Grundlagen und Voraussetzungen für die Behandlung von Babys und Kindern. Baby-Shiatsu und Shonishin (Karin Kalbaneter-Wernicke & Thomas Wernicke)

Immer wieder werden wir von Kollegen und Kolleginnen mit der Frage konfrontiert, ob nach einer kompletten Shiatsu- oder Akupunktur-Ausbildung auch mit Babys und Kleinkindern gearbeitet werden kann und ob das bisher Gelernte auf Kinder übertragbar ist. Die Beantwortung dieser Fragen fällt unterschiedlich aus – je nach dem, welches Ziel wir verfolgen, wenn wir mit Kindern arbeiten wollen:

Wollen wir im Sinne einer Wohlfühlbehandlung arbeiten, so ist das sicherlich richtig, dann kann das gelernte Wissen im Wesentlichen auf (Klein-) Kinder übertragen werden. Aber um die Entwicklung eines Kindes optimal unterstützen zu können, braucht es fundiertes Wissen, was sowohl die moderne Entwicklungsphysiologie als auch die Entstehung des Meridiansystems während der Embryonalzeit und der ersten Lebensjahre betrifft.


Meridiane und Entwicklungsphysiologie

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Bei der Behandlung von Säuglingen und (Klein-) Kindern steht im Fokus des Interesses die Frage, inwieweit eine Vernetzung zwischen den Meridianen und der modernen Entwicklungsphysiologie besteht. Insbesondere interessiert uns hierbei zum einen, welcher Meridian welchen Entwicklungsschritt steuert, und zum andern, was passiert, wenn auf dieser Vernetzungsebene eine Störung auftritt und diese Störung ein Leben lang bestehen bleibt. Aus der daraus gewonnenen Erkenntnis lässt sich dadurch in der Arbeit mit Erwachsenen ableiten, welche energetischen Muster im Erwachsenenleben ihre Wurzeln in der prä- und postnatalen Zeit haben. So lassen sich immer wiederkehrende energetische Disharmonien nochmals aus einem anderen Blickwinkel betrachten und die Behandlungsstrategien sich dementsprechend verändern.

Störungen der energetischen Entwicklung können Störungen im sensorischen und motorischen und dadurch auch im emotionalen und sozialen Bereich zur Folge haben, da die energetische Entwicklung der motorischen und sensorischen Entwicklung zugrunde liegt und diese maßgeblich beeinflusst. Dies wird durch den Informationsfluss zwischen den motorischen und sensorischen Zentren ermöglicht, welcher durch die Meridiane unterstützt wird, wie auch umgekehrt Bewegung und sensorische Reize den Energiefluss in den Meridianen verstärken.

Die Meridiane stellen somit ein Kommunikationsnetzwerk zwischen dem sich entwickelnden Bewusstsein und der Außenwelt dar, da sie für die Integration von Reizen und Reflexen gleichermaßen zuständig sind wie auch für die Festigung der anatomischen Struktur, der Haltung und Bewegung sowie für die Persönlichkeits- und Verhaltensmuster des Kindes. Aus diesen Gründen ist die Verantwortung, gerade mit den ganz Kleinen zu arbeiten, sehr groß. Daher ist es wichtig, den Blick dafür zu schärfen, ob die Entwicklung eines Kindes so verläuft, wie sie sollte. Dazu gehört die Fähigkeit, richtig einschätzen zu können, ob das Kind einfach ein bisschen mehr Zeit für seine Entwicklungsschritte braucht oder ob bereits eine Entwicklungsverzögerung vorliegt. Kenntnisse über die Kindesentwicklung zu haben, ist um so wichtiger, um im Falle einer Störung unverzüglich adäquat zu handeln, damit keine wertvolle Zeit verloren geht. Das heißt, auch die eigenen Behandlungsgrenzen erkennen und gegebenenfalls das Kind in eine therapeutische (z.B. Krankengymnastik nach Bobath oder Vojta) oder fachärztliche (z.B. Kinderarzt, Sozialpädiatrisches Zentrum, Neuropädiater) Obhut zu geben. Nur so kann verhindert werden, dass ein Kind dadurch in seiner Entwicklung immer weiter hinterherhinkt oder schlimmstenfalls lebenslang eingeschränkt ist.

Schon in der frühen Entwicklungsphase eines Kindes sind bereits energetische Dysbalancen zu beobachten, die, wenn sie sofort behandelt werden, erst gar nicht zu größeren Störungen auswachsen. Unbehandelte energetische Dysbalancen können sich durch Auffälligkeiten im motorischen oder sensorischen Bereich bis hin durch spätere Lernstörungen zeigen. Gerade bei Säuglingen und Kleinkindern lässt sich durch eine entsprechende Behandlung sehr schnell eine Verbesserung herbei führen. Dadurch erübrigt sich für etliche dieser Kinder die Behandlung mittels einer speziellen Form von Kinder-Krankengymnastik, welche sowohl für das Kind als auch für seine Mutter sehr belastend sein kann.

So können durch Baby-Shiatsu oder Shonishin bestimmte Meridiane so stimuliert werden, dass ein Baby in die Lage versetzt wird, Bewegungen auszuführen, mit denen es vorher Probleme hatte. Oder ein Schreibaby findet erstmals seine Mitte und kommt dadurch zur Ruhe, oder die frühkindlichen Verdauungsstörungen und die sogenannten Drei-Monatskoliken verbessern sich. Ebenso findet ein Baby, das bisher die für die Entwicklung so wichtige Bauchlage nicht akzeptierte, plötzlich Spaß an dieser Position. Dies sind nur einige wenige Beispiele, um den Effekt einer Behandlung auf Meridianebene aufzuzeigen.


Überblick über die energetische prä- und postnatale Entwicklung

Es zeigt sich, wie wichtig die Kenntnisse energetischer Grundmuster für das Verstehen kindlicher Entwicklungsdynamik sind, um ein umfassendes Behandlungskonzept zur Behandlung von Säuglingen und (Klein-)Kindern zu erstellen. Deswegen haben wir zum besseren Verständnis der energetischen Entwicklung des Kindes im folgenden einen Überblick über die energetische prä- und postnatale Entwicklung erarbeitet. Wie die Meridiane die Wahrnehmungs- und Bewegungsentwicklung in der postnatalen Entwicklung steuern, ist allerdings derart umfangreich, dass dies den Rahmen dieses Artikels sprengen würde, weswegen wir die postnatale Entwicklung nur kurz ansprechen werden.


Schwangerschaft

In der Zeit zwischen 400 v. Chr. bis zum 7. Jh. n. Chr. entstanden in China eine Reihe ähnlicher Theorien über die embryonale Entwicklung. Das große Interesse der Chinesen in Embryologie beruhte auf deren Faszination bezüglich allem, was mit „Anfang“, „Ursprung“, „Wurzeln“, „Grundlagen“ oder „Quelle“ in Verbindung gebracht werden konnte. Das Bestreben, die Frage nach dem Ursprung des Lebens beantworten zu können, ließ daher die Embryologie zu einem grundlegenden Studium werden.

So findet man im 8. Kapitel des Ling Shu folgende Aussage über den Ursprung des Lebens:

„Die Yang-Energie des Himmels verbindet sich mit der empfangenden Erde und erzeugt einen neuen Menschen. Dies nennt man Leben.“

Der Ursprung des Lebens liegt also in der Interaktion von Himmel und Erde. Diese Vorstellung legt man auch der Schöpfung des Menschen zugrunde:

Die Yang-Energie des Himmels, also die Essenz des Mannes (gemeint ist der Samen) verbindet sich mit der Yin-Energie der Erde, das der Essenz der Frau (Eizelle) entspricht und produziert neues Leben.

Durch die 1. Zellteilung entstehen zwei Zellen, wobei die Trennlinie zwischen diesen zwei Zellen der Konzeptions- bzw. der Gouverneursgefäß-Achse entspricht. In diesem 2-Zellen-Stadium determiniert das Konzeptionsgefäß die Vorderseite und das Gouverneursgefäß die Rückseite. Diese erste Teilung mit ihren beiden eben genannten Hauptmeridianen bringt ein in der TCM grundlegendes Prinzip hervor, das überhaupt erst Leben ermöglicht: die Existenz von Yin (auf der Vorderseite) und Yang (auf der Rückseite).

Aus der 2. Zellteilung, dem 4-Zellen-Stadium, entsteht das sogenannte Gürtelgefäß, die Daimai-Achse. Diese Achse bringt eine Oben-unten-Teilung hervor, wobei die Daimai-Achse nicht nur eine Trennung, sondern auch die Verbindung der oberen und unteren Hälfte des Körpers ermöglicht. Diese Trenn- und Verbindungslinien bilden sich also in der frühesten Embryonalentwicklung heraus und bleiben als energetische Gegebenheiten das ganze Leben über erhalten.

So definieren bereits während des Vierzellenstadiums der Zygote die Daimai-Achse, das Konzeptionsgefäß und das Gouverneursgefäß die horizontale und vertikale Ausbreitung des Körpers und existieren somit bereits. Vermutlich während der ersten zwei Schwangerschaftsmonate formieren sich im Laufe der weiteren Zellteilung die Meridiane zusammen mit den Organen.

Wie ist nun die weitere Entwicklung der uns bekannten Hauptmeridiane zu verstehen? Durch die Zweiteilung im 2-Zellen-Stadium entstehen Yin und Yang. Das Yang will sich nach außen bewegen und muss seine Grenzen finden. Das Yin will nach innen gehen, Strukturen bilden und nähren. Es muss sich sammeln, ernähren und die Formen erhalten. Somit erhalten die sich heranbildenden Meridiane ihre energetische Hauptausrichtung, nämlich ihre Yin- bzw. Yang-Funktion.


Meridianentwicklung

Zu welchem Zeitpunkt erhalten die Meridiane ihre entsprechenden Funktionen?

Eine Antwort über die spezifische Meridianentwicklung finden wir im Chao Yuan Fang (610 n. Chr.), wo der Zusammenhang zwischen den mütterlichen Meridianen und deren Einfluss auf das werdende Kind in Abhängigkeit zu den entsprechenden Schwangerschaftsmonaten aufgezeigt wird. Demnach sind die Meridiane zunächst unspezifisch angelegt und bekommen dann im Verlauf der Schwangerschaftsmonate ihre Prägung. Somit sind zum Zeitpunkt der Geburt die Meridiane mit ihrer Spezifikation vollständig angelegt und „warten“ nun auf die entsprechenden Stimuli, um dadurch ihre weitere Ausdifferenzierung zu erfahren.


Geburt

Der Zeitpunkt der Geburt spielt deshalb eine wichtige Rolle, weil nun die Seele (Po) eintritt. Es ist der Zeitpunkt, in der der Mensch zu einem energetischen, physiologischen, emotionalen und jetzt auch spirituellen Wesen wird.

Das hervorstechendste Merkmal beim Neugeborenen ist das Vorhandensein eines reinen Yangs. Es hat ein Maximum an Ni-Yang und ererbter Essenz, beides nimmt dann während des Älterwerdens ab. Das reine Yang des heranwachsenden Kindes unterscheidet sich von dem des Erwachsenen, denn es steht für Wachstum und Entwicklung. Durch das reine Yang hat das sich entwickelnde Kind ein maximales Potential für Wachstum. Das zeigt sich beispielsweise auch ganz deutlich während der ersten sechs Monate, wenn das Baby bis zu diesem Zeitpunkt sein Gewicht verdoppelt hat.


Kindheit

Die Kindheit ist die Zeit, in der sich positive wie auch negative Erfahrungen tiefer als jemals im späteren Leben ins Unterbewusstsein eingravieren. Es ist die Zeit des größten physischen Wachstums und der schnellsten Entwicklung. Ungünstige Verhältnisse (z. B. Mangelernährung, Verletzungen) können starke und langwirkende Einflüsse auf den Körper haben.

Sobald das Kind atmet, erhält es kein mütterliches Blut mehr. Um sich physisch und energetisch weiter zu entwickeln, muss es sich nun auf seinen eigenen Stoffwechsel stützen. Die dafür zuständigen Organe sind Mund, Magen und Milz. Ist in der TCM von Stoffwechsel die Rede, dann ist damit die harmonisierende und nährende Funktion der Erde gemeint. Die Aufgabe der Erde bezüglich des Stoffwechsels besteht darin, alle aufgenommenen Dinge zu assimilieren und zu einem Teil des Kindes zu machen. Zunächst übernimmt die Mutter für das Kind die Funktion der Erde über die Plazenta, dann über die Muttermilch und über die gleichbleibende und ruhige Liebe, die sie dem Kind zusammen mit der Nahrung gibt. Im Laufe seiner Entwicklung muss das Kind lernen, diese Funktion selbst zu übernehmen. Wie gut es dies schafft, hängt wesentlich von der zuvor gemachten Erfahrung mit der Qualität Erde ab.

Um nach und nach eine eigene Widerstandsfähigkeit (Metall) zu entwickeln, ist das heranwachsende Kind auf kontinuierlichen Zufluss von leicht verdaulicher Nahrung, Wärme, Luft und Liebe angewiesen. Kontinuität ist deshalb wichtig, denn die schwache Erde kann noch nicht zwischen Zeiten des Überflusses und des Mangels vermitteln. Jede Unterbrechung der Zufuhr von Nahrung, Wärme und Liebe würde das Kind sowohl körperlich als auch physisch schwächen – dann kann es keine Basis und Stabilität entwickeln. Doch je stärker und vitaler ein Kind ist, desto mehr wird es sich gegen diese Schwächung wehren können und wird schreien. Deshalb spielt ein schreiendes Kind nach traditioneller Vorstellung keine Machtspielchen – vielmehr kämpft es um sein Leben. Das ist der Grund dafür, dass in China die Meinung vorherrscht, dass man ein Kind niemals schreien lassen darf.

Bereits in diesem kurzen Exkurs zeigt sich, wie vielschichtig sich Störungen in der Erde und im Metall mit ihren zugehörigen Meridianen Milz, Magen, Lunge und Dickdarm auswirken können. Hat ein Kind zu diesem Zeitpunkt nicht die Chance, diese Qualitäten voll zu entfalten, kann sich das später auf unterschiedlichste Weise darstellen. So kann sich beispielsweise bei einem Kind das Gefühl entwickeln, niemals genug zu bekommen, ein anderes Kind hat Probleme körperliche Nähe zu ertragen, ein weiteres Kind kann es nicht ausstehen, sich die Hände schmutzig zu machen, oder ein anderes hat Schwierigkeiten Roller oder Rad fahren zu erlernen – auch Schwierigkeiten in der Schule beim Schreiben können aus dieser Entwicklungsperiode herrühren, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier können wir mit unserer Arbeit viel erreichen.


Shonishin

Reichen unsere Shiatsutechniken nicht aus, gibt es die Möglichkeit mit Shonishin noch intensiver zu arbeiten. Hierbei handelt es sich um eine in Japan vor über 250 Jahren entwickelte Kinder-Akupunktur, bei der anstelle von Nadeln mit stumpfen Instrumenten auf der Haut des Kindes mit Streich-, Reibe- und Klopftechniken an ausgewählten Reflexzonen, Meridianabschnitten und Akupunkturpunkten gearbeitet wird. Diese Behandlung ist äußerst sanft und effektiv, und obwohl sie in erster Linie bei Säuglingen und Kindern ihre Anwendung findet, ist sie auch bei geschwächten Erwachsenen hilfreich, um diese aus ihrer Energielosigkeit herauszuholen – nicht zuletzt können auch Erwachsene mit Nadelangst mittels Shonishin eine Akupunkturbehandlung erhalten.


Fazit

Das Anliegen der vorliegenden Ausführungen besteht darin, bei Shiatsu-PraktikerInnen, aber auch bei allen, die beispielsweise mittels Akupunktur oder Osteopathie mit Kindern arbeiten, ihr Bewusstsein zu schärfen, um sich ihrer Verantwortung bei der Behandlung mit Kindern zu stellen. In dem Moment, in dem wir Babys oder Kinder gezielt in ihrer Entwicklung unterstützen wollen, übernehmen wir eine Verantwortung, die weitere fachliche Voraussetzungen unabdingbar machen, die häufig nicht Gegenstand einer Shiatsu-Ausbildung sind. Hier sind vor allem die entwicklungsphysiologischen Grundkenntnisse sowie Kenntnisse über die energetische Kindesentwicklung von Bedeutung, um nicht nur die entsprechenden Grundlagen für eine adäquate Behandlung zu schaffen sondern auch die Grenzen des eigenen Handelns aufzuzeigen und diese Grenzen zu respektieren.

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© Karin-Kalbanter Wernicke ist Physiotherapeutin und Shiatsu-Lehrerin und gründete 1983 das “Institut für Shiatsu und Orientalmedizin”; Thomas Wernicke ist Facharzt für Allgemeinmedizin, praktiziert und unterrichtet japanische Akupunktur und Shonishin (veröffentlicht in Shiatsu Journal 46 / 2006)

Weitere Informationen: aceki — Academie zur Entwicklung des Kindes e. V., Alte Dorfgasse 13, 65239 Hochheim, Tel. ++49 (0) 61 45 59 89 91, Fax ++49 (0) 61 45 59 89 98, www.aceki.de