Druck und Rhythmus. Stärkung des psychophysischen Kerns (Eduard Tripp)

Ein wesentliches Charakteristikum von Shiatsu ist der senkrechte und andauernde Druck. Liegen Beschwerden und Erkrankungen vor, so ist es empfehlenswert, ja von ganz besonderer Bedeutung, die KlientIn in einen Ruhe- und Entspannungszustand zu bringen. Die Grundlage dazu bildet die Gewöhnung des Nervensystems an einen gleichförmig fortbestehenden Reiz. Die Reaktion auf die Reizung wird durch den anhaltenden Druck geringer und kann sogar ganz verschwinden. Durch rasch zunehmenden und wieder abnehmenden Druck wird der Organismus stimuliert. Im Unterschied dazu führt andauernder Druck zu Beruhigung und Entspannung, zu einem tieferen, langsameren Atem sowie zu einer Absenkung von Blutdruck und Herzfrequenz.[1]In Japan, auf das sich der hier zitiere Artikel von Nobuyuki Fujisaki und Masami Fujisaki bezieht (The Three Principles of Shiatsu Therapy and it’s Effects, www.shiatsu-austria.at), ist Shiatsu … weiterlesen

Download im pdf-Format
Download

PatientInnen sollen zur Ruhe finden und entspannen, damit Heilung stattfinden kann. Dies vor allem dann, wenn es sich um schwerwiegende Erkrankungen handelt. Hier genügt es nicht, wie beispielsweise Fujisaki & Fujisaki betonen, Tsubos zu behandeln, vielmehr sollte der Ruhe- und Entspannungszustand das erste Ziel der Behandlung sein. Eine Einschränkung ausschließlich auf das Behandlungsprinzip des anhaltenden Drucks würde allerdings, wie nachfolgend ausgeführt wird, unnötige Begrenzungen mit sich bringen.


Berührung

Wir berühren Menschen nicht nur in ihrer Ganzheit als Körper, Seele und Geist, sondern auch in der Gesamtheit ihrer Erfahrungen. Der früheste körperliche Zugang des Menschen zu sich selbst ist der Zugang über die Haut. Von allen Sinnen des Embryos erwacht der Tastsinn als erster, und schon im achten Schwangerschaftsmonat beginnt er sich tastend ein Bild davon zu machen, wer er ist. Er reibt seine Haut an der Uteruswand, spielt mit der Nabelschnur und berührt immer wieder seinen Körper.

Unsere grundlegende Erfahrung, von Mitmenschen berührt zu werden, machen wir als Säuglinge und Kleinkinder. Vor allem im ersten Lebensjahr, wenn unsere Bewegungsfähigkeit noch sehr eingeschränkt ist und wir uns auch sprachlich noch nicht ausdrücken können, ist die körperliche Berührung, der taktile Kontakt der wichtigste Bezugspunkt zur Welt und zu den Menschen.

Berührung fördert das Bild von uns und das Gefühl zu uns. Die Konstruktion unseres Selbstbildes hat sehr viel mit unserer ursprünglichen, frühkindlichen Beziehungserfahrung zu tun. Prägend ist die Qualität dieser Beziehung, die sich vor allem in der Berührung ausdrückt und entfaltet. Wenn man als Kind gut getragen wird, hat man es später im Leben leichter mit einem tragfähigen Verhältnis zu sich selbst.

Über die Shiatsu-Behandlung können Menschen bis zu diesen sehr frühen und grundlegenden Erfahrungen gelangen. Dabei sprechen wir in einem gewissen Ausmaß immer auch die frühe Mutter-Kind-Beziehung[2]Das Fundament, das in der frühen Mutter-Kind-Beziehung gelegt wird, wird wie jede tiefgreifende Erfahrung immer in uns wirksam sein, zugleich aber auch im Laufe unseres Lebens durch unsere … weiterlesen an. Hier stehen vor allem Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Temperatur und Stimmlage im Vordergrund. Wir tauchen in diese frühe von Rene Spitz als coenästhetisch bezeichnete Wahrnehmungs- und Kommunikationswelt ein.


Biologische Rhythmen

Durch die Chronobiologie wurde nach und nach die Idee in die westliche Medizin eingebracht, dass der menschliche Körper rhythmisch funktioniert und von zeitlichen Abläufen gesteuert wird. Die einzelnen Rhythmen schwingen dabei im gesunden Organismus nicht beziehungslos nebeneinander, sondern verhalten sich – bildlich ausgedrückt – wie die Instrumentalisten eines Orchesters, die aufeinander hören. Dabei gilt, dass ein Mensch umso gesünder ist, je öfter sich seine vitalen, körpereigenen Rhythmen auf harmonische Verhältnisse einstellen. Umgekehrt gilt, dass was dem natürlichen Rhythmusgefüge zuwiderläuft, krank machendes Potential hat, z.B. Flugreisen über mehrere Zeitzonen oder Nachtarbeit.


Rhythmus in der frühen Mutter-Kind-Beziehung

Im frühen, nonverbalen Dialog zwischen Mutter und Kind ist Rhythmus ein wesentliches Element. Im Mutterleib in viele rhythmische Lebensvorgänge der Mutter eingebunden, die sein vorgeburtliches Leben prägen, ist das Neugeborene zu Beginn seines Lebens ohne stabilen eigenen Rhythmus. Selbst sein Herzschlag, vor seiner Geburt ausgerichtet am Kreislauf der Mutter, ist nach der Geburt instabil und muss erst seine eigene Regelmäßigkeit finden. Legt die Mutter das Neugeborene nach der Geburt auf ihre Brust, so stabilisiert sich dessen Herzschlag deutlich schneller. Der vertraute Rhythmus, der so von außen wiederbelebt wird, hilft den Herzschlag des Säuglings zu stabilisieren.

Einfühlsamer Rhythmus gibt Sicherheit und beruhigt. Kinder werden durch Schaukeln und Wiegen besänftigt. Auch Singen und rhythmisches Sprechen beruhigen – eine Erfahrung, die sich auch Hypnose und Trance zu Nutze machen. In gleicher Weise tragen rhythmische Berührung und rhythmischer Druck das Potential der Beruhigung in sich. Die Vitalfunktionen des Organismus werden unterstützt, gestärkt und stabilisiert. Eine guter Anhaltspunkt für einen solchen Rhythmus könnte der ruhige und entspannte Atem der KlientIn sein.

Rhythmus gibt Halt. Am deutlichsten, wenngleich manchmal mit geradezu bizarren Auswüchsen, zeigt sich die Halt gebende Funktion von rhythmischen Abläufen bei zwangsstrukturierten Menschen. Sie strukturieren ihren Tagesablauf, letztlich ihr gesamtes Leben in regelmäßig wiederkehrende und damit verlässliche Handlungen und Zeitpunkte. Je stärker die Bedrängnis, je drohender das Chaos und der Verlust der Kontrolle über das eigene Leben, desto stärker und wichtiger, ja geradezu lebensnotwendig werden die zwanghaften und ritualisierten Handlungen.

Fixe Zeiten, ein sich wiederholender und ein in wesentlichen Aspekten gleicher Ablauf vermitteln auch im psychotherapeutischen Setting Sicherheit. So kann sich Vertrauen bilden. Und so können KlientInnen ihre Kontrolle zumindest ein wenig lockern und sich der vom therapeutischen Setting und der therapeutischen Beziehung vermittelten Sicherheit anvertrauen. Dies schafft den Raum für Um- und Neustrukturierungen.


Die Stärkung des psychophysischen Kerns mit Shiatsu

Die tiefenpsychologische Theorie geht in ihrem Verständnis unserer Entwicklung von einem frühkindlichen Kern aus, in dem Körper und Psyche/Geist noch nicht getrennt sind. Der Säugling erfährt die Welt zu Beginn seines Lebens vor allem körperlich und es sind körperliche Reize und Erfahrungen, die die Basis für die weitere und damit auch psychisch/seelische Entwicklung bilden. Verglichen wird dieser frühe Erfahrungsbereich mit dem Fundament eines Hauses, das vorrangig dafür verantwortlich ist, wie die darauf ruhenden Stockwerke gebaut und ausgestattet werden können. Ein starkes und stabiles Fundament schafft gute Voraussetzungen, die durchaus konfliktreichen Herausforderungen des Lebens gut zu bewältigen. Ein schwaches Fundament hingegen führt zu Instabilität und zur Gefahr des Einbruchs bei Belastungen.

Drei Qualitäten sind es, die diesen frühkindlichen Kern stärken und entwickeln lassen, nämlich Wärme, Rhythmus und Konstanz.[3]Diese und auch nachfolgende Ausführungen zur tiefenpsychologischen Betrachtung der frühen Mutter-Kind-Beziehung basieren vor allem auf dem therapeutischen Ansatz von G. Bartl (1984, 1989), der die … weiterlesen Sie bilden die Basis für die späteren Entwicklungen, die in der tiefenpsychologischen Theorie in der Tradition Freuds als oral, anal und ödipal bezeichnet werden. Verlässt man den spezifischen Rahmen der tiefenpsychologischen Sprache, so kann man diese drei Qualitäten als Grundlage betrachten für die Fähigkeit zu

  1. Hingabe und Vertrauen,
  2. Kontrolle und Leistung; sowie
  3. stabilen und verlässlichen Beziehungen.

Wärme, Rhythmus und Konstanz werden in der psychotherapeutischen Behandlung eingesetzt, um die Fähigkeit zu Problemlösung und reifer Konfliktbewältigung zu fördern. Aber auch die achtsame Berührung und Begegnung, die bei Shiatsu zentrale Aspekte sind, vermitteln auf sehr direkte und eindrucksvolle Weise Wärme, Rhythmus und Konstanz. Voraussetzung dafür ist allerdings, dass die BehandlerIn eine grundlegende Erfahrung und ein grundlegendes Verständnis dieser Qualitäten in sich verwirklicht hat. Dies kann im Allgemeinen nur über eine intensive, professionelle Selbsterfahrung der Shiatsu-PraktikerIn vermittelt werden.


Die Vermittlung von Vertrauen und Wärme über den Rhythmus

Wärme, d.h. Zuwendung, Wertschätzung und Achtung sowie Vertrauen in sich und die Welt, kann, so die Erfahrung in der Psychotherapie, nur in einem geringen Ausmaß direkt erfahren werden. Grundsätzlich gilt, dass je mehr Vertrauen in die Welt ein Mensch entwickeln konnte, umso mehr kann er Zuwendung annehmen. Wer statt Geborgenheit vorrangig Unsicherheit und Verletzungen erlebt hat und als Grundhaltung misstrauisch geworden ist, wittert hinter Freundlichkeit schnell (möglichen) Verrat, hinter Zuwendung böse Absicht. Er ist mehr damit beschäftigt, sich einen Vorteil zu verschaffen als zu glauben, es könnte ihn jemand – entgegen seiner Lebenserfahrung – mit Freundlichkeit und Güte, ohne böse Hintergedanken begegnen. Und wenn, dann dreht sich hier aus der Sicht eines solchen Menschen das Täter-Opfer-Verhältnis um. Er kann Vorteile aus der Gutmütigkeit, Naivität, Dummheit oder Schwäche des Anderen schlagen.

Wertschätzung und Achtung anderen gegenüber kann im Falle einer solchen Lebenshaltung nur über Rhythmus und Vertrauen fördernde Maßnahmen gestärkt und aufgebaut werden. Diese Zusammenhänge erläutert sehr schön der Fuchs in Antoine de Saint-Exupery´s Buch „Der kleine Prinz“:

„Wenn du einen Freund willst, so zähme mich. (…) Du musst sehr geduldig sein. Du setzt dich zuerst ein wenig abseits von mir ins Gras. Ich werde dich so verstohlen, so aus dem Augenwinkel anschauen, und du wirst nichts sagen. Die Sprache ist die Quelle der Missverständnisse. Aber jeden Tag wirst du dich ein bisschen näher setzen können… (…) Es wäre besser gewesen, du wärst zur selben Stunde wiedergekommen. Wenn du zum Beispiel um vier Uhr nachmittags kommst, kann ich um drei Uhr anfangen, glücklich zu sein. Um vier werde ich mich schon aufregen und beunruhigen; ich werde erfahren, wie teuer das Glück ist. Wenn du aber irgendwann kommst, kann ich nie wissen, wann mein Herz da sein soll… Es muss feste Bräuche geben. (…) Es ist das, was einen Tag vom andern unterscheidet, eine Stunde von den andern Stunden.“

Warum der kleine Prinz ihn zähmen soll, erklärt ihm der Fuchs so:

„Mein Leben ist eintönig. Ich jage Hühner, die Menschen jagen mich. Alle Hühner gleichen einander, und alle Menschen gleichen einander. Ich langweile mich also ein wenig. Aber wenn du mich zähmst, wird mein Leben wie durchsonnt sein. Ich werde den Klang deiner Schritte kennen, der sich von allen anderen unterscheidet. Die anderen Schritte jagen mich unter die Erde. Der deine wird mich wie Musik aus dem Bau locken. Und dann schau! Du siehst da drüben die Weizenfelder? Ich esse kein Brot. Für mich ist der Weizen zwecklos. Die Weizenfelder erinnern mich an nichts. Und das ist traurig. Aber du hast weizenblondes Haar. Oh, es wird wunderbar sein, wenn du mich einmal gezähmt hast! Das Gold der Weizenfelder wird mich an dich erinnern. Und ich werde das Rauschen des Windes im Getreide lieb gewinnen. (…)

Man kennt nur die Dinge, die man zähmt. Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgendwas kennen zu lernen. Sie kaufen sich alles fertig in den Geschäften. Aber da es keine Kaufläden für Freunde gibt, haben die Menschen keine Freunde mehr. Wenn du einen Freund willst, so zähme mich!“

Als er etwas später den Rosen begegnete, sprach der kleine Prinz:

„Ihr gleicht meiner Rose gar nicht, ihr seid noch nichts. Niemand hat sich euch vertraut gemacht. Ihr seid wie mein Fuchs war. Der war nichts als ein Fuchs wie hunderttausend andere. Aber ich habe ihn zu meinem Freund gemacht, und jetzt ist er einzig in der Welt.“


Literatur

  • Bartl, G. (1984): Der Umgang mit der Grundstörung im Katathymen Bilderleben. In: J.W. Roth (Hg) – Konkrete Phantasie. Verlag Hans Huber
  • Bartl, G. (1989): Strukturbildung im therapeutischen Prozess. G. Bartl & F. Pesendorfer (Hg) – Strukturbildung im therapeutischen Prozess. Literas Universitätsverlag
  • Bauer, J. (2006a): Warum ich fühle, was du fühlst. Heyne Verlag
  • Bauer, J. (2006b): Prinzip Menschlichkeit. Warum wir von Natur aus kooperieren. Verlag Hoffmann & Campe
  • Erikson, E. (1989): Identität und Lebenszyklus. Suhrkamp Verlag
  • Hildebrandt, G. & Lehofer, M. (1998):  Chronobiologie & Chronomedizin. Hippokrates Verlag
  • Fujisaki, N. & Fujisaki, M.: The Three Principles of Shiatsu Therapy and it’s Effects
  • Saint-Exupéry, A. de (1956): Der kleine Prinz. Karl Rauch Verlag
  • Spitz, R.A. (1992): Vom Säugling zum Kleinkind. Verlag Klett-Cotta (Originalausgabe: The First Year of Life, 1965)
  • Tripp, E. (2003, 2004): Shiatsu aus der Sicht der Psychotherapie 1 – 4 Shiatsu Journal Nr. 34 – 37

———————————————————————–

© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 In Japan, auf das sich der hier zitiere Artikel von Nobuyuki Fujisaki und Masami Fujisaki bezieht (The Three Principles of Shiatsu Therapy and it’s Effects, www.shiatsu-austria.at), ist Shiatsu – im Unterschied zur Gesetzgebung in anderen Ländern – in den Gesundheitsbereich integriert.
2 Das Fundament, das in der frühen Mutter-Kind-Beziehung gelegt wird, wird wie jede tiefgreifende Erfahrung immer in uns wirksam sein, zugleich aber auch im Laufe unseres Lebens durch unsere Erfahrungen verstärkt, modifiziert und/oder verändert.
3 Diese und auch nachfolgende Ausführungen zur tiefenpsychologischen Betrachtung der frühen Mutter-Kind-Beziehung basieren vor allem auf dem therapeutischen Ansatz von G. Bartl (1984, 1989), der die Bedeutung von Wärme, Rhythmus und Konstanz als notwendige Basis für die spätere psychophysische Entwicklung ausführt.