Mahnender Zeigefinger versus drückender Daumen (Katharina Sabernig)

Das Berufsbild der Shiatsupraxis ist auf der Suche nach einem gesetzlichen Rahmen, nach Klarheit in den Ausbildungskriterien und einem geregelten Status im Gesundheitssystem. Zu unterschiedlich liegen die Schwerpunkte und Anforderungen der einzelnen Ausbildungen, noch viel unterschiedlicher die Motivation der einzelnen Praktiker. Kritiker mahnen vor der Gefahr von einer zu strengen Normierung vereinnahmt zu werden. Andere wollen das Mindestmaß an Wissen für einen Praktiker gar nicht hoch genug sehen.

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Die Diskussion um die Rahmenbedingungen gesundheitserhaltender- oder wiederherstellender Berufe ist nicht neu. Es wäre sicherlich zu einfach, unvereinbare Meinungen mit Konkurrenz witternden Existenzängsten der einzelnen Parteien zu begründen, wenn man diesen Punkt auch nicht ignorieren kann. Viele Praktizierende machen sich auch über das Niveau mancher Kollegen Sorgen und befürchten, dass diese mit ihrem Verhalten den Ruf von Shiatsu ernsthaft schädigen. Andererseits kommt es auch bei gut Qualifizierten zu Meinungsunterschieden. Der Streit um den richtigen Zugang liegt nämlich sehr wohl auch in unterschiedlichen Philosophien, die hier an Hand von Ansichten der praktizierenden Ärzte im alten China veranschaulicht werden sollen. Nun kann man argumentieren, dass Shiatsu als japanische Behandlungsmethode wohl maßgeblich von buddhistischen Methoden beeinflusst wurde. Dies mag für die modernen Strömungen auch zutreffen. Die Verbindung zum Zen-Buddhismus wurde bereits oft beschrieben, dem ist auch nichts entgegenzusetzen. An der Entwicklung des theoretischen Grundgerüstes von Shiatsu als „ethnomedizinisches Konzept“ mit seinen chinesischen Wurzeln ist diese Religion jedoch nur unwesentlich beteiligt. Allerdings muss man dem Buddhismus, mit seinem Wunsch den Menschen vom Leiden zu erlösen, zugestehen, maßgeblich an der Errichtung und Erhaltung von Krankenhäusern in China beteiligt gewesen zu sein. Die Toleranz gegenüber den verschiedenen Behandlungsmethoden muss hier hervorgehoben werden (wesentliches Kriterium war schließlich der Erfolg: die Linderung von Leid).

Die zentrale Arbeit mit den Händen in der Shiatsupraxis legt auch eine Sympathie zur daoistischen Philosophie nahe. Daoistische Heilkundige liebten den Schatz der praktischen Erfahrung im Einklang mit den Anforderungen eines Lebens mit der Natur. Die von einem der bedeutendsten (auch kritischen) daoistischen Philosophen Zuangzi beschriebenen Geschichten sind schöne Bilder für die Anwendung dieser Weisheiten in den Alltag, aber auch für die Arbeit mit den Händen am Körper. Sein „Fundament zur Kultivierung des Lebens“ verrät auch viel über die Kunst dieser Behandlungsmethode. Das Interesse am Erfassen der Qualität des Augenblicks ist auch für die Shiatsupraxis von zentraler Bedeutung. Wer dazu nicht im Stande ist, wird kein guter Shiatsu Praktiker. Das damit verbundene Prinzip des „nicht Eingreifens“ oder „Geschehenlassens“ Wuwei erfordert allerdings ein gewisses Maß an Reife, um es zu verstehen. Bereits um 120 v.Chr. wird im Buch Huainanzi die passive Haltung mancher Praktizierender kritisiert. Hier wird die Ansicht vertreten, dass der natürliche Lauf der Dinge unterstützt werden sollte, eine Aktivität jedoch keineswegs von niederen persönlichen Vorurteilen oder Wünschen geleitet werden darf. Diese Feststellung erscheint mir für den mitteleuropäischen Shiatsu-Alltag durchaus relevant. Zu oft habe ich Stimmen wahrgenommen, die die Ansicht vertraten, dass die Beschäftigung mit der Anatomie, physiologischen Grundbegriffen, oder einem Mindestmaß an Hygiene ihrer Intuition oder der Wahrnehmung des gesamten Menschen hinderlich wäre. Manche argumentieren sogar, sie müssten nicht einmal den Verlauf der Meridiane oder die Lokalisation der Punkte erlernen, denn sie würden sie spüren, nur das „Nichtwissen“ brächte sie auf die richtige Fährte. Doch ich sage, der Verfasser des Huainanzi würde sich im Grab umdrehen, hörte er von einem solchen Missbrauch des Daoismus. Ich sage, es ist nicht der Geist des Wuwei, der einen daran hindert, sich auch theoretische Kenntnisse anzueignen, es ist schlicht und einfach die gemeine Faulheit, die den Widerstand auch noch philosophisch zu argumentieren versucht. Solche Praktiker haben im Gesundheitssystem nichts verloren. Immerhin haben wir mit Menschen zu tun, die ihr Vertrauen in unsere Hände legen. Der tiefe Wunsch dieser Praktiker, mehr über das natürliche Geschehen im Körper zu erfahren, sollte eigentlich genügen, sich permanent weiterzubilden. Es ist meine Überzeugung, dass erst derjenige das Prinzip des Wuwei anwenden kann, der all sein Erlerntes so weit integriert hat, dass er daraus schöpfen kann, ohne daran denken zu müssen.

Den Daoisten lag allerdings sehr viel daran, nicht von den Unruhen der Gesellschaft und ihren bürokratischen Regeln vereinnahmt zu werden. Lieber lebten sie in den Bergen und erforschten das natürliche Geschehen. Dies ist auch ihr gutes Recht, und entspricht auch häufig der Mentalität vieler, auch seriöser, Shiatsu-Praktizierender. Allerdings birgt dieser Lebensstil tatsächlich die Gefahr in sich, die Dynamik der weltlichen Geschehen außer acht zu lassen. Wer der Gesellschaft (und sei es auch nur der eigene Berufsverband!) den Rücken zukehrt, darf sich nicht beklagen, wenn über seinen Kopf Dinge beschlossen oder nicht beschlossen werden, die ihm nicht gefallen.

Den konfuzianischen Ärzten waren die daoistischen Praktiker ein Dorn im Auge und sie bezeichneten diese als verantwortungslose Einsiedler. Ihre hohe Ethik und Wertvorstellungen machten sie zu geschätzten Mitgliedern der Gesellschaft. Ihre Hände verwendeten sie am liebsten zum Umblättern ihrer Lehrbücher oder um den Zeigefinger mahnend zu erheben. Der Verstoß gegen die gesellschaftlichen Regeln galt schließlich als primäre Krankheitsursache.

Die eng gesetzten Moralvorstellungen waren wiederum für die Daoisten Anlass zu Kritik, denn sie sahen gerade in den strengen Normen die Ursache für menschliches Leid. Aber auch die Arroganz der „Gebildeten“, die die Arbeit mit den Händen als vulgär betrachtete, konnte bei den Praktikern nicht auf Zustimmung stoßen. Man kann auf die Idee kommen, die Wertvorstellungen der konfuzianischen Ärzte mit jenen der Schulmedizin mit ihrer Kritik an den komplementärmedizinischen („daoistischen“) Praktiken zu vergleichen. Auch wenn diese Ansicht verführerisch ist, so meine ich doch, dass man innerhalb jeder Berufsgruppe mit der einen oder anderen Richtung sympathisieren kann (das Dao ist schließlich überall). Dem ist auch gut so, wenn man darauf acht gibt, welche Vorzüge, aber auch welche Schwächen das bevorzugte Weltbild in sich birgt.

Man mag bei der Beschäftigung mit der konfuzianischen Lebenseinstellung durchaus nervös werden. Ihre Körperfeindlichkeit, ihre streng und hierarchisch geregelten Familien – und Gesellschaftsvorstellungen entsprechen ja nicht gerade dem Geschmack westlicher Shiatsu-Praktizierender. Mit dem Vorwurf an mangelnder Nähe zur alltäglichen Praxis müssen sich Anhänger dieses Weltbildes auseinandersetzen. Will man tatsächlich auch mit kranken Menschen arbeiten, darf dieser Berufsethos jedoch nicht vernachlässigt werden. Die konfuzianischen Ärzte waren hervorragende Diagnostiker, hoch gebildet und galten nach Needham als die Angesehensten der medizinischen Berufsgruppe. Es waren auch konfuzianische Ärzte, die dem kaiserlichen Hof Rat gebend zur Seite standen. Kein Wunder auch, wurden die Kandidaten doch bei den Zulassungsprüfungen ihres Medizinstudiums bereits 1140 n. Chr. in klassischer Literatur und Philosophie geprüft. Für sie war ein Maß für die Glaubwürdigkeit eines Arztes die Fähigkeit zwischen ernsthaften und oberflächlichen Beschwerden unterscheiden zu können. Dieser Punkt erscheint mir auch für die Shiatsupraxis von großer Bedeutung. Ein guter Shiatsupraktiker muss den Ernst der Lage einschätzen können. Er muss zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem differenzieren können. Für die Arbeit mit den Meridianen mag es unwesentlich sein, Magen-Hitze von Magen-Feuer zu unterscheiden oder sich im Erkennen der Pulstiefen zu üben. Will man mit kranken Menschen arbeiten, muss man sich allerdings im Klaren sein, innerhalb welchem Rahmen man Hilfe anbieten kann. Dies erfordert jedoch Kenntnisse jenseits der Fünf Elemente oder Yin und Yang. Dieser Anspruch gilt zwar auch für die Arbeit als solche, noch viel mehr aber für das informierende Gespräch. Der mahnende konfuzianische Zeigefinger besagt also, dass nur derjenige ein guter Shiatsupraktiker ist, und nur ein solcher soll auch am Kranken arbeiten dürfen, der auch das erforderliche Umfeld studiert hat, ehe er in sein Zentrum zurückkehrt und frei aus seinem Hara die Theorie in die Praxis umsetzt. Wer jedoch mehr den Kopf anstelle seiner Hände für die tägliche Arbeit verwendet, wird sich ebenfalls schwer tun, denn der Erfolg einer Shiatsusitzung wird letztlich maßgeblich von der Magie der Hände und ihren drückenden Daumen beeinflusst.


Was bedeutet dies für unser Berufsbild?

Die Gesellschaft für Shiatsu in Deutschland fand die aus meiner Sicht sehr sinnvolle Lösung, das Berufsbild und die damit verbundenen Kriterien auf zwei Ebenen zu führen. Ich halte die Einführung eines ähnlichen Konzeptes in Österreich für vernünftig, wobei die gesetzliche Lage sich hier anders zeigt. So sollen jene Praktiker, die sich mit den derzeitigen Ausbildungskriterien des Österreichischen Dachverbandes zufrieden geben, auch weiterhin im Wellness-Bereich arbeiten und unterstehen somit als Gewerbetreibende dem Wirtschaftsministerium. Gesundheit bedeutet allerdings die Fähigkeit, vorübergehend auch in disharmonischen oder „körperlich unbehaglichen“ Zuständen zu verweilen. Beschwerden solcher Art sollen auch von diesen Praktikern abgedeckt werden können.

Wo hier die Grenze liegt, ist eine relative Grauzone, doch muss man feststellen, dass eine genauere Definition nicht sinnvoll ist. Erst wenn der Mensch nicht mehr aus eigener Kraft oder einfachen, „Harmoniefördernden Methoden“ seine Gesundheit wiederherstellen kann, ist er krank. Will man tatsächlich mit kranken Menschen arbeiten, so erwarte ich mir das Verantwortungsbewusstsein, auch zusätzliche Ausbildungen zu absolvieren. Dies beinhaltet auch die Reife zu erkennen, wann man nicht mehr weiter helfen kann (Dieser Punkt dürfte in manchen Schulen auch in der Grundausbildung etwas vernachlässigt werden, ansonsten ist schwer erklärbar, weshalb manche Studenten sich benehmen, als ob sie Mitglied einer allheilenden Sekte wären). Ich bin der Überzeugung, dass Shiatsu sehr gute Dienste an der Wiederherstellung von Gesundheit leisten kann, bezweifle aber, dass alle Besitzer eines Diploms des Dachverbandes die ausreichende Reife und Ausbildung für eine derartige Arbeit aufweisen. Ich möchte daher die einzelnen Schulen dazu aufrufen, bei den Abschlussprüfungen, oder bzw. bereits während der Ausbildungen im Auge zu behalten, wie sich der Prüfling später im Beruf verhalten wird. Sind es doch die schwarzen Schafe, die Shiatsu in Misskredit bringen, was schließlich auch dazu führt, dass Klienten aber auch Ausbildungswillige künftig andere Behandlungsmethoden bevorzugen werden.

Jene Fleißigen, die willig sind, sich über die Erfordernisse der Shiatsu-Ausbildung hinaus Kenntnisse im Gesundheitsbereich anzueignen, sollen dann auch dem Gesundheitsministerium zugeordnet werden, mit der Möglichkeit, auch mit den Kassen zu verrechnen. Ob die einzelnen Schulen dafür zusätzliche Ausbildungen anbieten wollen, oder ob man zum Beispiel mit Pflegeschulen kooperieren möchte, müsste man diskutieren. Ohne ein heißes Eisen anfassen zu wollen, würde ich einen Basiskurs für alle komplementärmedizinischen Berufe als sinnvoll erachten.


Referenzen

  • Huang, Jianping (1995); Methodology of Traditional Chinese Medicine; World Press, Beijing
  • Mair, Victor H. (1998); Zuangzi. Das klassische Buch daoistischer Weisheit; W. Krüger Verlag, Frankfurt am Main
  • Needham, Joseph (1988); Wissenschaft und Zivilisation in China, Band 1 der von Colin A. Roman bearbeiteten Ausgabe; Suhrkamp, Frankfurt am Main
  • Sabernig, Katharina (2002); Tiger bändigt Drachen, Eine Anleitung zum besseren Verständnis der traditionellen chinesischen Heilkunde insbesondere der fünf Wandlungsphasen; Bacopa Verlag, Schiedlberg
  • Unschuld, Paul U. (1980); Medizin in China. Eine Ideengeschichte; Verlag C.H. Beck, München.

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© Katharina Sabernig, sabernig@aon.at (veröffentlicht im Shiatsu Journal Nr. 32, Frühjahr 2003)    
Katharina Sabernig war Obfrau des Österreichischen Dachverbandes für Shiatsu (ÖDS) und ist Autorin des Buches “Tiger bändigt Drachen”. Sie studierte Medizin und Ethnomedizin in Wien