Shiatsu kontra Stress (Ulrike Schmidt)

Neben mir auf dem Futon liegt eine Frau auf dem Bauch, eine Fremde, die ich nie vorher sah. Ich sitze im Fersensitz auf dem Boden. Die Sonne scheint seidigmatt durch die Vorhänge. Von meinen Praxiskollegen sind entfernt Stimmen zu hören. Ich sammle mich, atme tief, bin gelassen. Dann lege ich sacht eine Hand auf den Rücken der Frau. Die Hand, warm, weich, schwer. Ich beginne mich nun um ihren Körper herumzubewegen. Meine Hände wissen, was zu tun ist. Nach kurzer Zeit atmet sie sehr tief, sehr ruhig, sie schläft! Wie kann das geschehen?

Um zu verstehen, warum eine Shiatsu-Behandlung auf viele Menschen sehr entspannend wirkt, ist es sinnvoll, sich in Erinnerung zu rufen, wie unser Nervensystem (kurz NS) funktioniert.

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Einen Teil des Nervensystems nennen wir autonom, das autonome Nervensystem. Autonom (im Gegensatz zum willkürlichen NS) deshalb, weil wir mit unserem Alltagsbewusstsein[1]Mit Hilfe intensiver Meditationstechniken kann eine Einflussnahme auf das autonome NS gelingen. darauf keinen Einfluss ausüben können. Es entzieht sich also unserem Willen, unserer Befehlsgewalt. Das autonome NS unterteilt sich in zwei Äste: der eine wird der Sympathikus genannt und der andere der Parasympathikus. Diese haben verschiedene Aufgaben zu “erledigen”: entwicklungsgeschichtlich gesehen hilft uns der Sympathikus hauptsächlich Kampf- und Fluchtsituationen zu meistern. Befinden wir uns Auge in Auge mit einem wildem Stier, einem hungrigen Tiger oder einem angeschossenem Büffel, muss der Körper, und zwar ziemlich schnell, sein ganzes Potenzial zu Verfügung stellen. Also, Adrenalinausschüttung (das Stresshormon), Lungenfunktion wird erhöht, damit mehr Sauerstoff aufgenommen wird, das Herz pumpt wie wild, die Adern verengen sich, damit das Blut schneller fließt und dadurch der Sauerstoff auch schneller transportiert wird, z.B. zu den Muskelzellen. Alles im Körper ist auf höchste Aktivität eingestellt. Jetzt hat der Körper einfach keine Zeit für ein Nickerchen, für Verdauung, Ausscheidung oder für die Fortpflanzung! Logisch, nicht wahr? Das wäre glatt die falsche Zeit und somit lebensbedrohlich. Gut, haben wir erst mal den Büffel erlegt, oder sind ihm glorreich entronnen, wähnen uns in Sicherheit, erst dann beginnt der Parasympathikus seine Arbeit: Puls- und Atemfrequenz senken sich, die Blutgefäße weiten sich wieder, Nahrung kann verdaut werden, Nahrungsreste ausgeschieden, wir können ruhen, schlafen, uns paaren.

Nun besteht der moderne Alltag nicht aus derartigen lebensbedrohlichen Gefahren, wie unsere Ahnen sie erleben mussten. Die Gefahren heute sind möglicherweise sogar schlimmer einzustufen, da oft ein Wechsel und somit ein Ausgleich zwischen “Gefahr” und “Sicherheit” nicht mehr stattfindet. Der Mensch von Heute erlebt vielfältige “Gefahren” und das nennen wir dann Stress! Schulstress, Arbeitsstress, Freizeitstress, Beziehungsstress, Urlaubsstress, Stress mit Kindern, Eltern, Nachbarn, Chefs, Autofahrern, und, und, und. Angst zu versagen, nicht gut genug zu sein, verlassen zu werden, entlassen zu werden, Angst vor Dieben, Kursverlusten, unerwünschten Schwangerschaften. Obwohl die Gefahren von Seiten der Natur tatsächlich in unseren Breitengraden weitgehend nicht real existent sind, reagiert der Sympathikus bei Stress, denn das ist seine AUFGABE! Er versetzt den Körper-Geist-Seele-Komplex des Menschen in eine erhöhte Bereitschaft, bei anhaltendem Stress in eine dauernde Alarmbereitschaft. Das wirkt sich entsprechend auf unser Schlafverhalten aus, auf unsere Fähigkeit `abzuschalten´, zu verdauen und uns zu paaren (beim Mann ist für die Erektion der Parasympathikus verantwortlich, für die Ejakulation allerdings der Sympathikus).

Das entscheidende zum Verständnis des autonomen NS ist nun, dass es sich um einen “Entweder-Oder-Mechanismus” handelt: entweder ist der Sympathikus aktiviert oder der Parasympathikus. Es ist wie “Schwanger-oder-nicht-Schwanger”. Beides gleichzeitig geht nicht.

Im Idealfall wird im Laufe einer Shiatsu-Behandlung der Parasympathikus aktiviert. Oft setzen unmittelbar nach der “Kontaktaufnahme” die typischen Verdauungsgeräusche ein. Den

Betroffen selbst oft unangenehm, für uns Behandler jedoch die `Musik im Shiatsu´, denn wir können folgern: aha, der Parasympathikus hat sich “angeschaltet” und die Führung übernommen. Die Atmung vertieft sich spürbar, das Herz wird ruhiger, ganze Muskelgruppen können sich in kürzester Zeit entspannen (z.B. gut zu beobachten an der Halsmuskulatur: in Rückenlage rollt der Kopf oft von alleine entspannt zur Seite). Unmittelbar nach der Behandlung müssen die PatientInnen häufig ihre Blase entleeren. In den Zeiten, in denen der Parasympathikus “herrscht”, erleben viele Menschen neben der tiefen körperlichen Entspannung auch Momente großer Geistesklarheit, kreativer Ideen oder überraschender Lösungen.

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© Ulrike Schmidt, Jahrgang 1960, Diplomierte Finanzwirtin, Lehrerin für Shiatsu und Qi Gong. Mitbegründerin der Berliner Schule für Zen Shiatsu. Goltzstr. 23, D-10781 Berlin. Tel.: +49 (030) 216 11 05, Fax: +43 (030) 217 569 47, http://www.zenshiatsu.de

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Mit Hilfe intensiver Meditationstechniken kann eine Einflussnahme auf das autonome NS gelingen.