Psychotherapeutische Aspekte von Shiatsu (Eduard Tripp)

Die frühkindliche Entwicklung

Vor unserer Geburt, so das Modell der psychoanalytischen Entwicklungstheorie, erleben wir im Mutterleib einen Zustand vollkommenen inneren Gleichgewichts ohne jegliche Bedürfnisse, da diese ganz von selbst befriedigt werden und sich als solche deshalb gar nicht erst entwickeln können. In diesem zeitlosen und unendlichen Universum gibt es weder Wünsche noch deren Befriedigung. Der noch ungeborene Mensch ist in seinem Universum, das mit dem Universum schlechthin verschwimmt, allmächtig, autonom und kennt nichts anderes als sich selbst. Dieser als „erhebend-erhaben” bezeichnete Zustand endet für das Kind jedoch abrupt und grundlegend mit seiner Geburt. Es wird seiner Allmacht und Unabhängigkeit beraubt und wird sich zugleich seiner Triebe und Bedürfnisse, wie auch seiner Hilflosigkeit und Unzulänglichkeit bewusst.

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Eine gute und einfühlsame Bemutterung des Kindes nach seiner Geburt bildet die Grundlage für das Kind, das Trauma seiner Geburt zu überwinden. Die Mutter (oder eine andere nahe und vertraute Bezugsperson) ist es vor allem, die durch ihre Liebe zu ihrem Kind ein positives Klima schafft, das es dem Kind ermöglicht, sich dem Leben und der Welt vertrauensvoll zuzuwenden.

Vermittelt wird dieses grundlegende gefühlsmäßige Klima zwischen Mutter und Kind durch eine ganzheitliche Wahrnehmung, die als „coenästhetisch” bezeichnet wird. Im Vordergrund stehen dabei Haut- und Körperkontakt, Schwingung, Rhythmus, Spannung und Entspannung, Körperhaltung, Temperatur und Stimmlage (und damit die glatte Muskulatur und das Autonome Nervensystem, d.h. Sympathikus und Parasympathikus). Vor allem drei Qualitäten, nämlich Wärme, Rhythmus und Konstanz, sind es, die in dieser frühen Zeit, die Psychoanalyse spricht von den ersten sechs Lebensmonaten, von entscheidender Wichtigkeit sind und die Basis für die weitere Entwicklung bilden.

Aus dem schützenden und warmen Universum des Mutterleibs ausgestoßen und in eine kalte Welt geboren, ist Wärme für das Kind lebensnotwendig. Die adäquate Erfahrung von Wärme (weder Mangel noch Überangebot), die die Mutter (Bezugsperson) aufgrund ihrer Liebe und Zuneigung vermittelt, lässt das Kind zugleich auch emotionale Wärme und Geborgenheit erfahren und bildet die frühe Basis für Vertrauen in die Welt und für Genussfähigkeit im späteren Leben.

Den zweiten grundlegenden Bereich bildet der Rhythmus. Im Mutterleib pulsiert das Kind im Rhythmus der Mutter, in ihrem Atemrhythmus, ihrem Herzschlag, ihrem Schlaf-Wachrhythmus. Mit der Geburt jedoch tritt das Kind aus dieser rhythmischen Übereinstimmung mit der Mutter und muss seine eigenen Rhythmen entwickeln und stabilisieren. Unterstützt wird es darin durch ein entsprechendes Rhythmus-Angebot von außen, so wie das Neugeborene seinen eigenen Schlaf-Wachrhythmus durch die im familiären Zusammenleben vorgegebenen Ruhe- und Aktivitätszeiten entwickelt. Ein verlässlicher und adäquater Rhythmus (nicht zu schnell und nicht zu langsam) gibt Sicherheit und Halt und ermöglicht das Wahrnehmen von Form und Grenzen – insbesondere auch die Wahrnehmung der eigenen Körpergrenzen. Rhythmus und Wärme zusammen schließlich, gleichsam Form und Inhalt, bilden die Basis für das Gewahrwerden und Erleben des eigenen Körpers und dessen innere Vorstellung (die Psychoanalyse spricht von Repräsentanz oder auch Körperbild und meint damit die Art und Weise, wie wir uns in unserem Inneren als unser Körper begreifen und erleben), die uns unser ganzes Leben, bewusst und unbewusst, begleitet.

Konstanz oder Verlässlichkeit als dritte grundlegende Qualität festigt die Erfahrungen von Wärme und Rhythmus, macht sie im Inneren beständig. Urvertrauen entwickelt sich und bildet die stabile Grundlage der weiteren Entwicklung. Letztlich ermöglicht das Erleben von Beständigkeit, komplexe emotionale Beziehungen (Bindungen) einzugehen und – positiv – zu bewältigen.

Diese sehr frühen emotionalen Erfahrungen bilden unseren inneren, „narzisstischen” Kern, jene Struktur in uns, die vor allem für die Regulierung unseres Selbstwertes verantwortlich ist („narzisstisch” nennt die psychoanalytische Theorie alle Beziehungen und Handlungen, die zur Erhöhung unseres Selbstwertgefühls oder zur Stärkung unserer Selbstidentität beitragen).  Und indem unsere auf die Außenwelt gerichteten (triebhaften) Wünsche und Aktivitäten mit unseren narzisstischen (den Selbstwert steigernden) Bedürfnissen gleichsam verwoben werden, bewirken Handlungen deshalb nicht nur eine Spannungsreduktion wie etwa das Stillen von Hunger oder Durst, sondern stärken zugleich auch unseren (narzisstischen) Wert.

Eine sportliche Betätigung beispielsweise beinhaltet nicht nur den Aspekt der Befriedigung des Bewegungsbedürfnisses, sondern befriedigt zugleich auch die Eigenliebe. Wir sind stolz auf uns, fühlen uns leistungsfähig, erfolgreich und zufrieden. Ein komplementäres Beispiel wäre der Wunsch nach Geltung, der uns auf unsere Umwelt zugehen und in dieser handeln lässt, um die erwünschte Wertschätzung zu erreichen.

Erlebt ein Kind also eine (ausreichend) gute Bemutterung und erfährt damit adäquat Wärme, Rhythmus und Konstanz, so kann es damit seinen narzisstischen Kern mit diesen positiven und seine Innenwelt formenden Erfahrungen auffüllen und ist für die Integration von „narzisstischer” und „triebhafter” Welt gut gerüstet. Eine solche Verbindung bedeutet aus psychotherapeutischer Sicht die Voraussetzung für psychische Gesundheit und Ausgeglichenheit und kann durchaus auch als grundsätzliches, energetisches In-Balance-Sein interpretiert werden.


Die Anwendung der Entwicklungstheorie in der therapeutischen Begegnung

Wenn das innere (und energetische) Gleichgewicht jedoch gestört ist, ist dies im allgemeinen (zumindest mit-)bedingt durch einen Mangel im narzisstischen Bereich. Die Psychotherapie trägt dem dann insofern Rechnung, als dieses grundlegende Defizit in der therapeutischen Begegnung mitberücksichtigt wird. Wärme, Rhythmus und Konstanz werden dazu als Struktur bildende und -unterstützende Maßnahmen in die therapeutische Situation einbezogen, so z.B. durch die Förderung eines emotional-warmen Klimas (Wärme), durch regelmäßige Termine und einen annähernd gleich bleibenden Ablauf der Sitzungen (Rhythmus) sowie durch die gleich bleibend offene, zugewandte und verlässliche Haltung des Therapeuten (Konstanz).

Und gerade hier, in der Begegnung zwischen zwei Menschen, liegen auch die ureigensten Stärken von Shiatsu. Der Geist von Shiatsu ist nämlich geprägt vom offenen und aufrichtigen Kontakt und der liebevollen und ehrlichen Kommunikation zwischen zwei Menschen, die sich in einer Shiatsu-Sitzung begegnen, zwischen dem Gebenden und dem Empfangenden.


Was ist Shiatsu?

Shiatsu, wörtlich „Fingerdruck”, dessen Ursprünge zu Beginn unseres Jahrhunderts in Japan liegen, kann man vereinfachend als eine im wesentlichen sanfte und sehr wirkungsvolle Arbeit am Körper beschreiben. Ziel einer Shiatsu-Behandlung ist es, die natürlichen Selbstheilungskräfte des Körpers zu aktivieren, Blockaden im Energiefluss zu lösen und Unausgeglichenheiten im körperlichen, seelischen und geistigen Bereich zu lösen. Grundlage ist hier insbesondere das Wissen um die Gesetzmäßigkeiten der Lebensenergie – in China spricht man von „Qi”, in Japan von „Ki” – und ihrer Zirkulation im lebendigen Organismus. Kann die Lebensenergie in ihren Bahnen ungehindert fließen, wird weder übermäßig verbraucht noch blockiert, dann kann sich auch das Leben in uns harmonisch entfalten und wir erfreuen uns körperlicher Gesundheit und emotionaler Ausgeglichenheit. Ist dieser Fluß in uns jedoch blockiert, führt dies zu Störungen in unserer Befindlichkeit und unserer Gesundheit. Die östliche Medizin spricht hier von einem Disharmoniemuster.

Durch Druck mit den Fingern, Ellbogen, Knien und Füßen, aber auch durch Dehnungen und sanfte Berührungen hilft Shiatsu, die ins Ungleichgewicht geratenen Körpersysteme anzuregen und auszugleichen und unterstützt den Organismus darin, seine Funktionen wieder in vollem Umfang wahrzunehmen.


Shiatsu unterstützt unsere innere Entwicklung

Im direkten Körperkontakt, in der direkten Berührung lässt Shiatsu die sinnliche (coenästhetische) Wahrnehmungs- und Erlebniswelt wieder aufleben. Diese Erlebniswelt tritt nämlich im Laufe unserer Entwicklung immer mehr gegen die unterscheidende (diakritische) Wahrnehmung (mit Betonung der quergestreiften Muskulatur, des Zentralen Nervensystems, des logischen Denkens und der optischen Wahrnehmung) in den Hintergrund. Sie bleibt aber dennoch unser ganzes Leben lang von entscheidender Bedeutung, wenn auch oft im Verborgenen. Bei vielen Menschen allerdings, insbesondere in unserer Gesellschaft, verkümmert diese mehr intuitive Wahrnehmungswelt, was mit einer inneren, emotionalen und letztlich auch geistigen Verarmung einhergeht. Gestärkt hingegen wird die Sensibilität, Veränderungen des Autonomen Nervensystems zu bemerken und zu beachten und in diese Wahrnehmungsebene einzutauchen beispielsweise durch Fasten, Enthaltsamkeit, Dunkelheit, Einsamkeit, Rhythmus, Klang, Atemtechnik, Autogenes Training, Meditation oder eben auch Shiatsu.

Behandlung der BeineWärme als Qualität in einer Shiatsu-Behandlung vermittelt sich einerseits ganz direkt durch den unmittelbaren Körperkontakt, aber auch im emotional zugewandten Klima, in dem die Sitzung, die Begegnung stattfindet, und im Eingehen auf unseren Partner, im Eintauchen in seine und letztlich in eine gemeinsame coenästhetische Beziehungs- und Wahrnehmungswelt.

Rhythmus ist ein weiteres wichtiges Element jeder Shiatsu-Behandlung: der Rhythmus von Druck und Entspannung oder die Arbeit mit den körpereigenen Rhythmen, dem Atemrhythmus zum Beispiel, den man stärken und festigen oder aber erweitern, flexibler und durchgängiger machen kann. Immer auch sprechen wir in einer Shiatsu-Sitzung durch die direkte Berührung unseren Partner im Erleben seines Körpers, dessen Grenzen und seiner Gefühlsqualitäten an und erfahren in unserer Arbeit, dass wir als Menschen unser Körper sind und nicht nur einen Körper haben.

Konstanz schließlich vermittelt sich vor allem durch den in seinen Grundzügen immer ähnlichen Sitzungsablauf, durch das vertraute Setting, durch die vertraute Technik und durch die im Wesentlichen gleich bleibende, offene, ehrliche und zugleich professionelle, das Wesentliche erfassende Zuwendung des Praktikers zum Empfangenden. Erlebte Beständigkeit befähigt uns, mit ambivalenten, einander zumindest scheinbar entgegengesetzten Gefühlen und Impulsen umzugehen und zu integrieren. Und gerade ein solch reifer Umgang mit einander widerstreitenden Inhalten bildet die Grundlage für Ausgeglichenheit, Gesundheit und stabile, verbindliche, reife und „ganze” Beziehungen.

Durch die offene und vertrauensvolle Begegnung unterstützt Shiatsu unsere innere Strukturierung und Differenzierung. Shiatsu vermittelt dabei Wärme, Rhythmus und Konstanz, was sein großes Wirkungsspektrum verstehen lässt, das weit über den Ausgleich von spezifischen, energetischen Disharmoniemustern hinausgeht. Shiatsu eignet sich daher, wie die Praxis zeigt, hervorragend dazu, eine psychotherapeutische Behandlung zu begleiten und zu unterstützen. Und einen ganz besonderen Platz kann Shiatsu auch in der Arbeit der Körperpsychotherapie einnehmen, indem es die innere Neuorientierung und Zentrierung anregt und fördert.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at). Veröffentlicht im Kongressband des 2. Europäischen Shiatsu-Kongresses 2007.