Das Kern-Bewusstsein. Ergebnisse der Neurowissenschaften nach Antonio R. Damasio

Bewusstsein ist der Oberbegriff für all jene geistigen Phänomene, die den Vorgang ermöglichen, aus dem man als Beobachter oder Erkennender der beobachteten Dinge hervorgeht, als Besitzer der aus der eigenen Perspektive gebildeten Gedanken und als potentieller Handlungsträger der Szene. Wenn man z.B. diese Seite betrachtet und diese Wörter liest, spürt man automatisch und unablässig (ob man es will oder nicht) dass man selbst die oder der Lesende ist. Man selbst und kein anderer. Man spürt, dass die Objekte, die man im Moment wahrnimmt, aus der eigenen Perspektive heraus wahrnimmt und dass die Gedanken, die sich im eigenen Geist bilden, einem selbst gehören und niemand anders. Man spürt auch, dass man auf diese Situation einwirken kann, wenn man das will: dass man fähig ist, mit dem Lesen aufzuhören und zum Beispiel aufzustehen und einen Spaziergang zu machen.[1]Kommt es im wachen Zustand zur Aufhebung von Erkennen und Selbst, gerät der Organismus in existentielle Gefahr. Dann ist man nämlich in Gefahr zu handeln, ohne die Konsequenzen seines Handelns zu … weiterlesen

Die Erforschung des Bewusstseins bedeutet damit die Betrachtung zweier “Akteure”, nämlich des Organismus und des Objekts sowie deren Beziehungen zueinander. Der Organismus ist damit beschäftigt, Bezug zu einem Objekt herzustellen, und das Objekt dieser Beziehung ruft eine Veränderung im Organismus hervor.

Individuelle Perspektive, individuelle Besitznahme des Denkens und individuelle Urheberschaft sind die entscheidenden Aspekte, die das Kern-Bewusstsein zum geistigen Prozess beiträgt.[2]William James (“The Principles of Psychology, Bd. I”, New York, Dover Publications, 1950) hat das Bewusstsein – und dieser Beschreibung schließt sich Damasio grundsätzlich an … weiterlesen Das Wesen des Kern-Bewusstseins ist eine Vorstellung von sich selbst, das Gefühl von sich selbst als individuelles Wesen, das mit dem Erkennen der eigenen Existenz und der Existenz anderer beschäftigt ist.

Das Kern-Bewusstsein wird pulsierend für jeden Inhalt, dessen wir uns bewusst werden, immer wieder neu erzeugt. Es ist die Erkenntnis, die sich materialisiert, wenn wir einem Objekt begegnen, ein neuronales Muster dafür erzeugen und (automatisch) entdecken, dass die nun prägnante Vorstellung des Objektes in unserer Perspektive gebildet worden ist, uns gehört und wir sogar darauf einwirken können. Es gibt keinen schlussfolgernden Prozess, den wir dorthin führen, keinerlei sprachliche Vorgänge – es gibt einfach nur die Vorstellung dieses Objektes und gleich darauf das Empfinden, dass wir es besitzen. Das Kern-Bewusstsein ist das unmittelbare Empfinden unseres individuellen Organismus im Akt des Erkennens[3]Bestätigt wurde dieses Phänomen durch die Experimente von Benjamin Libet (“Timing of cerebral processes relative to concomitant conscious experience in man”. In: G. Adams, I. Meszaros … weiterlesen, wobei die Zeit von wesentlicher Bedeutung ist, dass damit die ursächliche Verbindung zwischen der Vorstellung eines Objektes und unserer “Inbesitznahme” hergestellt wird


Die Entstehung des Kern-Bewusstseins

Kern-Bewusstsein liegt dann vor, wenn die Repräsentationsmechanismen des Gehirns einen vorgestellten (nicht sprachlichen) Bericht erzeugen, der beschreibt, wie der eigene Zustand des Organismus davon beeinflusst wird, dass er ein Objekt verarbeitet (wie die Verarbeitung eines Objekts ursächlich auf den Organismus wirkt). Zugleich verstärkt dieser Prozess die Vorstellung von dem verursachenden Objekt, so dass es in einem räumlichen und zeitlichen Kontext hervorgehoben wird. Es wird gleichsam Bericht darüber geführt, was im Organismus geschieht, wenn er mit einem Objekt interagiert. Dabei ist es nicht von Bedeutung, ob diese Interaktion im Moment wahrgenommen oder erinnert wird, ob es sich in den Grenzen des Körpers befindet (z.B. Schmerz) oder außerhalb dieser Grenzen (z.B. eine Landschaft). Dieser Bericht ist eine einfache Erzählung ohne Worte. Er hat handelnde Personen (den Organismus, das Objekt), entfaltet sich in der Zeit und hat einen Anfang, ein Mittelstück und ein Ende. Dem Anfang entspricht der ursprüngliche Zustand des Organismus. Das Mittelstück ist die Ankunft des Objekts, und das Ende besteht aus den Reaktionen, die zu einem modifizierten Zustand des Organismus führen. Grundlegend für diesen Vorgang sind:

  • Bewusstsein hängt von der inneren Konstruktion und Darbietung neuen Wissens über eine Interaktion zwischen dem Organismus und einem Objekt ab.
  • Der Organismus als Einheit wird im Gehirn des Organismus kartiert[4]“Neuronale Muster” oder “Karten” entsprechen den aktivierten sensorischen Cortexfeldern, die sich mit modernen neurowissenschaftlichen Methoden nachweisen lassen.  Mit … weiterlesen, und zwar in Strukturen, die das Leben des Organismus regulieren und seine inneren Zustände fortlaufend signalisieren (eine Struktur, die Damasio als Proto-Selbst bezeichnet). Zugleich wird auch das Objekt in den sensorischen und motorischen Strukturen, die durch die Interaktion des Organismus mit dem Objekt aktiviert werden, abgebildet. Damit werden sowohl der Organismus als auch das Objekt als neuronale Muster in Karten erster Ordnung abgebildet (alle diese Karten können Vorstellungen werden).
  • Die sensomotorischen Karten, die das Objekt betreffen, rufen Veränderungen in den Karten hervor, die den Organismus betreffen.
  • Die so erfolgten Veränderungen werden in weiteren Karten (Karten zweiter Ordnung) repräsentiert und erfassen so die Beziehung zwischen dem Objekt und dem Organismus.
  • Die neuronalen Muster, die in Karten zweiter Ordnung angelegt werden, können ebenso zu Vorstellungen werden, wie die neuronalen Muster in Karten erster Ordnung.
  • Weil sowohl die Organismuskarten als auch die Karten zweiter Ordnung körperbezogen sind, sind die Vorstellungen, die die Beziehung beschreiben, letztlich Gefühle.

Während das Gehirn Vorstellungen von einem Objekt bildet (z.B. einer Melodie, einem Geruch, einer Erinnerung an ein Ereignis) und die Vorstellungen von diesem Objekt auf den Zustand des Organismus (der im Gehirn vom Proto-Selbst repräsentiert wird) einwirken, erzeugen weitere Gehirnstrukturen einen raschen nicht sprachlichen Bericht. In diesem Bericht geht es um die Ereignisse in verschiedenen Hirnregionen, die infolge der Interaktion zwischen Objekt und Organismus aktiviert werden.

Die Abbildung vom Organismus und dem Objekt findet in neuronalen Karten erster Ordnung statt, die das Proto-Selbst und das Objekt repräsentieren. Der Bericht über die kausale Beziehung zwischen Objekt und Organismus hingegen wird in neuronalen Karten zweiter Ordnung erfasst. Er erzählt gleichsam die Geschichte eines Organismus, der im Akt des Repräsentierens die Veränderungen einfängt, denen er dabei unterliegt. Mit diesem Vorgang – und dies gilt für Damasio als das Erstaunliche – wird in diesem Moment zugleich die Entität dessen geschaffen, der die Erzählung erzeugt: durch die Erzählung der Veränderungen, die sich durch die Beziehung zwischen dem Objekt und dem Organismus ergeben.

Der Prozess der Erzeugung des nicht sprachlichen Berichts[5]Dieser Bericht (Geschichte der Veränderungen, die sich aus der Interaktion zwischen dem Objekt und dem Organismus ergeben) ist keine sprachliche Erzählung, wie wir sie kennen, wenngleich Menschen … weiterlesen über die Beziehung zwischen Objekt und Organismus hat zwei wichtige Konsequenzen:

  • Die eine Konsequenz ist das gefühlte Wesen unseres Selbst-Sinns (als Autor der Erzählung); und
  • die zweite Konsequenz ist die Verstärkung der Vorstellung vom verursachenden Objekt, die die Aufmerksamkeit des Organismus zu diesem Zeitpunkt beherrscht. Die Aufmerksamkeit wird von einem bestimmten Objekt angezogen, was zur Folge hat, dass die Vorstellung von diesem Objekt in unserem Geist ganz besonders hervorgehoben wird. Das Objekt wird gegenüber anderen Objekten abgesetzt.

Wir wissen, dass wir bewusst sind und fühlen, dass wir beim Akt des Erkennens sind, weil der unauffällige, in Vorstellungen gefasste Bericht, der in unserem Gedankenstrom fließt, die Erkenntnis repräsentiert, dass unser Proto-Selbst durch ein Objekt verändert worden ist – durch jenes Objekt, das in unserem Geist gerade hervorgehoben wird. Wir wissen, dass wir existieren, weil diese Erzählung uns als Protagonisten im Erkenntnisakt darstellt. Wir erfahren uns immer und immer wieder, dank allem, was von außen in die sensorischen Apparate unseres Gehirns gerät oder aus dem Speicher unseres Gedächtnisses abgerufen wird. Wir erfahren uns flüchtig aber unablässig als ein gefühltes Kern-Selbst.

Die Grundlage des bewussten Ich, das Kern-Selbst, ist ein Gefühl, das aus der Re-Repräsentation des nichtbewussten Proto-Selbst erwächst und das innerhalb eines Berichtes über die Ursachen der Veränderungen im Begriff ist, selbst verändert zu werden. Als geistige Wesen existieren wir, wenn die Urgeschichten erzählt werden. Zugleich wird das Kern-Selbst beim Erzählen der Geschichte, in der Geschichte selbst, geboren. Und wir existieren als geistige Wesen nur so lange, wie diese Urgeschichten erzählt werden.


Der Aufbau des Kern-Bewusstseins

Den Forschungsergebnissen von Damasio zufolge wird das Kern-Bewusstsein pulsartig erzeugt, wobei jeder Pulsschlag durch ein Objekt ausgelöst wird, mit dem wir interagieren oder das wir erinnern.[6]Wenn man annimmt, dass ein Bewusstseinsimpuls unmittelbar beginnt, bevor ein neues Objekt den Prozess der Veränderung des Proto-Selbst auslöst, und endet, wenn ein neues Objekt seine eigenen … weiterlesen Die Kontinuität des Bewusstseins beruht auf der stetigen Hervorbringung von Bewusstseinsimpulsen, die der endlosen Verarbeitung von unzähligen Objekten entspricht, die das Proto-Selbst modifizieren. Die Kontinuität des Bewusstseins erwächst aus dem strömenden Fluss der nicht sprachlichen Erzählungen des Kern-Bewusstseins.[7]Wahrscheinlich werden gleichzeitig mehrere Erzählungen erzeugt, weil der Organismus gleichzeitig mit mehreren Objekten interagieren kann. Ferner ist wahrscheinlich, dass jede Objekt-Interaktion mehr … weiterlesen


Das Kern-Bewusstsein als neuronales Muster zweiter Ordnung

Das neuronale Muster zweiter Ordnung, das das Kern-Bewusstsein hervorbringt, hat die Aufgabe, das Proto-Selbst gemeinsam mit dem Objekt in ihrer zeitlich begrenzten Interaktion zu repräsentieren und damit die Veränderungen zu repräsentieren, die dem Organismus tatsächlich widerfahren:

  • das Proto-Selbst im Ausgangs-Moment,
  • das Objekt gelangt in die sensorische Repräsentation und
  • die Verwandlung des Ausgangs-Proto-Selbst in ein (durch das Objekt) modifiziertes Proto-Selbst.

Die wichtigsten Merkmale der Strukturen zweiter Ordnung, deren Interaktion die Karten zweiter Ordnung erzeugen, sind:

  • Signale über Axonenbahnen von Gebieten zu empfangen, die an der Repräsentation des Proto-Selbst beteiligt sind, und von Orten, die das Objekt repräsentieren;
  • ein neuronales Muster erzeugen, das in zeitlich geordneter Weise die Ereignisse “beschreibt”, die in den Karten erster Ordnung stattfinden;
  • die Vorstellung, die sich aus dem neuronalen Muster ergibt, direkt oder indirekt in den allgemeinen Strom von Vorstellungen einzuführen, den wir Denken nennen; und
  • die Strukturen, die das Objekt verarbeiten, direkt oder indirekt mit Rückmeldungen zu versorgen, so dass die Objektvorstellung verstärkt wird.

Auf verschiedenen Gehirnebenen gibt es mehrere Bewusstseinsgeneratoren, und der Prozess, der mit einem Erkennenden und einem Objekt befasst ist, wirkt dennoch einheitlich und bruchlos. Das Kern-Bewusstsein für ein bestimmtes Objekt besteht letztlich aus einer Zusammenfassung mehrerer Karten zweiter Ordnung und damit einem integrierten neuronalen Muster, das den oben angeführten Vorstellungsbericht hervorbringt und zur Hervorhebung des Objekts führt.


Hirnstrukturen, die eine Kartierung zweiter Ordnung durchführen können

Hirnstrukturen, die eine Kartierung zweiter Ordnung durchführen, müssen sowohl Signale von den “Organismus-Karten” (die den Organismus, das Proto-Selbst reprästentieren) wie auch von den “Objekt-Karten” (die das Objekt repräsentieren) empfangen und vereinen. Zudem müssen diese Strukturen auch wieder (rückwirkend) Einfluss auf die Karten erster Ordnung ausüben können, um die Objektvorstellungen verstärken und verbinden zu können. Damit kommen folgende Strukturen in Betracht:

  • die Colliculi superiores (zwillingshügelige Strukturen im hinteren Teil des Mittelhirns, Tectum),
  • die Region des cingulären Cortex,
  • der Thalamus und
  • einige präfrontale Rindenfelder.

Damasio zufolge sind wahrscheinlich alle diese Bereiche am Bewusstsein beteiligt, keines aber ganz allein dafür verantwortlich. Wahrscheinlich bilden die Colliculi superiores wie auch die cingulären Cortexfelder unabhängig voneinander neuronale Karten zweiter Ordnung. Das neuronale Muster zweiter Ordnung, das die Basis für unser Gefühl des Erkennens bildet, aber ist übergeordnet und dürfte sich aus dem Zusammenspiel von Colliculi superiores und den cingulären Cortexfeldern unter der Koordination des Thalamus ergeben.[8]Den cingulären und thalamischen Komponenten schreibt Damasio den weitaus größeren Anteil an der Bildung des neuronalen Musters zweiter Ordnung zu.

Die nachfolgende Verstärkung der Objektvorstellung wiederum wird durch mehrere Vorgänge erreicht, unter anderem durch thalamocorticale Maßnahmen und die Aktivierung von cholinergen und monoaminergen Kernen im basalen Vorderhirn und Hirnstamm, die allesamt auf die corticale Verarbeitung einwirken.


Die Funktion von Vorstellungen und Kern-Bewusstsein

Der Vorstellungsbericht über die Beziehung zwischen Organismus und Objekt hat zunächst einmal die Aufgabe, den Organismus darüber zu informieren, was er tut und welche Beziehungen zwischen den Vorstellungen von Dingen und dem Körper bestehen. Hierin liegt der Anfang der Freiheit, eine Situation zu verstehen, der Beginn der Möglichkeit, Reaktionen zu planen, die anders sind als die von der Natur vorgegebenen (und damit das Reaktions- und Verhaltensrepertoire erweitern).

Wenn das entsprechend ausgerüstete Gehirn eines wachen Organismus Kern-Bewusstsein erzeugt, ist ein Resultat zugleich immer auch ein intensiveres Wachsein und eine stärkere Fokussierung der Aufmerksamkeit auf das verursachende Objekt.[9]Eine gewisse Wachheit wie auch Aufmerksamkeit (Fokussierung) sind Voraussetzungen, damit die beschriebenen Vorgänge überhaupt stattfinden können. Beide Ergebnisse werden durch die Veränderung der Karten erster Ordnung erreicht, die das Objekt repräsentieren, und tragen zur Optimierung augenblicklicher und geplanter Reaktionen bei.

Die Vorstellungen des Erkennens sorgen für das Gefühl des Erkennens und die Hervorhebung des Objektes. Sie liefern auch, unterstützt von Gedächtnis und Denken, die Grundlage für einfache nicht sprachliche Schlussfolgerungen.

Zugleich wird auch der Urhebersinn damit erweckt: Wenn diesen Vorstellungen die Perspektive dieses Körpers zu eigen ist, den ich jetzt fühle, dann sind diese Vorstellungen in meinem Körper und gehören mir. Das Empfinden für mein Handeln beruht darauf, dass bestimmte Vorstellungen mit bestimmten Optionen für motorische Reaktionen verknüpft sind. Diese Vorstellungen gehören mir, und ich kann auf das Objekt einwirken, das sie verursacht hat.[10]Nicht nur Objekte, die in unserer Umgebung unmittelbar vorhanden sind, sondern auch Vorstellungen von Objekten, die wir aus unserem Gedächtnis abrufen, verursachen ein Kern-Bewusstsein. Die … weiterlesen

Durch die Repräsentationen auf verschiedenen Ebenen ist der menschliche Geist allerdings auch ständig gespalten – aufgeteilt in einen Teil, der für das Erkannte, und einen Teil, der für den Erkennenden steht.


Quelle

Antonio R. Damasio – “Ich fühle, also bin ich. Die Entschlüsselung des Bewusstseins”. Ullstein Taschenbuchverlag (List) , München 2002

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Kommt es im wachen Zustand zur Aufhebung von Erkennen und Selbst, gerät der Organismus in existentielle Gefahr. Dann ist man nämlich in Gefahr zu handeln, ohne die Konsequenzen seines Handelns zu erkennen. Fehlt der Selbst-Sinn im Akt des Erkennens, ist es so, als erhebe niemand Anspruch auf die Gedanken, die man erzeugt, weil der rechtmäßige Besitzer fehlt. Ohne das Selbst hat der Organismus niemanden, dem diese Gedanken gehören.
2 William James (“The Principles of Psychology, Bd. I”, New York, Dover Publications, 1950) hat das Bewusstsein – und dieser Beschreibung schließt sich Damasio grundsätzlich an – als selektiv, kontinuierlich, sich auf andere Objekte als sich selbst beziehend und persönlich beschrieben:   
Selektiv, weil es nicht alle Objekte des Geistes einschließt. Manche Objekte können bewusster werden als andere. Kontinuierlich, denn Bewusstsein ist eine permanente Eigenschaft des Geistes. Ständig werden im wachen und normalen Geist die zu erkennenden Dinge repräsentiert. Sich auf andere Objekte als sich selbst beziehend: Einerseits gibt es das Objekt und andererseits das Bewusstsein des Objekts, das “anders” ist als das Objekt. Persönlich ist das Bewusstsein insofern, als es aus einem gegebenen Organismus erwächst und mit Ereignissen in diesem Organismus befasst ist. Es ist innerlich und für andere nicht zu beobachten.            
Damasio ergänzt, um die Definition des Persönlichen zu vervollständigen, die individuelle Perspektive mit dem individuellen Besitzanspruch und die individuelle Urheberschaft.
3 Bestätigt wurde dieses Phänomen durch die Experimente von Benjamin Libet (“Timing of cerebral processes relative to concomitant conscious experience in man”. In: G. Adams, I. Meszaros & E.I. Banyai (Hg): “Advances in Physiological Sciences”. Elmsford, Bergamon Press, New York, 1981), der eine “Verspätung” des Bewusstseinsprozesses um etwa 500 Millisekunden nachweisen konnte.
4 “Neuronale Muster” oder “Karten” entsprechen den aktivierten sensorischen Cortexfeldern, die sich mit modernen neurowissenschaftlichen Methoden nachweisen lassen.  
  • Mit “Vorstellungen” meint Damasio mentale Ereignisse (im Unterschied zu den Mustern neuronaler Aktivität, die er als Karten bezeichnet), “mentale Muster”, die sich aus den Elementen der Sinnesmodalitäten (visuell, auditorisch, olfaktorisch, gustativ und somatosensorisch) zusammensetzt. Vorstellungen können bewusst oder unbewusst sein. Während nichtbewusste Vorstellungen nicht direkt zugänglich sind, sind bewusste Vorstellungen nur in der Perspektive der ersten Person zugänglich (“meine Vorstellung”, “deine Vorstellung” etc.). Neuronale Muster (Karten) hingegen sind nur in der Perspektive der dritten Person zugänglich.
  • 5 Dieser Bericht (Geschichte der Veränderungen, die sich aus der Interaktion zwischen dem Objekt und dem Organismus ergeben) ist keine sprachliche Erzählung, wie wir sie kennen, wenngleich Menschen die nicht sprachliche Bewusstseins-Erzählung (ein Geschehen zweiter Ordnung) sofort in Sprache umwandeln können. Der sprachliche Ausdruck bildet dann eine dritte Ordnung.   
    Die nahezu unausweichliche sprachliche Übersetzung liegt in der Natur des Menschen als sprachliches Wesen. Erkennen und Kern-Selbst sind ab dem Zeitpunkt, von dem an wir auf sie achten (und über einen sprachlichen Ausdruck verfügen), auch sprachlich in unserem Geist präsent. Die Wörter und Sätze kommen dabei nicht aus dem Nichts, sondern sind immer Übersetzungen von etwas, das vor ihnen war. Wenn unser Geist also “ich” sagt, dann übersetzt er den nicht sprachlichen Begriff des Organismus. “Geschichten-Erzählen” geht der Sprache voraus, ist eine Vorbedingung der Sprache.
    6 Wenn man annimmt, dass ein Bewusstseinsimpuls unmittelbar beginnt, bevor ein neues Objekt den Prozess der Veränderung des Proto-Selbst auslöst, und endet, wenn ein neues Objekt seine eigenen Veränderungen auslöst, so ist das Proto-Selbst, das durch das erste Objekt modifiziert wurde, zum Ausgangs-Proto-Selbst für das neue Objekt geworden. Und damit beginnt ein neuer Pulsschlag des Kern-Bewusstseins.
    7 Wahrscheinlich werden gleichzeitig mehrere Erzählungen erzeugt, weil der Organismus gleichzeitig mit mehreren Objekten interagieren kann. Ferner ist wahrscheinlich, dass jede Objekt-Interaktion mehr als eine Erzählung erzeugt, da mehrere Hirnebenen beteiligt sein können.
    8 Den cingulären und thalamischen Komponenten schreibt Damasio den weitaus größeren Anteil an der Bildung des neuronalen Musters zweiter Ordnung zu.
    9 Eine gewisse Wachheit wie auch Aufmerksamkeit (Fokussierung) sind Voraussetzungen, damit die beschriebenen Vorgänge überhaupt stattfinden können.
    10 Nicht nur Objekte, die in unserer Umgebung unmittelbar vorhanden sind, sondern auch Vorstellungen von Objekten, die wir aus unserem Gedächtnis abrufen, verursachen ein Kern-Bewusstsein. Die Rekonstruktion der Vorstellung eines Objekts im Geist ist zumindest von einigen der ursprünglichen Vorstellungen begleitet, an denen unser Organismus beteiligt war (wie z.B. emotionale Reaktionen oder unsere körperliche und geistige Verfassung).