Es). Jedes Du muss zum Es werden, und das Es wird in der Begegnung wieder zum Du. Die Latenz entspricht dem Atemholen der Aktualität, in der das Du dennoch präsent bleibt (bleiben kann). Hier fließen Absichtslosigkeit und gezieltes Handeln in einem Punkt zusammen. Und genau das scheint mir das (häufige) Missverständnis in der Diskussion zwischen Absichtslosigkeit und Wirksamkeit. Absichtslosigkeit ist per se kein Widerspruch zur Wirksamkeit im Sinne einer Ich-Es-Beziehung (und umgekehrt), vielmehr bilden sie eine dialektische Einheit, stehen miteinander in Beziehung, bedingen und ergänzen einander wie Yin und Yang. Das Ziel der Behandlung – vereinfacht als Diagnostik und daraus resultierender Behandlungsstrategie dargestellt – bildet gleichsam den Rahmen, die Form, und die Begegnung innerhalb dieser Form den Inhalt. Zu keinem Zeitpunkt sind Form und Inhalt allerdings völlig voneinander getrennt, denn die Form bedingt den Inhalt, und der Inhalt bedingt die Form.

Und nicht nur die Teilhabe bleibt in uns lebendig, wenn wir uns aus der Begegnung lösen, sondern auch der „innere Beobachter“ (manche Meditationstechnik spricht dabei von „reiner Aufmerksamkeit“) bleibt in uns lebendig, wenn wir bewusst dem Du begegnen. Ohne die Funktion des „inneren Beobachters“ besteht nämlich die Gefahr, dass das, was in der Begegnung gelebt und aktualisiert wird, seine Quellen vor allem in unbewussten Wünschen und Motiven der BehandlerIn hat, die in Form von Übertragungen (d.h. unbewussten Aktualisierungen von Konflikten und Wünschen der Vergangenheit) ausgelebt werden. Der durch Schulung und Selbsterfahrung erworbene und gestärkte „innere Beobachter“ jedoch vermag uns zu korrigierenden Einsichten in unserem Handeln (und damit auch im Behandlungsverlauf) zu verhelfen und bewahrt uns und unsere KlientInnen vor dem unreflektierten Agieren unbewusster, persönlich motivierter Impulse.

Geht die Begegnung mit dem Du, die Teilhabe, verloren, so wird die Behandlung formal, technisch und lieblos (wenngleich vielleicht „perfekt“ im Sinne einer „objektiven“ Aufgabenstellung). Umgekehrt kann eine Sitzung ohne Zielsetzungen zwar tiefe Erfahrungen ermöglichen, birgt jedoch die Gefahr in sich, ohne Ziel und Richtung im Chaos zu versinken, getrieben zu einem großen Teil von unreflektierten Impulsen der BehandlerIn. Wenn sich aber Absichtslosigkeit und Absicht in einem Punkt treffen (gleichsam „achtsame und handelnde Gegenwart“), entfaltet sich Wirksamkeit auf höchster Ebene.

Zum Abschluss noch ein Zitat von Buber, das dieser mehr als vierzig Jahre nach der Verfassung von „Ich und Du“, über die Situation des Psychotherapeuten schrieb: Wenn dieser sich damit begnügt, den Patienten zu „analysieren“, d.h. aus seinem Mikrokosmos unbewusste Faktoren ans Licht zu holen, kann ihm so manche „Reparatur“ gelingen. Er kann damit aber, so Buber, bestenfalls einer diffusen, strukturarmen Seele helfen, sich einigermaßen zu sammeln und zu ordnen. Das, was seine eigentliche Aufgabe wäre, nämlich die Regeneration eines verkümmerten „Person-Zentrums“, wird ihm so aber nicht gelingen. Das kann nur, wer die verschüttete latente Einheit der leidenden Seele erfasst – und das ist eben nur in der partnerschaftlichen Haltung (innerhalb einer wirklichen Beziehung) zu erreichen, nicht durch die alleinige Betrachtung und Untersuchung eines Objektes.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)