Leben im Einklang mit den Jahreszeiten. Empfehlungen der Traditionellen Chinesischen Medizin (Eduard Tripp)

Unser aller Leben, ja die gesamte Natur, ist durch zyklische Abläufe geprägt: Tag und Nacht, Wachen und Schlafen, Anspannung und Entspannung … Den ganzen Kosmos kennzeichnet ein Kreislauf von Entfaltung und Rückzug, von Expansion und Kontraktion, von Einatmung und Ausatmung. Diese Zyklen trägt der Mensch – als Teil der Natur und des Kosmos – in sich und diesen Zyklen ist er unterworfen. Ein Leben im Einklang mit der Natur berücksichtigt deshalb nicht zuletzt auch die bioklimatischen Einflüsse und ihre Zyklen, wie sie sich in den Jahreszeiten ausdrücken, und versucht diese durch entsprechende Maßnahmen auszugleichen und zu harmonisieren. Die beste Krankenbehandlung nämlich ist, so lehrt schon das Huang Di Nei Jing, Krankheiten vorzubeugen, noch bevor sie überhaupt entstehen. Behandelt man hingegen bereits ausgebrochene Erkrankungen, so ist es, als gräbt man einen Brunnen erst dann, wenn man bereits durstig ist, oder schmiedet Waffen, wenn man bereits in der Schlacht steht.

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Der Kreislauf des Jahres ist ein vollständiger energetischer Zyklus, dem auch der Mensch unterworfen ist: Der Frühling ist der Anfang aller Dinge, und die Energie sollte offen und fließend gehalten werden. Der Sommer intensiviert diese Offenheit, so dass ein Austausch zwischen inneren und äußeren Energien stattfinden kann. Im Herbst ist es wichtig, die Energie zu bewahren, und im Winter schließlich wird die Energie gespeichert – die Wurzel des Neubeginns.[1]Im Unterschied zu den uns vertrauten Jahreszeiten kennt das traditionelle China fünf Jahreszeiten, die jeweils etwa 73 Tage dauern. Auch weicht die Festlegung der Jahreszeiten von der uns gewohnten … weiterlesen


Frühling

Frühling ist die Zeit der Expansion, die Zeit der aufsteigenden Lebenskraft (Qi), die Zeit von Entwicklung und Öffnung. Die Yang-Kraft beginnt sich zu entfalten, und das Leben beginnt sich zu regen. Samen keimen, Knospen springen auf. Pflanzen sprießen und wachsen mit der zunehmenden Temperatur und Helligkeit, bilden Blätter und Triebe aus. Die Tage werden länger.

Die Frühlingszeit bringt neues Leben in alle Dinge der Natur. Es ist die Zeit der Geburt. Es ist die Zeit, in der Himmel und Erde wiedergeboren werden. So wie sich im Frühjahr das Leben in der Natur wieder erneuert und expandiert, entfaltet sich in dieser Zeit im menschlichen Organismus das Qi der Leber, die für den freien Fluss von Qi und Blut in unserem Körper sorgt und für (kreative) Entfaltung auf allen Ebenen. Während dieser Zeit, so rät das Huang Di Nei Jing (Buch des Gelben Kaisers zur Inneren Medizin), ein schon über 2000 Jahre alter Klassiker der Traditionellen Chinesischen Medizin, ist es ratsam sich früh zurückzuziehen, früh aufzustehen, Spaziergänge zu machen und die frische, stärkende Energie in sich aufzunehmen.

Da der Frühling die Jahreszeit ist, in der die kosmische Energie von neuem einsetzt und sich verjüngt, sollte man versuchen, diese Aufbruchstimmung nachzuempfinden, indem man körperlich und gefühlsmäßig offen und unbelastet ist. Auf physischer Ebene ist es ratsam, den Körper zu ertüchtigen und locker sitzende Kleidung zu tragen. Es ist die Zeit für Dehnungsübungen, die Sehnen und Muskeln lockern. Auf emotionaler Ebene ist es förderlich, Gleichmut zu entwickeln, denn der Frühling ist die Jahreszeit der Leber.

Um die Kraft des Frühjahrs und der Erneuerung in uns zu unterstützen sollten wir in dieser Zeit vermehrt süß-warme Speisen und Nahrungsmittel zu uns nehmen, denn der süße Geschmack nährt das Qi und entspannt die Leber. Der saure Geschmack hingegen sollte nur sparsam verwendet werden, da ein Übermaß davon durch seine zusammenziehende Wirkung das Qi blockieren würde. Verwendet werden sollen in der Frühjahrsküche auch frische grüne Kräuter, Keime und Sprossen. Kurze Garzeiten, Dämpfen, Dünsten und Blanchieren verleihen den so zubereiteten Speisen eine lebendige und leichte Qualität.


Sommer

Sommer ist die Zeit der Blüte. Die Entfaltung der Yang-Kraft hat ihren Höhepunkt erreicht. Es ist die Zeit des Reichtums und der Fülle in der Natur, die Zeit der Hitze und der langen Tage. Kraftvoll entfaltet sich die Vegetation, und die Pflanzen erblühen in voller Pracht.

In der Sommerzeit herrscht Überfluss an Sonnenschein und Regen. Der Sommer ist die Zeit der stärksten Expansion nach außen, die Zeit der höchsten Entfaltung des Yang, was im menschlichen Organismus zu einer Verletzung des Yin führen kann.

Zu dieser Zeit des Jahres kann man sich durchaus etwas später zurückziehen, sollte aber dennoch früh am Morgen aufstehen. Es ist wichtig körperlich rege zu bleiben, um zu verhindern, dass das Qi stagniert. Man sollte, folgt man den Empfehlungen der Klassiker, keinem allzu intensiven Sexualleben frönen, obwohl es ein bisschen intensiver sein darf als zu anderen Jahreszeiten. Auf emotionaler Ebene ist es wichtig, fröhlich und heiter zu sein und keinen Groll zu hegen, damit die Energien frei fließen können und eine Kommunikation zwischen innen und außen möglich ist.

Die Ernährung in der Sommerzeit sollte eine erfrischende, kühlende und letztlich beruhigende Wirkung haben. Bevorzugt werden sollen kühle und erfrischende Speisen. Im Sommer haben deshalb Rohkost, Salat und Obst ihre größte Bedeutung für unsere gesunde Ernährung. Der bittere Geschmack hat zwar ebenfalls eine Hitze-ausleitende Wirkung, im Übermaß jedoch ist er austrocknend und schädigt das Yin noch zusätzlich.


Herbst

Herbst ist die Zeit der Kondensation und Kontraktion. Es beginnt die gegenläufige Bewegung zur Expansion des Frühjahrs. Die Pflanzen reifen, die Säfte und Lebenskräfte ziehen sich mehr und mehr ins Innere zurück. Die Bäume beginnen an der Peripherie auszutrocknen, die Blätter verfärben sich und fallen ab. Es ist die Zeit der Ernte. Die Tage werden kürzer, und die Temperatur nimmt ab.

Im Herbst kommen alle Dinge der Natur zu voller Reife. Das ist der Angelpunkt, an dem die aktive Yang-Phase in die gegenteilige, passive Yin-Phase umschlägt. Die Tradition empfiehlt deshalb, sich im Herbst mit dem Sonnenuntergang zurückziehen und in der Morgendämmerung aufstehen. So wie das Wetter im Herbst unwirtlicher wird, so verändert sich auch das emotionale Klima. Deswegen ist es wichtig, Ruhe und Frieden zu bewahren und nicht in Depression und Hoffnungslosigkeit zu fallen, denn nur so kann der Übergang zum Winter reibungslos verlaufen.

Der Herbst ist die Zeit, Geist und Energie zu sammeln, sich auf weniges zu konzentrieren und die Begierden in Zaum zu halten. Man sollte die Lungen-Energie in Fülle, rein und ruhig halten, das heißt Atemübungen durchführen, um das Lungen-Qi zu stärken. Außerdem sollte man sich beim Rauchen einschränken und Kummer vermeiden.

Mit der kalt-feuchten Witterung des Herbstes nehmen das Yin und die Kälte in der Natur zu und damit auch die Erkältungsanfälligkeit. Scharf-warme Speisen und Gewürze stärken unsere Immunität und regen die Zirkulation des Qi an. Empfehlenswert sind auch länger gekochte und gebackene Speisen, die das Yang in unserem Körper stärken und damit unsere Abwehrkräfte an der Wurzel festigen.


Winter

Winter schließlich ist die Zeit des Rückzugs der Lebensenergie ganz ins Innere, ins Zentrum. Es ist die Zeit der großen Kälte, der langen Nächte, der Verdichtung und Speicherung von Substanz und Lebensenergie. Das Leben schlummert jetzt verborgen in den Samen, Wurzeln und Knollen, während die Schneedecke und der Frost alles in kristalliner Starre verharren lassen – bis im Frühjahr wieder das Leben an die Oberfläche dringt und kraftvoll einen neuen Zyklus der Entfaltung einleitet.

Während der Wintermonate welken die Dinge, sie ziehen sich zurück und treten in eine Phase der Ruhe ein, so wie Seen und Flüsse zufrieren und Schnee fällt. Es ist die Zeit, in der das Yin das Yang dominiert. Speichern und Bewahren stehen im Vordergrund. Deswegen sollte man es vermeiden, die Yang-Energie übermäßig zu beanspruchen, sich bald zurückziehen und mit der Sonne aufstehen (also etwas später als zu anderen Zeiten des Jahres). Und, so empfiehlt das Huang Di Nei Jing, man sollte seine sexuellen Begierden zügeln, so als wollte man ein freudiges Geheimnis verbergen. Vor allem ist es wichtig sich warm zu halten und Kälte ebenso wie Schwitzen zu meiden, da dies die Substanzen des Körpers weiter schwächen würde.

Der Winter ist die Zeit der größten Kälte, weshalb die Ernährung in dieser Jahreszeit vor allem das Yang des Körpers schützen soll. Ungekochte Speisen, kalte Getränke und thermisch kalte Nahrungsmittel sind aus diesem Grund nicht empfehlenswert. Bevorzugt werden sollen hingegen süß-warme Speisen, die den Verdauungstrakt stärken und wärmen, sowie scharf-warme und scharf-heiße Gewürze wie beispielsweise Ingwer, Pfeffer, Muskat, Curry und Kakao. Besonders schwachen und kälteempfindlichen Menschen wird darüber hinaus empfohlen, während der kalten Jahreszeit etwas Fleisch (insbesondere Huhn, Rind und Lamm) und wärmende (lang gekochte) Fleischsuppen zu essen.


Erde-Zeit

Die Übergangszeiten zwischen den einzelnen Jahreszeiten werden als Erde-Zeit[1] bezeichnet und haben ihre Bedeutung im energetischen Wandel der Natur und in der Umstellung unseres Organismus. Wichtig sind hier vor allem die Übergänge vom Winter zum Frühling (vom großen Yin zum kleinen Yang) und vom Sommer zum Herbst (vom großen Yang zum kleinen Yin). In diesen Übergangszeiten kann die energetische Umstellung des Körpers auch durch spezielle Kuren unterstützt werden. Generell empfiehlt sich in diesen Zeiten jedoch eine möglichst harmonische und ausgeglichene Ernährung.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at)


Anmerkungen

Anmerkungen
1 Im Unterschied zu den uns vertrauten Jahreszeiten kennt das traditionelle China fünf Jahreszeiten, die jeweils etwa 73 Tage dauern. Auch weicht die Festlegung der Jahreszeiten von der uns gewohnten Art und Weise ab:Beginnt in unserer Berechnung der Frühling mit dem 21. März, so definiert die Frühjahrs-Tag-und-Nachtgleiche (ausgeglichen zwischen Yin – Nacht – und Yang – Tag) in der chinesischen Zeitrechnung die Mitte des Frühlings. 36 Tage vor dem 21. März beginnt das Frühjahr und 36 Tage danach endet es.

Auf die gleiche Weise bildet die Sommer-Sonnenwende (höchstes Yang, 21. Juni) die Mitte des Sommers, die Herbst-Tag-und-Nachtgleiche (23. September) die Mitte des Herbstes und die Winter-Sonnenwende (höchstes Yin, 21. Dezember) die Mitte des Winters.

Dazwischen (viermal etwa 18 Tage) liegt die Erde-Zeit, die keine eigene Charakteristik aufweist und den Übergang von einer Jahreszeit zur nächsten bildet.