Der Prozess der Selbstorganisation komplexer Systeme

Als Selbstorganisation bezeichnet man das spontane Auftreten neuer Strukturen und neuer Verhaltensweisen in offenen Systemen, die, fern von einem energetischen Gleichgewicht, durch innere Rückkoppelungsschleifen charakterisiert sind. Auf der Basis von Selbstorganisation, die sich mathematisch durch nichtlineare Gleichungen beschreiben lässt, können sich Strukturen verändern, ausdifferenzieren und weiterentwickeln. Die Theorie der Selbstorganisation[1]Die Theorie der Selbstorganisation wird auch als Theorie der Ordnungsbildung nichtlinearer Systeme bezeichnet (vgl. Komplexe Systeme. Grundprinzipien der Chaostheorie). ist ein zentraler Begriff der systemischen Betrachtung alles Lebendigen und beschreibt, wie Systeme innerhalb des Bereichs bestimmter Anfangs- und Rahmenbedingungen spezifische Ordnungszustände einnehmen. Diesen Prozess kann man zwar von außen anregen, aber nicht auf ein bestimmtes Ziel hin festlegen.[2]Die Theorie der Selbstorganisation lässt sich sowohl auf physikalisch-chemische, auf ökologische, ökonomische wie auch auf biologische, psychische und soziale Systeme anwenden.


Die Selbstorganisation biologischer Muster

Höhere Organismen entwickeln sich selbstorganisatorisch aus einer einzigen Zelle, der befruchteten Eizelle. Eine zentrale Rolle spielt dabei ein sich selbst organisierender Prozess nichtlinearer Rückkoppelung. Da es normalerweise bei komplexen Prozessen schon durch geringe Fluktuationen bei den Anfangsbedingungen zu unvorhersagbaren Entwicklungen kommen kann, die Entwicklung des Organismus jedoch gemäß der genetischen Information erfolgen soll, ist es notwendig, dass in den einzelnen Prozessschritten eine Korrektur möglicher Abweichungen stattfinden kann und stattfindet.[3]Die Grundprinzipien der Entwicklung sind in den Genen kodiert, für die Verwirklichung der Struktur werden allerdings hinreichend geeignete Energie und Information aus der „sozialen“ Umwelt der … weiterlesen

Allen strukturerzeugenden Prozessen ist gemeinsam, dass schon kleine Fluktuationen eine so starke Rückkoppelung haben, dass daraus weiteres Wachstum resultiert. Für die Strukturausbildung braucht es daher neben dem Prozess der Selbstverstärkung (der eine nicht enden wollende Entwicklung hervorrufen würde) auch einen hemmenden Prozess, der von den sich bildenden Zentren ausgeht und dem sich selbst verstärkenden Prozess entgegenwirkt. Damit dieser Vorgang erfolgreich ist muss sich die hemmende Reaktion (Inhibition) schneller ausbreiten als die aktivierende, selbstverstärkende.

Der Aktivator bewirkt auf diese Weise sowohl die Steigerung der eigenen Aktivität oder Synthese, als auch die der hemmenden Substanz oder Aktivität. Der Inhibitator hingegen unterdrückt die Aktivität des Aktivators und breitet sich schneller aus.

Die sich entwickelnden Zellen erhalten in einem selbstorganisierenden Prozess die für ihre weitere Differenzierung benötigte Information durch ihre Position in einem Informationsfeld. Abhängig von der Konzentration dieser „positional information“ werden in den Zellen positionsabhängig bestimmte Gene aktiviert, wodurch die jeweils notwendige Differenzierung der Zellen eingeleitet wird.[4]Die komplexe Wechselwirkung zwischen Aktivator und Inhibitator lässt selbstorganisatorisch die materiegebundene Information entstehen. Diese Information verwenden die Zellen durch Dekodierung und … weiterlesen

Für die Bildung von bestimmten Zelltypen ist eine klare Information notwendig, damit es zu einer eindeutigen Aktivierung der entsprechenden Gene kommt. Die Aktivierung der Gene findet dann statt, wenn ein bestimmter Informationsgehalt, d.h. eine Mindestkonzentration an Information, erreicht ist. Die Aktivierung der Gene wird stabilisiert durch Information, die durch direkte oder indirekte Rückwirkung eines Genproduktes erfolgt. Durch diesen Prozess der Selbstaktivierung der Gene bleibt das System auch dann noch stabil, wenn das ursprüngliche Informationssignal nicht mehr vorhanden ist.[5]Die Komplexität des Entstehungsprozesses eines höheren Organismus ist wesentlich größer als die Differenzierung einer Zelle. Hier reichen zwei Informationsgradienten als Informationsgeber nicht … weiterlesen


Die Selbstorganisation des Menschen

Im menschlichen Körper (wie auch in den diversen Systemen, aus denen er sich all seine Funktionsebenen zusammensetzt) entstehen durch den Prozess der Selbstorganisation laufend qualitative Systemzustände. Diese sind allerdings nicht statisch, sondern einem ständigen Veränderungsprozess unterworfen. Der qualitative Zustand eines Menschen als Ganzheit organisiert sich ständig neu in einem Prozess nichtlinearen Zusammenführens der Qualitäten aus dem körperlichen, psychischen und sozialen Bereich.

Der körperliche Bereich eines Menschen umfasst die biologische Seite seiner Existenz. Die von den Eltern mitgegebene genetische Ausstattung (als DNA kodierte Information) benötigt für die Hervorbringung eines menschlichen Organismus nach den Regeln der Selbstorganisation Energie und Information aus der sozialen Umwelt. Ohne Energie aus dem umgebenden sozialen Umfeld könnte der körperliche Bereich des Menschen weder wachsen noch existieren, und ohne Informationen aus dem sozialen Umfeld hätte der Mensch kein Bild von der Welt noch von sich. Er könnte nicht wahrnehmen, fühlen, denken und handeln. Zugleich aber wirkt er durch sein Reden, Planen und Tun auf seine soziale Umgebung ein.

Dem psychischen Bereich kommt die Aufgabe zu, jede Wahrnehmung, jedes Denken, Planen, Reden und Tun entsprechend der individuellen Erfahrung emotional einzuschätzen und eine individuelle Bedeutung (Gewichtung) zu geben. Neue emotionale Erfahrungen können den bisherigen Systemzustand verstärken, abschwächen oder aber durch eine Neubewertung verändern. Alle drei Bereiche entwickeln und verändern sich selbstorganisatorisch über die Zeit und ermöglichen über ihr nichtlineares Zusammenspiel die evolutionäre Entwicklung des Menschen.

Aufgrund der Sensibilität von Anfangsbedingungen und des nichtlinearen und iterativen (sich wiederholenden) Reagierens auf Fluktuationen (vgl. Komplexe Systeme. Grundprinzipien der Chaostheorie) kann der Verlauf der Veränderungen des qualitativen Systemzustandes im Detail grundsätzlich nicht vorhergesagt werden (und damit auch nicht der Verlauf von Gesundheit und Krankheit). Deshalb ist jeder Verlauf menschlichen Lebens zwar ähnlich, zugleich aber auch individuell unterschiedlich. 


Quelle

Karl Toifl – Lebensfluss zwischen gesund und krank. Facultas Verlag, 2004

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Die Theorie der Selbstorganisation wird auch als Theorie der Ordnungsbildung nichtlinearer Systeme bezeichnet (vgl. Komplexe Systeme. Grundprinzipien der Chaostheorie).
2 Die Theorie der Selbstorganisation lässt sich sowohl auf physikalisch-chemische, auf ökologische, ökonomische wie auch auf biologische, psychische und soziale Systeme anwenden.
3 Die Grundprinzipien der Entwicklung sind in den Genen kodiert, für die Verwirklichung der Struktur werden allerdings hinreichend geeignete Energie und Information aus der „sozialen“ Umwelt der Zelle benötigt.
4 Die komplexe Wechselwirkung zwischen Aktivator und Inhibitator lässt selbstorganisatorisch die materiegebundene Information entstehen. Diese Information verwenden die Zellen durch Dekodierung und initiieren dadurch ihren weiteren Differenzierungsweg.
5 Die Komplexität des Entstehungsprozesses eines höheren Organismus ist wesentlich größer als die Differenzierung einer Zelle. Hier reichen zwei Informationsgradienten als Informationsgeber nicht aus. Strukturen wie Arme oder Beine haben, wie Experimente gezeigt haben, ihr eigenes Koordinatensystem, um mit Hilfe dieser Informationen ihren selbstorganisatorischen Entwicklungsprozess ablaufen zu lassen.