Nobelpreis für Medizin 2015 an chinesische Forscherin. Seine Bedeutung für die chinesische Medizin

2015 erhielt Frau Tu Youyou, ausgebildet in westlicher Pharmakologie, den Nobelpreis für Medizin für ihre Entdeckung eines natürlichen Anti-Malaria-Wirkstoffes. Diesen entdeckte sie in einer weltweit verbreiteten Pflanze, die in der Literatur der chinesischen Medizin seit etwa zwei Jahrtausenden beschrieben wird, aus Artemisia annua L., dem einjährigen Beifuß (Qing Hao). Der Bedeutung dieser Preisverleihung ging P.U. Unschuld im Editorial der Deutschen Zeitschrift für Akupunktur 1/2016 nach.

Erste Erwähnung fand Qing Hao in einem handschriftlichen Dokument, das in einem Grab Anfang der 1970er-Jahre in Mawangdui (Changsha, der Hauptstadt von Hunan) zusammen mit anderen Schriften gefunden wurde. Dort heißt es (zitiert nach Deutsche Zeitschrift für Akupunktur 1/2016, S. 4):

„Rezept für ‚Weibliche Hämorrhoiden‘, die sich einen Zoll innerhalb des Afters befinden, … die während des Stuhlgangs aufbrechen und bluten und sich nach oben richten, wenn kein Stuhlgang ist. Nimm fünf Maß Urin und koche damit zwei große Handvoll qing hao, sieben handgroße Goldkarpfen, ein sechs Zoll großes Stück warm geklopfte Zimtrinde, sowie zwei Knochenstücke getrockneten Ingwer. Zehnmal aufkochen. Die Flüssigkeit in eine Schale abgießen. Diese unter eine Sitzmatte zu stellen, in die eine Öffnung gebohrt wird. Mit den Dämpfen werden so die Hämorrhoiden behandelt. Wenn die Arznei erkaltet ist, endet die Behandlung. Die Behandlung mit den Dämpfen ist dreimal durchzuführen.“

Angeblich auf Bitten des vietnamesischen Staatsführers Ho Chi Minh, so führt Unschuld weiter aus, war in China in den 1960er-Jahren das Projekt 523 gestartet worden, in der antiken chinesischen Literatur nach Hinweisen auf gegen Malaria wirksame Substanzen und Rezepturen zu suchen. Diese Forschergruppe, zu der auch Frau Tu Youyou gehörte, fand zahlreiche Empfehlungen in der historischen Rezeptliteratur (ein Zweig der traditionellen chinesischen Pharmakologie, der die Beschreibungen von Einzelsubstanzen ergänzt).

Dazu ist zu wissen, dass Rezept- und Arzneibücher während der gesamten Kaiserzeit die wichtigste Grundlage der chinesischen Medizin waren, wohingegen die Akupunktur nur von marginaler Bedeutung war. Das verschriftliche Wissen der chinesischen Pharmakologie wuchs dabei von 365 Substanzen im ersten Arzneibuch (1. Jahrhundert nach Christi) auf knapp 1.900 im Ben cao gang mu (1598),  der umfangreichsten chinesischen pharmazeutischen Enzyklopädie. Die Rezeptliteratur wuchs sogar noch viel dynamischer. Wurden in den Rezeptvorschriften der Mawandui-Manuskripte mindestens 240 Substanzen erwähnt, drucken Verleger im 15./16. Jahrhundert Rezeptsammlungen mit an die 60.000 Vorschriften. Dabei wurden alle irgendwann als wirksam beschriebenen Rezepturen (Substanzmischungen) berücksichtigt, um sie zu Rate ziehen zu können.

Von Ge Hong, einem Daoisten und Gelehrten 284 bis 364, der eine der zahlreichen Rezeptsammlungen verfasste (Zhou hou bei ji fang, Rezepte die man unter dem Arm trägt, um für alle Fälle gerüstet zu sein) stammt die erste bekannte Beschreibung von insgesamt 42 Malaria-Rezepturen in „Rezepte gegen (abwechselnde) Kälte- und Hitzee(-Empfindungen), alle Arten von nüe-Erkrankungen. Hier finden sich pflanzliche und tierische Substanzen ebenso wie magische Rituale, um übernatürliche Hilfe in Anspruch zu nehmen.

Nüe (in manchen Landesteilen auch als yuo ausgesprochen) beschreibt – insbesondere unter Berücksichtigung der Symptombeschreibung im Su wen, einem der ältesten chinesischen  Medzintexte – ziemlich eindeutig Malaria.

Mao Zedong bekundete, als er zu Beginn der Volksrepublik mit den Forderungen westlich ausgebildeter Medizin konfrontiert wurde, die traditionelle Medizin aus dem chinesischen Gesundheitswesen zu verbannen, sein Verständnis, dass hunderttausende chinesische Ärzte damit ihren Lebensunterhalt verlieren würden. Und er gab die Weisung aus, die die chinesische Medizin seither verfolgt, nämlich dass die traditionelle Medizin gleichsam eine Schatzkammer ist, deren Schätze zu heben sind.

Das Team um Tu Youyou wählte aus den historischen Quellen eine Vielzahl von Einzelsubstanzen aus. Das über viele Jahrhunderte empfohlene Qing Hao erwies sich dabei zwar nicht wirklich befriedigend, aber auch nicht vollkommen enttäuschend. Die Extraktion von Wirkstoffen verhalf zwar zu Wirkstoffen, deren Wirksamkeit war aber nicht ausreichend. Erst als sich Frau Tu Youyou auf die Zubereitungshinweise von Ge Hong besann und statt der üblichen Wirkstoffextraktion eine kalte Extraktionsflüssigkeit benützte, war der Grundstein für die Darstellung von Artemisinin gelegt – einem gegen Malaria wirksamen, aus Naturstoffen gewonnenen Arzneimittel, das Eingang in den internationalen Arzneischatz fand.

Medien-Deutungen, dass dieses Forschungsergebnis die traditionelle chinesische Medizin bestätige, sind Unschuld zufolge aber problematisch, weil die chinesische Regierung und die China Academy of Chinese Medical Sciences unter TCM die auf einen Kern reduzierte historische chinesische Medizin versteht. Dieser Kern ist in der Molekularbiologie legitimiert und wird allmählich in die „heutige“ (moderne, westliche) Medizin integriert. An einer (ewigen) Fortdauer der TCM als eigenständiges, in den historischen Weltanschauungen von Yin und Yang und den Fünf Elementen begründetes Lehrsystem sind die Verantwortlichen in China nicht interessiert. TCM, so sagt die Beijing Declaration of 2007, ist Teil der Biomedizin, und die Grundlage der TCM ist ihr zufolge die Molekularbiologie.