Offene Fragen zu den Untersuchungen von Libet. Kritik an der gängigen Interpretation der Ergebnisse

Die Experimente von Benjamin Libet, die dieser in der ersten Hälfte der Achtziger-Jahre durchgeführt hatte, untersuchten den zeitlichen Zusammenhang zwischen der bewussten Entscheidung zu einer Bewegung und der Einleitung der Bewegung auf der neuronalen Ebene. Dazu wurde das so genannte symmetrische Bereitschaftspotential gemessen, das auf Grund von neuronaler Aktivität vor allem im supplementär motorischen Areal beider Hirnhälften auftritt und offenbar in engem Zusammenhang mit der Einleitung von Bewegungen steht. Insofern scheint der Zeitpunkt, zu dem das Bereitschaftspotential auftritt, Schlüsse darüber zuzulassen, wann das Gehirn mit der Vorbereitung einer Bewegung beginnt.

Das Bereitschaftspotential ist allerdings so schwach, dass es nicht einfach zum Zeitpunkt seines Auftretens gemessen werden kann, sondern über eine Vielzahl von Versuchsdurchläufen gemittelt werden muss. Die Versuchspersonen mussten also immer wieder, in den Versuchen von Libet etwa vierzigmal, denselben Vorgang wiederholen. Angaben über den Zeitpunkt, zu dem das Potential auftritt, sind also Durchschnittswerte.

Libets Versuchspersonen hatten die Aufgabe, ihre Hand bzw. ihren Finger zu einem beliebigen Zeitpunkt zu bewegen und sich dabei gleichzeitig – mit Hilfe einer schnell laufenden Uhr – den Moment merken, an dem sie den bewussten „Drang“ (urge) zu dieser Bewegung verspürt hatten. Dieser bewusste Drang wurde von Libet mit der bewussten Intention bzw. Entscheidung gleichgesetzt.

Dabei stellte sich heraus, dass das symmetrische Bereitschaftspotential etwa 550 Millisekunden vor der Ausführung der Handlung einsetzt. Die bewusste Entscheidung bzw. der bewusste „Drang“, sich zu bewegen, trat hingegen erst etwa 200 Millisekunden vor der Handlung auf. Das Gehirn beginnt demnach mit der Vorbereitung einer einfachen Handlung etwa 350 Millisekunden vor der bewussten Entscheidung. Wenn wir unsere Entscheidung fällen, so die gängige Erklärung, ist die Handlung schon längst vorbereitet. Die bewusste Entscheidung wäre damit nur eine Begleiterscheinung eines Prozesses, der von unbewussten neuronalen Aktivitäten gesteuert wird. Vermutlich wird die Entscheidung selbst durch diese Prozesse gesteuert.

Um die Korrektheit dieser Interpretationen zu überprüfen, überprüft Michael Pauen[1]Pauen, Michael: „Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004 zwei Aspekte der Fragestellung:

  • Fällt die Entscheidung wirklich erst zu dem von Libet gemessenen Zeitpunkt bzw. ist das, was Libet misst, tatsächlich die Entscheidung?
  • Legt das Bereitschaftspotential wirklich fest, was die Versuchsperson tun wird?


Misst Libet den Zeitpunkt der Entscheidung?

  • Libets Versuchspersonen wurden aufgefordert, den Zeitpunkt zu bestimmen, an dem sie den „Drang, sich zu bewegen“ verspüren. Ein solcher Drang jedoch ist nach Pauen nicht gleich zu setzen mit einer bewussten Entscheidung: Während ein Drang gleichsam „über uns“ kommt (wir ihm also passiv entgegenstehen), sind wir bei einer freien Entscheidung aktiv, bestimmen wir sie.
  • Die Nachfolgeuntersuchung von Keller & Heckhausen[2]Keller, I. & Heckhausen, H.: „Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control”. In: Electroencephalography and Clinical Neurophysiology 76, 1990, S. … weiterlesen spricht dafür, dass es sich bei Libets „Drang“ um einen normalerweise unbewussten Bewegungsdrang handelt, der nur durch die Versuchsanordnung ins Bewusstsein tritt. Die Autoren konnten zeigen, dass wir unter ganz normalen Alltagsbedingungen immer wieder unbewusste Bewegungen vollziehen, deren Vorbereitung ein Bereitschaftspotential hervorruft, das insbesondere im zeitlichen Verlauf dem von Libet gemessenen entspricht. Keller & Heckhausen zufolge waren es auch Bewegungen dieses Typs, die von Libet gemessen wurden. Durch die spezifische Versuchsinstruktion wurden die Versuchspersonen auf diese normalerweise unterbewussten Bewegungsimpulse gelenkt und damit zugleich die durch die Instruktion festgelegten Bewegungen ausgelöst. Damit aber hätte Libet keine freie Entscheidung gemessen.
  • Von einer freien Entscheidung ist auch nur dann zu sprechen, wenn dem Handelnden unterschiedliche Alternativen offen stehen. Genau dies aber war in den Versuchen Libets nicht vorgesehen. Die Versuchspersonen konnten nicht bestimmen, was sie tun wollen, noch ob sie es tun wollen. Bestimmen konnten sie nur den Zeitpunkt der zuvor festgelegten Bewegung. Und hier gab es strenge Grenzen: Die Versuchspersonen mussten innerhalb einer vorgegebenen Zeit von maximal drei Sekunden die Bewegung ausführen. Der „Entscheidungsspielraum“ für den „freien Willensakt“ bestand also darin, die Bewegung gleich zu Beginn der drei Sekunden oder einen Moment später auszuführen.[3]Helmrich, Herbert: „Wir können auch anders: Kritik der Libet Experimente”. In: Geyer, Christian: „Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente“. Suhrkamp Verlag … weiterlesen
  • Bei wirklich selbstbestimmten Entscheidungen handelt es sich in der Regel um Prozesse, die eine gewisse Dauer haben (um die Für und Wider einer fraglichen Handlungsoption zu berücksichtigen). Derartige Entscheidungsprozesse lassen sich aber wohl kaum auf wenige Millisekunden begrenzen. Die wirkliche Entscheidung fand vielmehr statt, als sich die Teilnehmer – nachdem sie mit der Instruktion vertraut gemacht worden waren – für oder gegen die Teilnahme entsprechend der Versuchanordnung entschieden. An dieser Stelle hatten sie noch (reale) Alternativen. Die bewusste Bewegung war damit nur mehr der Exekutivakt, der „letzte Willensruck“ (Gerhard Roth), eine Teilentscheidung, die nicht mehr über das Ob, sondern nur noch über das (sehr eingeschränkte) Wann entschieden hat. Das Bereitschaftspotential wäre damit eine Voraktivierung, die unterschiedliche Aspekte der Planung, Entscheidung und Ausführung enthält. Der bewusste Willensakt „jetzt handeln“ (den Libet damit gemessen hätte) folgt darum, so Helmrich3), logischerweise der unbewusst aufgebauten Voraktivierung, die sich im Bereitschaftspotential neurologisch abbilden lässt.


Was wird durch das Bereitschaftspotential festgelegt?

  • Wenn schon durch die Instruktion das Verhalten der Versuchspersonen festgelegt war, dann bleibt die Frage offen, inwieweit das Verhalten überhaupt durch das symmetrische Bereitschaftspotential festgelegt (determiniert) war. Eine Determinierung durch das Bereitschaftspotential wäre erst dann gegeben, wenn sichergestellt wäre, dass nach dem Anstieg des Potentials nur noch die tatsächlich vollzogene Bewegung möglich ist (und nicht z.B. die andere Hand zu bewegen). Die Versuche Libets und mehr noch die Nachfolgeuntersuchungen von Haggard & Eimer[4]Haggard, Patrick & Eimer, Martin: „On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements”. In: Experimental Brain Research 126, 1999, S. 128-133 weisen auf einen solchen Freiheitsspielraum hin.

Die Versuchspersonen in den Experimenten von Haggard & Eimer hatten die Aufgabe, abhängig vom Erscheinen bestimmter Reize, auf einem Monitor mit der rechten oder linken Hand eine Taste zu bedienen. Da die „Wahl“ nicht vor dem Erscheinen dieses Reizes getroffen werden kann, stand der Zeitpunkt fest, zu dem frühestens eine Festlegung auf eine bestimmte Bewegung erfolgen konnte. Das in dieser Versuchsanordnung gemessene symmetrische Bereitschaftspotential ging aber nicht nur der eigentlichen Bewegung voraus, sondern auch der Anzeige des Reizes. Da zum Zeitpunkt des Auftretens des Bereitschaftspotentials die Entscheidung, welche Hand bewegt wird, noch nicht entschieden werden kann, kann das Bereitschaftspotential auch nicht festlegen, welche Hand bewegt wird. Vielmehr liegt die Annahme nahe, dass das symmetrische Bereitschaftspotential eine unspezifische Vorbereitung auf eine erwartete Bewegung darstellt – eine Annahme, die auch Trevena & Miller[5]Trevena, Judy Arnel & Miller, Jeff: „Cortical Movement Preparation before and after a Conscious Decisison to Move.” In: Consciousness and Cognition 11, 2002, S. 162-190 teilen, weil kognitive Prozesse wie etwa Erwartungen nachweislich einen direkten Einfluss auf das Potential haben.

  • Haggard & Eimer differenzieren in ihren Untersuchungen auch zwischen Versuchspersonen, die sich besonders früh entscheiden und solchen, die ihre Entscheidung erst relativ spät treffen, und überprüften, ob sich diese Differenzen auch im Auftreten des Bereitschaftspotentials widerspiegeln (wobei sowohl das symmetrische wie auch das lateralisierte Bereitschaftspotential[6]Das lateralisierte Bereitschaftspotential wird nur auf derjenigen Seite gemessen, die für die Steuerung des bewegten Körperteils zuständig ist. Es steht in einem engen zeitliche Zusammenhang zur … weiterlesen erhoben wurde).

Die Ergebnisse von Haggard & Eimer zeigen, dass auch das lateralisierte Potential – im Mittel zwischen 450 und 550 Millisekunden – der „Entscheidung“ vorangeht. Es besteht eine zeitliche Abhängigkeit der Entscheidung vom Auftreten des lateralisierten Potentials. Wenn das lateralisierte Bereitschaftspotential früher auftritt, dann findet – im Mittel – auch die Entscheidung früher statt, weshalb die Forscher eine kausale Abhängigkeit der Entscheidung vom lateralisierten Bereitschaftspotential für denkbar halten. Ein solcher Zusammenhang fand sich aber nicht beim symmetrischen Bereitschaftspotential.

Ähnlich wie bei den Versuchen Libets ist auch hier, so Pauen, unklar, ob eine Entscheidung gemessen wird (wenngleich die Versuchspersonen bei den Versuchen von Haggard & Eimer zwischen zwei Optionen – Bewegung der linken oder rechten Hand – wählen konnten). Unklar bleibt, ob die Wahl zum gemessenen Zeitpunkt stattfindet oder aber die Versuchspersonen zunächst entscheiden, ob sie die linke oder rechte Hand bewegen wollen, und zu dem gemessenen Zeitpunkt nur noch die bereits festgelegte Bewegung auslösen.

Aber selbst, wenn man davon ausgeht, dass hier der tatsächliche Entscheidungsprozess gemessen wurde, lassen die Messdaten Zweifel an einem Kausalzusammenhang entstehen, denn (abgesehen von der großen Streuung der Daten) setzte bei einem Viertel der Versuchspersonen mit frühen Entscheidungen der Aufbau des Bereitschaftspotentials erst nach der Entscheidung ein.

  • Bestärkt werden diese Zweifel durch eine neuere Studie von Trevena & Miller, die sich mit dem so genannten „Smearing Artifact“ befasst, einen seit längerem bekannten systematischen Fehler bei der Bildung von Mittelwerten von EEG-Wellen. Dieser Effekt führt dazu, dass bestimmte Potentiale – die wie das Bereitschaftspotential nur durch Mittelwerte erfasst werden können, weil sie für die Einzelmessung zu schwach sind – zeitlich erheblich zu früh angesetzt werden.

Berücksichtigt man die Zeitverschiebung durch das Smearing Artifact, dann muss man das lateralisierte Bereitschaftspotential wohl erst nach der Entscheidung ansetzen: „Die einfachste und konservativste Interpretation der vorliegenden Resultate ergibt, dass die für die Hand spezifische Vorbereitung einer unmittelbaren Bewegung nicht einsetzen muss, bevor die bewusste Entscheidung zu einer solchen Bewegung getroffen worden ist“ (Trevena & Miller, S. 187).

  • Schwierigkeiten für die gängige Interpretation der Experimente Libets macht auch die Bestimmung des Zeitpunktes der bewussten Entscheidung: Bei Haggard & Eimer lag der Mittelwert aller Versuchspersonen bei 350 Millisekunden vor der Bewegung, bei Libet sowie Keller & Heckhausen bei 200 Millisekunden und bei Trevena & Miller bei 122 Millisekunden vor der Bewegung, obwohl der Versuchsaufbau in allen Untersuchungen sehr ähnlich war.

Noch größer jedoch sind die Schwankungen zwischen den individuellen Versuchspersonen. Bei Haggard & Eimer schwankten die Angaben zwischen 984 und 4 Millisekunden, in Libets ursprünglichem Versuch zwischen 422 und 54 Millisekunden, bei Keller & Heckhausen zwischen 362 Millisekunden vor und 806 Millisekunden nach der Bewegung. Und auch bei Trevena & Miller gaben 40 Prozent der Versuchspersonen für den Entschluss einen Zeitpunkt an, der nach der Ausführung lag.[7]Verantwortlich dafür dürften Unklarheiten in der Instruktion sein, aber auch Datierungsprobleme eines kognitiven Prozesses im Vergleich zur visuell wahrgenommenen Uhr.    Da, wie schon seit … weiterlesen

Abschließend hält Pauen deshalb fest, dass die vorliegenden Daten noch bei weitem zu unzuverlässig sind, um grundsätzliche Schlüsse auf das Verhältnis von bewussten Entscheidungen und unbewussten neuronalen Prozessen zu erlauben. Von einer Widerlegung der Willensfreiheit durch die vorliegenden Untersuchungen von Libet oder Haggard & Eimer kann man deshalb nicht wirklich sprechen.

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Pauen, Michael: „Illusion Freiheit? Mögliche und unmögliche Konsequenzen der Hirnforschung“. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2004
2 Keller, I. & Heckhausen, H.: „Readiness Potentials Preceding Spontaneous Motor Acts: Voluntary vs. Involuntary Control”. In: Electroencephalography and Clinical Neurophysiology 76, 1990, S. 351-361
3 Helmrich, Herbert: „Wir können auch anders: Kritik der Libet Experimente”. In: Geyer, Christian: „Hirnforschung und Willensfreiheit. Zur Deutung der neuesten Experimente“. Suhrkamp Verlag 2005, S. 92-97
4 Haggard, Patrick & Eimer, Martin: „On the Relation Between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements”. In: Experimental Brain Research 126, 1999, S. 128-133
5 Trevena, Judy Arnel & Miller, Jeff: „Cortical Movement Preparation before and after a Conscious Decisison to Move.” In: Consciousness and Cognition 11, 2002, S. 162-190
6 Das lateralisierte Bereitschaftspotential wird nur auf derjenigen Seite gemessen, die für die Steuerung des bewegten Körperteils zuständig ist. Es steht in einem engen zeitliche Zusammenhang zur ausgeführten Bewegung.
7 Verantwortlich dafür dürften Unklarheiten in der Instruktion sein, aber auch Datierungsprobleme eines kognitiven Prozesses im Vergleich zur visuell wahrgenommenen Uhr.    
Da, wie schon seit längerem bekannt ist, die Aufmerksamkeit eine zentrale Rolle für die Datierung von Reizen darstellt, könnte ein Teil der Schwankungen darauf zurückzuführen sein, dass einige Versuchspersonen ihre Aufmerksamkeit auf den Entscheidungsprozess richteten, während andere sich auf die Uhr konzentrierten.