Von den heimlichen Wegen der Heilung (Alena Maria Schneider)

Ich warte nicht gerne. Aber es gibt einen Arzt in dessen Wartezimmer zu verweilen ein Erlebnis ist. Da sitzt ein Bündel Mensch neben mir, in sich gekauert, von Husten geschüttelt, gebeugt, fertig mit der Welt. Hier verstehe ich die Redewendung: jemand hustet sich die Seele aus dem Leib. Als die selbe Person nur wenig später aus dem Sprechzimmer kommt – noch immer hustend – sehe ich, dass sie leuchtende Farben trägt. Sie geht aufrecht, sie schaut leise lächelnd in die Runde, sie grüßt und verlässt die Praxis in einer Aura der Zuversicht. Eine Freundin hatte mir diesen Arzt empfohlen. „Ich weiß eigentlich nicht, was der macht,” sagte sie, „aber wenn ich da war, fühle ich mich so umhüllt und denke, ach, ich bin schon auf dem rechten Weg.”

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Eine Shiatsu-Partnerin sitzt mir gegenüber. Sie ist voller Weh und hat Schmerzen. Sie kommt von einem Arztbesuch und weiß gerade keinen Schritt weiter. Da gibt es Schäden von einer schweren Geburt, deren Behandlung ärztliche Kunst erfordert. Diese ärztliche Versorgung ist da. Aber dennoch ist hier in diesem Moment kein Funke von einem Geist der Heilung zu entdecken. Eher im Gegenteil: Sie wirkt erloschen und so als habe sie keinen Kontakt mehr zu den lebendigen Fähigkeiten ihres Organismus. Sie weiß jetzt Fakten, was alles wie geschädigt und zerrissen ist in ihrem Körper und berichtet davon, zunächst einmal wie abgeschnitten von sich selbst. Unter der Wärme meines mitfühlenden, sie suchenden Zuhörens bricht sich ein Fließen Bahn und sie weint ein Weinen der Überforderung.

Wir begeben uns auf den Futon. Ich lege meine Hände auf ihr Hara und mein erster Eindruck ist eine bestürzende fast klaffende Offenheit des oberen Haras. Das untere Hara wirkt abgeschnitten, durcheinander und wund. In dieser Ausgangssituation ist mir nicht im Geringsten danach zumute mit einsinkenden Shiatsu-Techniken zu arbeiten. Hier gehe ich gerne über innere Bilder in den Kontakt mit dem Ki. Ki reagiert auf innere Bilder, jedenfalls dann, wenn man sie aus einem Ki-Zustand heraus entstehen lässt. In diesem Zustand ist der Geist wach und weich in den Kontakt mit Ki eingetaucht. In der Qi Gong Praxis war mir das lange schon vertraut, als es immer öfter in Shiatsu-Behandlungen auf mich zukam. Es passierte einfach immer wieder in Behandlungssituationen, dass sich überraschend Bilder in mir einstellten, die mir etwas über das Ki eines Bereiches oder Meridians sagten, z.B. sah ich Feuer, das an dickem Glas entlang strömte im Kontakt mit Ren Mai, bei einem sehr zurückhaltenden und unter (Blut)hochdruck leidenden Mann. Dann gab es aber auch Bilder, die sich als eine hilfreiche Inspiration einstellten. Ich arbeitete mit einem Meridian und kam mit Shiatsu-Techniken nicht so recht weiter. Besser gesagt: es kam wohl Bewegung ins Muster der Stagnation, aber nichts Wesentliches änderte sich, als fehle es am entscheidenden „Sesam öffne dich!” Und auf einmal ereignete sich das „Sesam öffne dich!” in Gestalt eines Traumbildes, das sich in mir entfaltete. So sah ich z.B. bei der Behandlung des Lungenmeridians ein Segel aus hartem, sprödem und brüchigem Papier, das sich in zarteste, weiße, in die Weite schwebende Seide wandelte. Mit diesem seidigen Traumbild in mir berührte ich die in Stagnation verharrenden Bereiche und sie lösten sich wirklich mühelos, wie schwebende weiße Seide. Eine Kettenreaktion des Lösens bewegte sich schneller als zu fassen war durch den ganzen Menschen.

Solche Erfahrungen inspirierten mich innere Bilder auch da einzusetzen, wo ich selbst mich in der Begegnung mit Stagnation unwohl fühlte. Ich arbeitete z.B. mit einem so richtig in Stagnationen eingekeilten Schulterblatt und merkte, wie es eng in mir wurde. Ich fragte in mich hinein nach einem Bild, das mir jetzt helfen könnte und sah einen frühlingsgrünen Buchenwald. Ich behandelte weiter, als gingen meine Hände im Grün dieses Waldes spazieren. Durch den Gallenblasenmeridian meiner Shiatsu-Partnerin breitete sich in Windeseile ein Öffnen aus, das mir das Schulterblatt geradezu in die Hände schwimmen ließ.

Manchmal spielt sich auch unter meinen Händen, wie ein Hara-Diagnosen-Kino, eine Bildergeschichte ab. Bei einer Geschäftsfrau, die aus einem sehr gehetzten und kontrollierten Leben erstaunlich schnell in Loslassen und Hingabe sinken kann, hieß ein ,Film’: „von Manhattan auf die Blümchenwiese”. Solche Bilder amüsieren mich und erzählen von der Leichtigkeit des Seins. Andere wieder können leidvoll sein.

Irgendwann nun bin ich dazu übergegangen aus den entstehenden Bildern heraus zu meinen Shiatsu-Partnerinnen zu sprechen. Währenddessen höre ich mit den Händen dem Ki zu, halte Verbindung, halte mit der Berührung Aufmerksamkeit am inneren Ort der Handlung, bestätige heilende Ströme und tröste Wundes.

Manchmal führe ich mit Worten in einen Traum, der mit der momentanen Situation des Menschen zu tun hat. Manchmal verwende ich ein Bild, um das Ki zu inspirieren seine Lösung zu finden. Im konkreten Fall der oben angeführten Behandlung kam mir in der Berührung mit dem starr klaffenden oberen Hara meiner Partnerin das Bild einer weit offenen extrem zarten Blüte, die sich sachte ihre Blütenblätter einsammelnd schloss. Ich ging zur Sprache über: „ Magst du dir eine weite zarte Blüte träumen, die hier wohnt und ihre Blätter ganz langsam und sanft schließt wie eine Blume des Abends.”

Unter meinen Händen konnte ich hören, wie sich ein subtiles, erst zögerndes und dann einverstandenes Fließen über die krasse, hilflose Offenheit zog. Ein Anflug von Frieden entstand im Raum. Ermutigt von diesem spontanen Erfolg legte ich meine Hände aufs untere Hara, zuweilen mit einer Hand Verbindung zum Herzen, zum oberen Hara, zum Kreuz haltend. Ich lud meine Partnerin verbal ein, auf ihrem Atemstrom zu reisen, der die Liebe ihres Herzens auf seinem Weg in die Tiefe des Beckens mit sich nimmt wie freundliches warmes Licht: Eine Welle des Staunens und der Dankbarkeit umflutet die Gebärmutter, die ihre so wunderbar geratene kleine Tochter beherbergt hat. Als ich den Aspekt der Anerkennung und Wertschätzung anspreche, gibt es einen schlagartigen Wechsel: der Bauch zeigt sich in meiner Wahrnehmung nicht mehr als abgeschnitten und so als hätten die vitalen Lebensgeister energetisch die Lebensbühne verlassen. Etwas Warmes und Rundes blüht auf, und gleichzeitig zeigt sich etwas Verstörtes, ja, eigentlich ein Schlachtfeld. Ich bewahre in mir den wohlklingenden Eindruck, während mein Geist in den Kontakt geht mit den zerrissenen Bereichen in der Tiefe. Dabei lade ich meine Partnerin ein, nun den gleichen freundlichen Strom zu den inneren Verletzungen zu leiten. Einen kleinen Moment spitzt sich etwas zu, wird krass wie ein heftiges Aufschluchzen, dann sickert eine ungemein tröstende Qualität wie ein ruhiges Annehmen in die Schluchten vorheriger Verzweiflung. Wieder ändert sich das Klima im Raum und spricht von auferstehendem Selbstvertrauen und von Zuversicht. Das lasse ich seinen guten Gang gehen.

Ich wende mich den Schultern zu, die sich in einer Haltung sich abzukämpfen vergessen haben – sie können jetzt so richtig das Shiatsu-Handwerk gebrauchen. Und dann möchte ich noch den Milzmeridian behandeln, der mich schon die ganze Zeit lockt. Der darf sich noch an seine segensreichen, weich die leibliche Gestalt bewahrenden Erdqualitäten erinnern. Damit ist die Behandlung rund.

Nachdem ich mich von meiner Partnerin verabschiedet habe, höre ich sie draußen lachen. Es ist ein schönes Lachen. Ich bin so froh, es zu hören und so froh über die heimlichen Wege der Heilung. Ich habe eine Ahnung davon welchen Weg sie hier genommen hat. Andere Menschen aktivieren diesen Segen anders. Im Falle des eingangs erwähnten Arztes sind Einfachheit, Präsenz, Echtheit und eine weich mitschwingende Aufmerksamkeit ein Teil der Ingredienzien des Zaubers – es ist der Anteil, für den ich einen Blick habe.

Aber ein Geheimnis bleibt natürlich bestehen, wie auch Freude an einem solchen Talent – und doch auch ein großes Bedauern über all die Situationen, diese vielen und vielen, in denen ein Geist der Heilung so verstörend fehlt bei doch so großer ärztlicher Kunst!

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© Alena Maria Schneider leitet in Hamburg den Frühlingsgarten (22763 Hamburg, Bei der Rolandsmühle 6, Tel. +49 40 881 32 09, www.fruehlingsgarten.org), ein Studio für Taichi, Qigong und Shiatsu. Sie ist von der GSD zur Ausübung von Shiatsu Praxis und Lehre anerkannt und Autorin des Buches “Wenn Lachen und Weinen einander freundlich grüßen – Shiatsu-Wege der Entfaltung” (Verlag Ganzheitlich Heilen, 2005)