Gibt es angstfreie Berührung in Shiatsu? (Eduard Tripp)

Was uns nicht berührt,
das verwandelt uns nicht.
(C.G. Jung)

Mit den durch das Corona-Virus ausgelösten Ansteckungs- und Erkrankungsängsten sowie den Lockdown-Maßnahmen, die unsere Welt in vielen Aspekten radikal verändert haben und immer noch verändern (wer hätte sich vor zwei Jahren „all das“ auch nur annähernd vorstellen können?), wird zugleich auch die grundsätzliche Dialektik der Berührung angesprochen: Sie ist von essentieller Bedeutung, ohne ihr können wir eigentlich gar nicht leben. Sie wird ersehnt und hat zugleich auch bedrohliche Komponenten. In ihr begegnet uns das Schöne, Wohltuende und Anregende gemeinsam mit dem Gefährlichen, Schwierigen, mitunter sogar Todbringenden.

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So wie Jahre zuvor das Hi-Virus das Leben einer frei(er)en Sexualität mit Angst und Schrecken erfüllte, zeigt die aktuelle Corona-Pandemie geradezu dramatisch deutlich die potenziell innewohnende Gefahr naher menschlicher Begegnung auf. Während man sich dem Hi-Virus vergleichsweise leicht und ohne allzu schwerwiegende Einschränkungen entziehen konnte (zumindest in breiten Bevölkerungsschichten), gilt das aktuell für das Corona-Virus nicht. Vor allem dann nicht, wenn man mitberücksichtigt, dass wir auch als Überträger eine sehr bedeutsame Rolle im pandemischen Infektionsgeschehen spielen. Corona greift stärker als jede andere Erkrankung der Gegenwart in das gesellschaftliche Leben in Europa ein, verunsichert, verängstigt und polarisiert. Auf unterschiedliche Weise sind wir alle davon betroffen, auch wenn das Risiko zu erkranken oder sogar ernsthaft zu erkranken nicht gleich verteilt ist.


Wie die Luft zum Atmen: Unser Bedürfnis nach Berührung

Lange vor allen anderen Sinnen, schon ab der sechsten Schwangerschaftswoche, ist der Embryo für Berührungsreize empfänglich und kann im letzten Schwangerschaftsmonat sogar schon Formen erkennen und erinnern. Die Erklärung für die frühe Entwicklung des Berührungssinnes liegt wohl darin, dass wir im Mutterleib ständig Berührungen und sanften Druck erleben und unser Gehirn damit auch viele Trainingsmöglichkeiten hat.

Nach der Geburt benötigt der Säugling, um die dramatischen Veränderungen seines Lebens zu bewältigen, eine einfühlsame „Bemutterung“ und damit eine adäquate Stimulation seines Körpers. Damit werden überlebensnotwendige physiologische und neurophysiologische Wachstumsprozesse angestoßen. Das Neugeborene will gestreichelt, liebkost und eng am Körper gehalten werden. Fehlt diese körperliche Zuwendung, kommt es, wie Rene Spitz in den 1940er Jahren beschrieb, zu schwerwiegenden Deprivations-(Entbehrungs-)Symptomen, die bis zum Tod führen können. Die hier gewonnene Erkenntnis, wie existenziell Berührung für Kinder ist, wird späterhin mit den Affenexperimenten von Harlow (1958) ebenso bestätigt wie im Kangarooing frühgeborener Kinder.

Die frühe Erlebniswelt des Säuglings ist geprägt durch Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Temperatur und Stimmlage und damit vor allem durch die glatte Muskulatur und das Autonome Nervensystem (Sympathikus und Parasympathikus). Erst später in seinem Leben wird diese „coenästhetische“ Erlebniswelt (Rene Spitz) durch die „diakritische“, unterscheidende Wahrnehmung mit Betonung der quergestreiften Muskulatur, des Zentralen Nervensystems, des logischen Denkens und der optischen Wahrnehmung in den Hintergrund gedrängt. Dennoch, wenn auch unterschwellig, gleichsam im Verborgenen und oftmals verkümmert (was, so Spitz, mit einer inneren, emotionalen und auch geistigen Verarmung einhergeht), bleibt die coenästhetische Wahrnehmung unser ganzes Leben lang von entscheidender Bedeutung und gibt dem Leben seine „sinnliche“ Fülle.


Die Biologie der Berührung

Der Tastsinn, der ursprünglichste Kontakt- und Kommunikationsweg mit der Welt um uns, vermittelt uns zwei verschiedene Wahrnehmungsqualitäten: zum einen die taktilen Wahrnehmungen („passives Tasten“), bei denen die eigene Körperempfindung im Vordergrund steht, und zum anderen die haptischen Wahrnehmungen („aktives Tasten“) mit dem Fokus auf der Wahrnehmung des Ertasteten. Berührt man einen anderen Menschen, so nimmt man immer zugleich taktile (wie sich die Berührung anfühlt) und haptische Reize wahr (über die Beschaffenheit des Körpers, den man berührt). Ein absichtlicher Körperkontakt ist damit immer reziprok: Wir nehmen immer gleichzeitig uns selbst und die*den Andere*n wahr, wenngleich wir den Fokus entweder mehr auf uns oder den*die Andere*n lenken können (ein Phänomen, das wir im Shiatsu auch bewusst einsetzen).

Für die Verarbeitung von Berührungsreizen sind drei Arten von Hautrezeptoren zuständig, die auch in unterschiedlichen Gehirnregionen verarbeitet werden. Die schnellen A-Fasern vermitteln den klassischen Tastsinn, d.h. die diskriminative oder differenzierende (unterscheidende) Wahrnehmung, und werden insbesondere von intensiven Reizen angeregt. Mit ihnen erspüren wir beispielsweise Vibrationen, Ecken und Kanten, aber auch bestimmte Aspekte von Schmerzreizen und schmerzvollen Temperaturschwankungen. Die langsameren C-Fasern hingegen vermitteln Wahrnehmungen aus dem Inneren des Körpers und dessen Zustand, die so genannte Interozeption, also beispielsweise Informationen über Wärme, Kälte, Juckreiz und bestimmte Schmerzqualitäten. Die C-taktilen Fasern, die erst 1999 entdeckt wurden, reagieren auf langsames und sanftes Streicheln und lösen dabei angenehme, wohlige Empfindungen aus. Ihre optimale Anregung erfolgt bei etwa 32 bis 36,5 Grad Celsius (entspricht in etwa der Temperatur unserer Fingerspitzen), einem hohen Weichheitsgrad und einer Geschwindigkeit von ein bis zehn Zentimetern pro Sekunde.

Mit den C-taktilen Fasern verfügt unser Tastsinn, so die „Hypothese der sozialen Berührung“, über eine spezielle Leitung, um liebevolle, tröstliche oder erotische Botschaften anderer Menschen zu empfangen. Wahrscheinlich, so vermuten die Forscher, wird so die Zusatzinformation an das Gehirn vermittelt, dass die entsprechende Berührung ungefährlich und willkommen ist. Ob und in welchem Ausmaß eine Berührung als angenehm erlebt wird, hängt schlussendlich aber nicht nur von physikalischen Parametern ab, sondern ganz wesentlich auch davon, wer uns berührt und in welchem, auch kulturellem und gesellschaftlichen Zusammenhang die Berührung stattfindet (Top-Down-Modulation). Zudem, so vermutet man, dürfte das Netzwerk der C-taktilen Fasern maßgeblich für die Ausschüttung von Oxytocin verantwortlich sein: jenes Hormon, das Angst und Stress reduziert und Vertrauen und Bindung stärkt. Und zugleich, über andere Mechanismen vermittelt, dürften soziale Berührungen auch Endorphin- und Serotinausschüttungen mit sich bringen.


Das Wesen von Angst und Aggression und das Risiko von Veränderungen

Angst ist ein Grundgefühl, das sich in als bedrohlich empfundenen Situationen als Besorgnis und unlustbetonte Erregung äußert, wobei sich zwischen objektunbestimmter, ungerichteter Angst und objektbezogener, zielgerichteter Furcht unterscheiden lässt. Evolutionsgeschichtlich handelt es sich um einen die Sinne schärfenden und die Körperkraft aktivierenden Schutz- und Überlebensmechanismus, der dort einsetzt, wo wir unsere risikofreie Komfortzone verlassen. In tatsächlichen oder auch nur vermeintlichen Gefahrensituationen löst Angst eine „Fight-or-Flight“-Reaktion aus, die zu Rückzug (Flucht) oder Aggression (Angriff) führt.

Generell macht uns Angst aufmerksam und reaktionsbereit und führt bei „optimaler“ Intensität zu gesteigerter Leistungsfähigkeit und positiver Aggression (im Wortsinn des lateinischen aggredi: auf jemand bzw. etwas zugehen), die dazu dient, Hindernisse zu beseitigen und Neues aus der Umwelt für den Organismus nutzbar zu machen. Es ist die lebensbejahende aggressive Triebfeder, die uns dazu bringt, unsere bisherigen Grenzen zu überschreiten. Damit bildet sie die Basis von Entwicklung, Neugieraktivität und Eigenständigkeit. Destruktiv oder zu Gewalt wird Aggression erst unter bestimmten äußeren oder inneren Bedingungen.

Jeder Entwicklungsschritt in Richtung größerer Komplexität und Reife bedeutet aber immer auch das Ende unserer bisherigen, in diesem Sinne einengenden Lebensstrukturen und -zusammenhänge. Wir lösen uns aus dem Bestehenden und binden uns an Menschen und Umstände, die wir noch nicht kennen, und deren daraus resultierende Konsequenzen wir auch noch nicht einschätzen können. Damit sind deshalb immer auch Ängste verbunden, denn nach Veränderungen sind wir nie mehr wie zuvor. Zwar erweitert sich unser persönlicher Raum und wir verfügen über Erfahrungen, die wir bislang noch nicht hatten, aber andererseits verlieren wir das, was war und wie es war. Nie mehr können wir in das Zuvor zurück, denn keine Erfahrung lässt sich jemals rückgängig machen.

Damit stehen wir unser gesamtes Leben im Spannungsfeld von Kontrolle und Kontrollverlust/Kontrollaufgabe: Kontrolle durch selbst gesetzte Grenzen und Distanz mit der Gefahr von fehlender Berührung und Nähe und damit Einsamkeit. Kontrollverlust und Verletzungsgefahr durch Nähe, Offenheit und Hingabe auf der anderen Seite.

Dort, wo unsere Komfortzone endet, wo unbekanntes Terrain beginnt, wo wir die Veränderung riskieren, entsteht deshalb Angst in uns: Niederschwellig als erhöhte Aufmerksamkeit (im Sinne einer Orientierungsfunktion), in höherem Ausmaß als Schwellenangst.

Überschreiten wir diese Schwelle, stellen wir uns unseren Ängsten und verlassen unsere Komfortzone. Wir tragen damit jegliches Risiko und alle Konsequenzen. Zugleich aber gewinnen wir das Gefühl von Kompetenz und Selbstwirksamkeit.


Unser Umgang mit Nähe und Berührung

Berührung kann elektrisierend (positiv aufregend) und wohltuend sein. Sie vermittelt Nähe und Geborgenheit, berührt Sehnsüchte. Menschen brauchen Berührung, um zu gedeihen, sehnen sich nach ihr. Zugleich aber, und das mach das grundsätzliche menschliche Dilemma aus, hat sie auch eine bedrohliche Dimension. Sie macht verletzlich. Wenn man sich für andere öffnet, wird man verwundbar. So sehnen wir uns nach Berührung und Nähe und wollen möglichst zugleich vor Verletzungen geschützt sein, Verletzungsgefahr vielleicht sogar auf Kosten der Berührung vermeiden.

Wie wir Berührung erleben, ist lebensgeschichtlich geprägt. Als Grundannahme gehen wir davon aus, dass das Leben so ist, wie wir es (vor allem als Kind – the first cut ist he deepest, wie Cat Stevens so treffend getextet hat) kennengelernt haben, und senden letztlich unbewusst Signale aus, die tendenziell Antworten auslösen, die diese Grundannahmen in unserem Leben bestärken. Haben wir Berührung und Nähe als wohltuend und unterstützend erlebt, so nehmen wir diese Erfahrung in unser Erwachsenenleben mit, leben entsprechend und gestalten unser Umfeld entsprechend. Sind wir aber in einer kühlen Atmosphäre aufgewachsen, und hat unser Körpergedächtnis die wenigen Umarmungen, die es gab, als eher unangenehm in Erinnerung, werden wir auch in diesem Fall meist automatisch (d.h. unbewusst) Menschen suchen, die ein ähnliches Muster aufweisen. Möglicherweise werden wir aber auch vom Gegenteil angezogen. Ein überschwänglicher Partner kann uns aber letztlich ebenso in Distanz bringen wie ein sehr zurückhaltender Mensch, da er oft ähnliche Empfindungen in uns auslöst, wie wir sie in unserer Kindheit erlebt haben.

Die Grundbotschaft in unserem Inneren, dass Berührung tut gut, aber bleibt auch dann, wenn wir schwierige Erfahrungen gemacht haben. Allerdings erleben wir Berührungen dann zugleich als gefährlich oder unangebracht. Es kann uns sogar vor ihnen ekeln.

Generell gilt: Wenn unsere Erwartungen und die Realität nicht übereinstimmen, so beschreibt es die sozialpsychologische Dissonanztheorie, versuchen wir dies auszugleichen. Entweder indem wir versuchen, die Realität zu ändern, oder indem wir unsere Erwartungen ändern. Sehen wir uns nach Nähe und es ist über einen längeren Zeitraum niemand da, mit dem wir diese (hinlänglich gefahrlos) erleben können, dann ändern wir unsere Erwartung gemäß dem „predictive coding model“ und unser gefühltes Bedürfnis nach körperlicher Nähe nimmt ab. Es bedeutet nicht, dass körperliche Nähe und Berührungen uns nun weniger guttun, sondern nur, dass wir unsere Erwartungen angepasst haben, um unser inneres Gleichgewicht zu bewahren, um weniger (bewusst) zu leiden. Das Fehlen der Nähe (und damit das Leiden) wird quasi ins Unbewusste abgedrängt.

Einsame Menschen sind misstrauischer gegenüber möglichen Bedrohungen, sind ängstlicher, feindseliger, angespannter – immer auf der Hut. Und auch, wenn das Bedürfnis nach Nähe immer stärker wird, wird Nähe, wenn sie sich einstellt, schnell als bedrohlich erlebt. Dass dieses Gefühl denen, die einsamen Menschen begegnen, vermittelt wird, trägt dann in weiterer Folge dazu bei, dass sie weiterhin einsam bleiben: Einsame Menschen achten stärker auf alles, was potentiell bedrohlich ist und auf den Schutz der eigenen Person, was sich anderen Menschen als Ausdruck der Distanzierung vermittelt.


Schwierige Erfahrungen

Im Unterschied zu visuellen und akustischen Reizen, die gleichsam an uns vorübersausen, bleibt kein Berührungsreiz unbemerkt und in Millisekunden prüft jeder Mensch, ob eine Berührung gefährlich ist oder nicht, willkommen oder nicht. Wir achten selbsterhaltend auf unseren persönlichen Raum, auf unsere Integrität als unversehrte und ganze Menschen.

Hier offenbart sich deutlich die Doppelnatur der Berührungsbedürftigkeit, die uns Menschen prägt. Zum einen zeigt sich die Furcht, dass uns jemand unberechtigt zu nahekommt (durch Gewalt oder Unachtsamkeit), und andererseits die Furcht vor Einsamkeit, weil wir ohne Nähe nicht „menschenwürdig“ leben können. Wir leben in einem Balanceakt zwischen den Fragen, wer nahekommen darf und wer fernbleiben muss. Zwischen Sehnsucht nach Nähe und Angst vor unfreiwilliger Nähe, zwischen Sehnsucht nach Abstand und Angst vor Einsamkeit. Und so bleiben oft einsam, weil wir zugleich (noch mehr) die Nähe, die Intimität fürchten.

Dazu kommt, dass der ambivalente Ruf von Berührung in unserer Gesellschaft tief in einer weitgehend sexualfeindlichen und zugleich sexualisierten Welt verankert ist. Mit der Folge, dass Berührungen rasch potenziell sexuell werden, was in der Folge auch zu einer Einschränkung des „problemlosen“ Berührungsrepertoires führt.

Darüber hinaus tragen viele Menschen, mit Glaubenssätzen und Abwehrstrategien tief verdrängte unverarbeitete, konflikthafte oder sogar traumatische Erfahrungen oder auch „schwierige“ Wünsche und Bedürfnisse in sich und haben deshalb Angst, sich auf Erfahrungen einzulassen, die solche Themen hochbringen können. Dazu gehören Berührungserfahrungen, vor allem dann, wenn sie das Spüren und Nachspüren anregen und fördern. Denn sie haben das Potenzial, tiefgreifende Veränderungsprozesse in Gang zu setzen, Verschüttetes zu befreien, bewusst und erfahrbar (spürbar) zu machen.


Gibt es ein Leben ohne Angst?

Biologisch betrachtet, ist Angstfreiheit weder möglich noch wünschenswert, weil Angst einen notwendigen Überlebensmechanismus darstellt. Unser Organismus sorgt auf diese Weise immer und überall für unseren Schutz. Unter bestimmten Bedingungen allerdings tritt dieser Mechanismus in den Hintergrund: Dann, wenn wir uns in sicheren Umständen und Bereichen bewegen, in unserer „Komfortzone“.

Potenziell gefährlichen Situationen können wir uns aber auch dann stellen, wenn es uns möglich ist, die in uns ausgelösten Ängste zu „balancieren“. Wenn wir ein Gefühl der Sicherheit oder Bewältigbarkeit (manageability) in uns tragen: durch unterstützende Personen, sicher eingeschätzte Situationen, Sicherheit vermittelnde und verlässliche Regeln oder durch persönliche Kompetenz, d.h. im Gefühl, mit dem, was kommt oder möglicherweise geschehen kann, umgehen zu können oder das Risiko eines negativen Ausgangs (er)tragen zu können. In diesem Fall setzen wir ganz aktiv unser Vertrauen der Angst entgegen und erleben eine erhöhte Wachsamkeit oder auch eine milde Form der Angst, die unsere Handlungsmöglichkeiten nicht einschränkt, mitunter sogar im Gegenteil, wie allein schon der Begriff der Angstlust nahelegt.[1]Angstlust verspürt nach Michael Balint, der diesem Phänomen ein eigenes Buch widmete („Angstlust und Regression“), wer sich freiwillig einer Gefahr aussetzt, aber von der Zuversicht getragen … weiterlesen


Vertrauen und Sicherheit

Es ein unabdingbares Ziel, dass unsere Klient*innen ein Gefühl des Vertrauens in die Behandlungssituation entwickeln und dass sie sich in unseren Händen sicher fühlen: vor (vermeidbaren) Schmerz beispielsweise ebenso wie vor unerwünschten Berührungen oder auch (vermeidbarer) Ansteckung mit Erkrankungen. Das ist umso wichtiger, je mehr Vertrauensdefizite und -verletzungen es in der Lebensgeschichte des*der Klienten*Klientin gibt.

Zugleich aber tragen Shiatsu-Behandlungen immer auch Veränderungspotential in sich und es können auch verdrängte Ängste, Erfahrungen und Wünsche angesprochen werden. In diesem Sinne ist mit und in einer Shiatsu-Sitzung keine absolute Risikofreiheit gegeben. Diese kann auch nicht angestrebt werden, da mit ihr das der Behandlung innewohnende Veränderungspotential verloren ginge.

Deshalb ist es unsere Aufgabe als Behandler*innen einen möglichst sicheren und vertrauensvollen Raum zu schaffen, in dem sich unsere Klient*innen gut begleitet und unterstützt erleben und (intuitiv wie auch durch vertrauensbildende Maßnahmen) wissen, dass etwaig auftauchende schwierige Situationen gut begleitet und (gemeinsam) gut bewältigt werden können.

Das Vertrauen der Klient*innen wird aber nicht nur durch ein entsprechendes Setting genährt (wertschätzender Kontakt und ebensolche Kommunikation, vertrauensvolles und achtsames Handeln, Eingehen auf Klient*innenwünsche, Abklären von Grenzen, klare und verlässliche Abläufe etc.), sondern ganz wesentlich auch durch die Persönlichkeit der Behandler*in, die in seinem*ihrem Tun „ausstrahlt“, dass ihm*ihr solche Prozesse aus eigener Erfahrung bekannt sind und er*sie sich nicht vor ihnen fürchtet (weder als Person noch als begleitende*r Behandler*in). Das sind wesentliche Aspekte (der Selbsterfahrung), denen eine seriöse Aus- und Weiterbildung Rechnung trägt.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Angstlust verspürt nach Michael Balint, der diesem Phänomen ein eigenes Buch widmete („Angstlust und Regression“), wer sich freiwillig einer Gefahr aussetzt, aber von der Zuversicht getragen wird, die Gefahr und die damit verbundene Angst bewältigen zu können und alles werde gut enden. Betreiber von Hochschaubahnen und ähnlichen Vergnügungen beispielsweise leben geradezu von diesem Gefühl.