Chronopharmakologie

War die Medizin bislang gewohnt, den menschlichen Organismus als etwas Statisches zu betrachten und zu behandeln, weiß man heute, dass dieses Bild der Dynamik des Lebendigen nicht gerecht wird. Ein Blutbild beispielsweise ist deutlich abhängig davon, wann es gemacht wird, so dass ein aus mehreren Messungen erstelltes circadianes Profil (oder Tagesprofil) eine größee Aussagekraft besitzt als eine EInzelmessung. Und auch die Wirkung vieler Medikamente ist eng mit der Tageszeit der Einnahme verbunden.[1]Früher ist man davon ausgegangen, dass ein Medikament am besten wirkt, wenn es den ganzen Tag verteilt einen konstanten Wirkstoffspiegel im Körper erzeugt. Der Organismus reagiert auf jegliche Reize je nach Tageszeit unterschiedlich. Entsprechend wirkt Alkohol – bei gleicher Alkohol-Blutkonzentration – morgens subjektiv weit stärker als abends, wohingegen die Auswirkung auf sensomotorische Leistungen nachts stärker ist als am Tag. Auch bewirkt die Einnahme von Nitroglycerin am Morgen eine Vergrößerung des Durchschnitts der Herzkranzgefäße um 74 Prozent, am Abend aber nur um 12 Prozent. Ein anderes Beispiel sind Zytostatika, die nicht nur Krebszellen, sondern auch gesundes Gewebe schädigen. Viele Zytostatika greifen in der sensiblen Phase der Zellteilung an (wenn die sonst geschlossene Doppelhelix der DNS verletztlich wird). Krebszellen jedoch vermehren sich bevorzugt zu anderen Zeiten als die gesunden Zellen. Wird nun ein Zytostatikum zur richtigen Zeit gegeben, greift es (vor allem) die Krebszellen an, nicht aber die gesunden Körperzellen. Zum falschen Zeitpunkt hingegen verabreicht, schädigt es die gesunden Zellen ungleich mehr, wohingegen die Krebszellen vergleichsweise geschont bleiben. Die (nicht beabsichtige) Wirksamkeit des Zytostatikums auf gesunde Zellen variiert je nach Substanz bis zum Zehnfachen.

Die Behandlung im Einklang mit dem Zellteilungsrhythmus (mit programmierbaren Pumpen, die die Dosis des Zytostatikums den Zyklen entsprechend angepasst abgeben können) zeigt, ersten Studien zufolge (wie Psychologie Heute im Juni 2005 berichtet), dass 20 Prozent mehr Patienten die kritische Dreijahresmarke überleben. Doch trotz dieser ermutigenden Ergebnisse wird nur in ganz wenigen Spitälern Chemotherapie nach chronomedizinischen Gesichtspunkten angewendet.

Ein eindrucksvolles Beispiel für die zeitabhängige Wirkung von Medikamenten ist die Gabe von Cortison. Die Cortisonproduktion des Organismus folgt von sich aus einem strengen Rhythmus: Morgens erzeugt die Nebennierenrinde viel, nachmittags wenig und nachts fast gar nichts dieses Hormons, was das Immunsystem zu hemmen vermag. Zugleich überwacht der Körper seine eigene Hormonproduktion und erzeugt zum Tageshoch nur dann viel, wenn zuvor die Konzentration gering war. Eine medikamentöse nächtliche Cortisoneinnahme (gegen Entzündungen oder Allergien) hätte deshalb fatale Folgen: Der Körper würde einen (zu) hohen Cortisonspiegel messen und die eigenen Hormonproduktion drosseln.

Um eine gleichmäßige Wirkung von Medikamenten über den ganzen Tag zu gewährleisten, müssen Medikamente nicht gleichmäßig, sondern ihrer Wirkungsschwankung entsprechend verteilt werden. Um beispielsweise einen Schmerz zu stillen oder eine allergische Reaktion zu unterdrücken, bedarf es nachts einer höheren Dosis als am Tag. Dasselbe gilt für Zahnschmerzen, weil die Empfindlichkeit der Zähne morgens zwischen 3 und 5 Uhr am stärksten ist (am geringsten hingegen zwischen 12 und 15 Uhr). Da ist es gut zu wissen, dass z.B. das Schmerzmittel Novalgin am Nachmittag am stärksten wirkt – eigentlich dann, wenn es am wenigsten notwendig ist. Besonders groß sind die Wirkunterschiede allerdings bei der therapeutischen Anwendung von Hormonen, weil die körpereigene Hormonproduktion und der Hormonbedarf tagesrhythmisch um Größenordnungen schwanken kann.


Günstige Tageszeiten für die Medikamenten-Einnahme

Pharmakokinetik (das Verhalten eines Arzneistoffes im Körper) und Pharmakodynamik (die Wirkung eines Arzneistoffes) sind, so die Kernaussagen der Chronopharmakologie, unter dem Aspekt der zeitlichen Strukturierung des Organismus zu betrachten. Die praktische Anwendung der Chronopharmakologie hat deshalb bei vielen Medikamenten zu klaren Empfehlungen geführt, wann der optimale Zeitpunkt der Einnahme ist. Nachfolgend angeführt sind einige Beispiele:

Pharmakon
 
Indikation
  
Empfohlener Einnahmezeitpunkt
 
MequitazineAllergieEinmalgabe, abends
Cimetidin, FamotidinUlcusleidenEinmalgabe, abends
Prednison, PrednisolonAsthma2/3 der Dosis morgens, 1/3 der Dosis nachmittags
Noramidopyrin, OpiateSchmerztherapiemorgens effektiver; Bedarf in der Nacht höher
Indomethazin (Retardform)Rheumatische Erkrankungbessere Verträglichkeit am Abend; Einmalgabe 12 Stunden vor dem Schmerzmaximum
Acetylsalicylsäure abendliche Gabe besser verträglich
HydrokortisonMorbus Addison2/2 der Dosis am Morgen, 1/3 der Dosis am Abend
Adriamycin, DaxorubicinOnkologiebessere Toleranz und Wirkung um 6.00 Uhr
PropranololAngina pectorisEinmalgabe gegen 8.00 Uhr
DiltiazemPrinzmetal-Anginamorgentliche Gabe

Ähnlich wie bei der Medikamenten-Einnahme hat sich auch gezeigt, dass die Hepatitis-B-Impfung in ihrer Wirkung zeitabhängig ist. Als am wirksamsten haben sich Impfungen am Nachmittag erwiesen.


Quellen und weiterführende Literatur

  • K. Immelmann, K.K. Scherer, C. Vogel & F. Schmook: Psychobiologie. Grundlagen des Verhaltens. Gustav Fischer Verlag 1988       
  • Björn Lemmer: Chronopharmakologie. Tagesrhythmen und Arzneimittelwirkung. Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft 2004 (3. Auflage)         
  • Psychologie Heute, Juli 2005

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Früher ist man davon ausgegangen, dass ein Medikament am besten wirkt, wenn es den ganzen Tag verteilt einen konstanten Wirkstoffspiegel im Körper erzeugt.