Was hat den Hasen in den Tod getrieben? Burnout: Ursachen und Behandlung (Eduard Tripp)

Es war an einem Sonntagmorgen im Herbst, gerade als der Buchweizen blühte; die Sonne war am Himmel aufgegangen, und der Wind strich warm über die Stoppeln, die Lerchen sangen hoch in der Luft, und die Bienen summten im Buchweizen. Die Leute gingen in ihrem Sonntagsstaat zur Kirche, und alle Geschöpfe waren vergnügt, auch der Igel.

Er stand vor seiner Tür, hatte die Arme verschränkt, er guckte in den Morgenwind hinaus und trällerte ein kleines Liedchen vor sich hin, so gut und so schlecht wie am Sonntagmorgen ein Igel eben zu singen pflegt. Während er nun so vor sich hinsang, fiel ihm plötzlich ein, er könnte doch, während seine Frau die Kinder wusch und ankleidete, ein bißchen im Feld spazierengehen und nachsehen, wie die Steckrüben standen. Die Steckrüben waren ganz nah bei seinem Haus, und er pflegte sie mit seiner Familie zu essen, darum sah er sie auch als die seinigen an.

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Gedacht, getan. Er schloss die Haustür hinter sich und schlug den Weg zum Feld ein. Er war noch nicht sehr weit und wollte gerade um den Schlehenbusch herum, der vor dem Feld stand, als er den Hasen erblickte, der in ähnlichen Geschäften ausgegangen war, nämlich um seinen Kohl zu besehen. Als der Igel den Hasen sah, wünschte er ihm freundlich einen guten Morgen. Der Hase aber, der auf seine Weise ein vornehmer Herr war und grausam hochfahrend noch dazu, antwortete gar nicht auf des Igels Gruß, sondern sagte mit höhnischer Miene: „Wie kommt es, dass du hier schon so am frühen Morgen im Feld herumläufst?“

„Ich gehe spazieren“, sagte der Igel. „Spazieren?“ lachte der Hase. „Du könntest deine Beine schon zu besseren Dingen gebrauchen.“ Diese Antwort verdroß den Igel sehr. Alles kann er vertragen, aber auf seine Beine lässt er nichts kommen, gerade weil sie von Natur aus krumm sind. „Du bildest dir wohl ein, du könntest mit deinen Beinen mehr ausrichten?“ sagte er. „Das will ich meinen“, sagte der Hase.

„Nun, das kommt auf einen Versuch an“, meinte der Igel. „Ich wette, wenn wir um die Wette laufen, ich lauf schneller als du.“ „Du – mit deinen krummen Beinen?“ sagte der Hase. „Das ist ja zum Lachen. Aber wenn du so große Lust hast – was gilt die Wette?“ „Einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein“, sagte der Igel.

„Angenommen“, sagte der Hase, „schlag ein, und dann kann es gleich losgehen.“ „Nein, so große Eile hat es nicht“, meinte der Igel, „ich hab’ noch gar nichts gegessen; erst will ich nach Hause gehen und ein bißchen was frühstücken. In einer Stunde bin ich wieder hier.“

Damit ging er, und der Hase war es zufrieden. Unterwegs aber dachte der Igel bei sich: „Der Hase verlässt sich auf seine langen Beine, aber ich will ihn schon kriegen. Er ist zwar ein vornehmer Herr, aber doch ein dummer Kerl, und das soll er bezahlen.“

Als er nun nach Hause kam, sagte er zu seiner Frau: „Frau, zieh dich rasch an, du musst mit mir ins Feld hinaus.“ „Was gibt es denn?“ fragte die Frau. „Ich habe mit dem Hasen um einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein gewettet, dass ich mit ihm um die Wette laufen will. Und da sollst du dabei sein.“

„O mein Gott, Mann“, begann die Frau loszuschreien, „hast du denn ganz den Verstand verloren? Wie willst du mit dem Hasen um die Wette laufen?“ „Halt das Maul, Weib“, sagte der Igel, „das ist meine Sache. Misch dich nicht in Männergeschäfte! Marsch, zieh dich an und komm mit!“ Was sollte also die Frau des Igels tun? Sie musste gehorchen, ob sie wollte oder nicht.

Als sie miteinander unterwegs waren, sprach der Igel zu seiner Frau: „Nun pass auf, was ich dir sage. Dort auf dem langen Acker will ich unseren Wettlauf machen. Der Hase läuft in einer Furche, und ich in der anderen, und dort oben fangen wir an. Du hast nun weiter nichts zu tun, als dass du dich hier unten in die Furche stellst, und wenn der Hase in seiner Furche daherkommt, so rufst du ihm entgegen: „Ich bin schon da!“

So kamen sie zu dem Acker, der Igel wies seiner Frau ihren Platz an und ging den Acker hinauf. Als er oben ankam, war der Hase schon da. „Kann es losgehen?“ fragte er. „Jawohl“, erwiderte der Igel. „Dann nur zu.“ Damit stellte sich jeder in seine Furche. Der Hase zählte: „Eins, zwei, drei“, und los ging er wie ein Sturmwind den Acker hinunter. Der Igel aber lief nur etwa drei Schritte, dann duckte er sich in die Furche hinein und blieb ruhig sitzen. Und als der Hase im vollen Lauf am Ziel unten am Acker ankam, rief ihm die Frau des Igels entgegen: „Ich bin schon da!“

Der Hase war nicht wenig erstaunt, glaubte er doch nichts anderes, als dass er den Igel selbst vor sich hatte. Bekanntlich sieht die Frau Igel genauso aus wie ihr Mann. „Das geht nicht mit rechten Dingen zu“, rief er. „Noch einmal gelaufen, in die andere Richtung!“ Und fort ging es wieder wie der Sturmwind, dass ihm die Ohren am Kopf flogen. Die Frau des Igels aber blieb ruhig an ihrem Platz sitzen, und als der Hase oben ankam, rief ihm der Herr Igel entgegen: „Ich bin schon da!“

Der Hase war ganz außer sich vor Ärger und schrie: „Noch einmal gelaufen, noch einmal herum!“ „Meinetwegen“, gab der Igel zurück. „Sooft du Lust hast.“ So lief der Hase dreiundsiebzigmal, und der Igel hielt immer mit. Und jedesmal, wenn der Hase oben oder unten am Ziel ankam, sagten der Igel oder seine Frau: „Ich bin schon da.“

Beim vierundsiebzigsten Male aber kam der Hase nicht mehr ans Ziel. Mitten auf dem Acker fiel er zu Boden, das Blut floss ihm aus der Nase, und er blieb tot liegen. Der Igel aber nahm seinen gewonnenen Golddukaten und die Flasche Branntwein, rief seine Frau von ihrem Platz am Ende der Furche, und vergnügt gingen beide nach Hause. Und wenn sie nicht gestorben sind, leben sie heute noch.

„Der Hase und der Igel“ (Gebrüder Grimm)

Was ist Burnout?

Burnout (wörtlich: Ausbrennen, Ausgebrannt sein) ist ein Zustand schwerwiegender Erschöpfung und reduzierter Leistungsfähigkeit, der als Endzustand einer Entwicklung bezeichnet werden kann, die mit idealistischer Begeisterung beginnt und über anhaltende frustrierende Erlebnisse zu Desillusionierung bis hin zu Apathie, psychosomatischen Erkrankungen, Depression, Aggressivität und erhöhter Suchtgefährdung führt.

Eingeführt wurde der Begriff „Burnout“ 1974 vom Psychoanalytiker Herbert Freudenberger, dem bei den so genannten „Helfenden Berufe“ (Ärzte, Pflegeberufe, Lehrer, Sozialarbeiter, Erzieher) besonders häufig Krankenstände und Arbeitsunfähigkeit auffielen. Mittlerweile geht man aber davon aus, dass Burnout alle sozialen Gruppen betreffen kann, Schüler und Arbeitnehmer ebenso wie Arbeitslose oder auch Pensionisten.

Charakteristische Merkmale von Burnout sind eine körperliche und emotionale Erschöpfung, anhaltende physische und psychische Leistungs- und Antriebsschwäche, sowie der Verlust der Fähigkeit, sich zu erholen. Möglich ist auch eine zynische, abweisende Grundstimmung gegenüber Kollegen, Klienten und der eigenen Arbeit. In der Internationalen Klassifikation für Erkrankungen (ICD) wird Burnout als „Faktor, der den Gesundheitszustand beeinflusst und zur Inanspruchnahme des Gesundheitswesens führt“ (Z73.0) klassifiziert, nicht jedoch als eigenständige Erkrankung (Syndrom).


Nur jemand, der entflammt ist, kann auch ausbrennen

Auffällige Merkmale der Anfangsphase (Warnsymptome) sind:

  • vermehrtes Engagement, Hyperaktivität, der Beruf wird zum hauptsächlichen Lebensinhalt
  • nahezu pausenloses Arbeiten mit Verzicht auf Erholungs- und Entspannungsphasen, dem Gefühl der Unentbehrlichkeit und der eigenen Perfektion sowie häufig auch der Entwertung anderer Teammitglieder (weshalb der Betreffende bei Kollegen oft unbeliebt ist)
  • Nichtbeachten eigener Bedürfnisse, privater Interessen und Hobbys
  • Verdrängen von Misserfolgen
  • Beschränkung sozialer Kontakte auf einen Bereich z.B. Kunden, Vernachlässigung  des Partners, der Familie, der Freunde
  • Erschöpfung  und chronische Müdigkeit, Appetitlosigkeit, Schlafstörungen, Konzentrationsschwäche, Drehschwindel
  • Suche von Ablenkung und Trost in Alkohol, Tabak, Internet- und Computeraktivitäten, vielem Essen oder häufig(er)em Geschlechtsverkehr
  • Angstzustände, Depressionen

Zu beachten ist aber, dass diese Symptome (noch) keine Erkrankung darstellen, und auch nicht zwangsläufig – so wie generell eine kurzfristige Überbelastung – in ein Burnout führen.

Durch ein langes Andauern der Situation kommt der betroffene Mensch schließlich häufig zur Erkenntnis, dass die angestrebten Ziele und Vorgaben nicht erreicht werden können (Desillusionierung) und deshalb aufgegeben werden müssen. Die schmerzliche Verarbeitung dieser Erfahrung – die psychoanalytische Tradition spricht dabei von Trauerarbeit – wird von den Betroffenen oft durch Schuldzuweisungen, die die tatsächlichen Gründe nicht (hinreichend) widerspiegeln, abgewehrt. Wendet sich die Aggression gegen Andere, machen sie diesen (in einem unberechtigten Maß) Vorwürfe, lehnen potentiell unterstützende Maßnahmen ab und neigen zu Wutausbrüchen. Im umgekehrten Fall, wenn die Schuldzuweisungen vorrangig die eigene Person betreffen, entwickeln Betroffene ein Gefühl von Hilflosigkeit und eigener Minderwertigkeit.

Zunehmend führt die Belastung zu einem Abbau des Engagements, das sich zunächst vor allem im Arbeitsleben zeigt:

  • Desorganisation, Probleme bei komplexen Aufgaben und Entscheidungen, verringerte kognitive Leistungsfähigkeit, Unsicherheit, Angst vor Besprechungen
  • Verminderte Motivation und Kreativität, „Dienst nach Vorschrift“

Aber auch im Privatleben zeigen sich Auswirkungen. Die Betroffenen ziehen sich immer mehr zurück und pflegen Freundschaften kaum mehr.[1]Meist beginnt es ganz harmlos. Man hat viel zu tun und vergräbt sich in die Arbeit, zieht sich zurück. Wenn die Situation anhält, schottet sich der Betroffene noch deutlicher von allen ab, auch … weiterlesen Oft kommt es zu Trennungen und schließlich zu Vereinsamung. Generell beginnt das emotionale, geistige und soziale Leben zu verflachen:

  • Gefühle von Gleichgültigkeit, Einsamkeit und Desinteresse
  • Konzentration auf die eigene Person
  • Probleme bei sozialen Kontakten (Vermeidung von Kontakten, übertriebene Bindung an eine bestimmte Person oder auch ständige Suche nach „interessanteren“ Kontakten)

Ist der Zustand des Burnout voll ausgeprägt, erlebt der betroffene Mensch existentielle Verzweiflung. Seine Einstellung zum Leben ist vorwiegend negativ, geprägt von Hilflosigkeit und Niedergeschlagenheit – eine manifeste depressive Symptomatik, die bis zum Suizid führen kann.


Warum läuft sich der Hase zu Tode?

Bei der Suche nach den Ursachen lassen sich zwei Hauptbereiche unterscheiden, zum einen persönliche und zum anderen soziale/organisatorische Aspekte und Konstellationen, die ich an Hand des Märchens vom Wettlauf von Hase und Igel ausführen möchte – als Darstellung der Burnout-Problematik bis zum bitteren Ende, dem Tod des Hasen.

Wesentliche Eigenschaften auf dem Weg zum Ausbrennen, so lehrt die Psychologie ebenso wie das Märchen der Gebrüder Grimm, sind ein stark ausgeprägtes Streben nach Perfektionismus und ein letztlich „ungesunder“ Egoismus.[2]Andere persönliche Faktoren sind eine grundsätzliche Neigung zu Irritationen, Sorgen, Schuldgefühlen und Depression sowie zwanghafte Persönlichkeitszüge und generell eine labile … weiterlesen Burnout-gefährdete Menschen setzen sich hohe, oft zu hohe Ziele und haben Probleme damit, Kompromisse einzugehen oder auch mal „Zweite“ zu werden. Damit dieses Streben, so zeigt der Wettlauf von Hase und Igel, aber auch wirklich auf ein tragisches Ende zusteuern kann, braucht es eine entsprechende Motivation und innere Notwendigkeit.

Ein mangelndes Selbstwertgefühl oder vor allem an Leistung gebundene Zuneigung durch die wichtigen Bezugspersonen in der Vorgeschichte des betroffenen Menschen geben der Leistung, dem Erfolg einen gefährlich hohen Stellenwert. So wie viele Menschen in helfenden Berufen die ihnen fehlende Zuwendung in der Kindheit durch soziale und dabei manchmal geradezu aufopfernde Tätigkeiten zu kompensieren versuchen („Helfersyndrom“), wird auch in anderen Bereichen Leistung vielfach als Mittel eingesetzt, die innerpsychisch dringend notwendige Anerkennung zu erlangen. Menschen, die hier anfällig sind, fehlt die (innere) Erfahrung, um ihrer selbst – und nicht ihrer Leistungen und Erfolge wegen – geachtet und geliebt zu werden.


Wer ist schuld am Tod des Hasen?

Im Märchen der Gebrüder Grimm wird dieses mangelnde Selbstwertgefühl in der Arroganz des Hasen ausgedrückt, der es notwendig hat, besser zu sein als der Igel und schneller zu laufen als dieser. So wichtig ist ihm das, dass er nicht nachlassen kann in seinem Streben zu gewinnen – letztlich bis in den Tod.

Ob der Hochmütigkeit des Hasen empfinden wir meist wenig Mitleid mit ihm und stehen auf Seiten des Igels, der den hochmütigen, aber auch „dummen Kerl“ in den Tod hetzen lässt und sich an ihm bereichert, einen Golddukaten und eine Flasche Branntwein gewinnt. Ob uns der Hase nun sympathisch ist und ob wir ihm seinen Untergang gönnen oder nicht, sollten wir nicht vergessen, auf welche Weise er zu Tode kommt, nämlich durch ein System, repräsentiert durch den Igel und seine Frau, das es ihm unmöglich macht, im Wettkampf erfolg- und siegreich zu sein.[3]Die große Tragik aber liegt darin, dass er den Betrug nicht durchschaut. Würde er das, könnte er sein Verhalten ändern und nicht wie Don Quichotte ein nicht zu gewinnendes Rennen immer und immer … weiterlesen

Der zweite wichtige Faktor, neben dem persönlichen, überfordernden Streben nach Erfolg (und damit innerer Zufriedenheit durch Anerkennung) ist ein soziales und generell gesellschaftliches Umfeld[4]Gesellschaftlich bringt der Zerfall familiärer und anderer sozialer Bindungen eine wachsende Anonymität und Unpersönlichkeit mit sich, die bei vielen Menschen auch Angst vor Bindungen und … weiterlesen und das der Firma, in der der Betroffene arbeitet. Typisch für den Burnout ist nämlich nicht die Belastungen und Arbeitsanforderungen per se, sondern vor allem dass diese nicht zum Erfolg führen, andauern und dennoch nicht erfolgreich sind.[5]Erschwerend sind zudem unklar definierte Ziele und Erfolgskriterien, ein Team das nicht am gleichen Strang zieht, ein Vorgesetzter zu dem man „keinen Draht“ hat oder starken Druck ausübt, Ziele … weiterlesen Der Anstrengung folgt nicht (oder nur zu wenig) das zufriedene Gefühl des Geschafft-Habens, die Anerkennung der Leistung (weder von Innen im Sinne der eigenen Zufriedenheit, noch von Außen durch das berufliche und soziale Umfeld). Dazu kommt, dass man die Arbeitsbedingungen nicht ändern kann, vom bürokratischen Aufwand zermürbt wird und sich sein Klientel nicht aussuchen kann. So wie der Hase kommt man dadurch nicht zum Erfolg. Kaum ist der eine Lauf zu Ende, wartet die nächste Aufgabe. Man hetzt von einer Forderung zur nächsten, zur chronischen Überforderung. Wie der Hase setzt man sein Streben darein, zu siegen, um immer wieder zu erfahren: „Ich bin schon da“. Immer schon wartet die nächste Aufgabe.

Burnout ist vielfach nicht einfach nur ein Versagen der Selbstwertregulation des Arbeitnehmers, sondern eine oft auch gewollte Unternehmensstrategie: von den Arbeitnehmern mehr und mehr zu fordern, wobei die Ziele zunehmend schwerer, manchmal gar nicht zu erreichen sind – gepaart mit fehlender Anerkennung der erbrachten Leistungen. Alles in allem ein System, das insbesondere Arbeitnehmern zusetzt, die mit zunehmendem Alter ein natürliches Absinken ihrer Leistungsfähigkeit – vor allem im Vergleich mit Jüngeren – erleiden und spüren. Zudem sind diese auch noch abhängiger von ihrer Arbeit (finanzielle Verpflichtungen, die einen möglichen Arbeitsverlust wesentlich stärker fürchten lassen, kombiniert mit größeren Schwierigkeiten eine neue zumindest gleichwertige Arbeitsstelle zu finden).

Dem Gewinn des Golddukatens und der Flasche Branntwein im Märchen lässt sich im Wirtschaftsleben als höhere Gewinne und Dividenden vertehen. In gewissen Sinn scheint die Firmenstrategie und -philosophie in so manchem Unternehmen unerreichbare Ziel vorzugeben, um das Maximum aus den Arbeitnehmern herauszuquetschen. Soziale Verantwortung wird hingegen zunehmend seltener. Und die mit diesem System verbundenen Kosten werden der Allgemeinheit in Form von Gesundheits- und (Früh-)Pensionskosten aufgelastet. Das persönliche Leid hingegen trägt der Arbeitnehmer, seine Angehörigen und Freunde – und letztlich auch wieder die Gemeinschaft, die damit größtenteils überfordert ist und sich zugleich zunehmend atmosphärisch verändert: Die Tendenz geht weg von einer Solidaritätsgesellschaft zum Kampf des Einzelnen um sein Überleben gegen die Anderen.


Was ist zu tun?

Versteht man die Ursachen des Burnout als ein Ineinandergreifen von persönlichen und sozialen Faktoren (mit individuell unterschiedlichen Gewichtungen), so leitet sich daraus auch

die grundlegende Behandlungsstrategie ab, die sich nicht auf Shiatsu beschränkt.

Auf der persönlichen Ebene geht es zunächst einmal um die Behandlung der vorliegenden Symptome (d.h. Diagnostik der vorliegenden Disharmoniemuster im Sinne der fernöstlichen Medizin und Entwicklung eines darauf aufbauenden Behandlungskonzepts) und zudem/dann die Identifikation der Ursachen, die im Individuum selbst begründet sind, wie z.B. das mangelnde Selbstbewusstsein und das daraus resultierende („pathologische“) Leistungsstreben.

Dabei stehen zu bleiben, wäre aber zu wenig. Es ist für den Betroffenen ebenso unerlässlich zu einer realistisch(er)en Sicht der Ursachen und Bedingungen seines Burnout zu gelangen, um wieder handlungsfähig zu werden. Was seine Anteile sind und die seines (beruflichen und/oder sozialen) Umfeldes. Was er dazu beigetragen hat und beträgt, aber auch inwieweit er ein Opfer eines Systems, beispielsweise unmenschlicher Arbeitsbedingen, geworden ist. Das bedeutet zugleich das Annehmen des eigenen Scheiterns an den zu hohen Selbst- und/oder Fremdforderungen, das sich selbst Zugestehen seiner Leistungsgrenzen und vieles mehr – und als das ohne sich dabei zu verurteilen oder abzuwerten.

Wichtig ist zudem, etwaige Defizite auf der emotionalen Ebene (hier ist an Psychotherapie als begleitende Unterstützung zu denken) aufzufüllen und die eigene innere Zielsetzung zu finden und (zunehmend) zu verwirklichen: Was will ich in diesem Leben (realistisch!) erreichen? Was hat Bedeutung für mich? … Es geht letztlich darum, sich selbst in seinem Sein, in seinen ureigensten Möglichkeiten und Grenzen zu erkennen und anzunehmen, ja lieben zu lernen, um berufliche Anerkennung nicht mehr kompensatorisch für narzisstische Defizite zu benötigen.

Generell ist es so, dass Betroffene zu Beginn eines Burnout oft wenig brauchen, damit sich ihre Situation wieder bessert. Anfangs genügen sogar unter Umständen kleine Veränderungen (z.B. im beruflichen Umfeld), damit es zu „spontaner“ Erholung kommt. Mit zunehmender Dauer bringen aber selbst Urlaube und Kuren keine oder nur kurzzeitige Erholung und es bedarf professioneller Hilfe, wobei in ganz schwierigen Situationen für eine gewisse Zeit auch Psychopharmaka hilfreich sein können.[6]Wenn in Wikipedia (Zugriff Oktober 2010) vor Antidepressiva gewarnt wird, so hat dies teilweise Berechtigung, zeigt aber auch das Missverstehen der Zusammenhänge und Differenzierungen.Eine … weiterlesen

Nicht vergessen sollte man bei all den spezifischen Ansätzen, dass Shiatsu hier auch dadurch zu unterstützen vermag,[7]Zu beachten ist hier, dass Shiatsu oft nur ein Teil, ein Aspekt einer umfassenden Unterstützung und Begleitung in dieser Krisenzeit sein kann. Häufig braucht ein Betroffener medizinische (eventuell … weiterlesen dass ein betroffener Mensch (wieder) erfahren kann, sich einem anderen Menschen, den Händen eines Shiatsu-Praktikers anzuvertrauen und „loszulassen“. Und er kann dabei erfahren, als Mensch angenommen zu werden, gehalten, umsorgt und unterstützt, ohne sich anstrengen, ohne etwas leisten zu müssen, einfach als der Mensch, der er ist: eine Erfahrung im zwischenmenschlichen Bereich, die in der Folge auch in anderen Begegnungen zu Tragen kommen und eine zunehmend stabile Basis des Verständnisses von sich selbst und seinem Wert (im Sinne von Selbstwert) bilden kann.

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© Dr. Eduard Tripp, Shiatsu Senior Teacher, Psychotherapeut und Supervisor (www.eduard-tripp.at). Der vorliegende Artikel ist Teil des Kongressbandes „Europäischer Shiatsu-Kongress Kiental 2011“ (www.kientalerhof.ch).

Anmerkungen

Anmerkungen
1 Meist beginnt es ganz harmlos. Man hat viel zu tun und vergräbt sich in die Arbeit, zieht sich zurück. Wenn die Situation anhält, schottet sich der Betroffene noch deutlicher von allen ab, auch denen die es eigentlich gut mit ihm meinen und ihn z.B. zu einer Bergtour oder einem Kartenabend „entführen“ wollen. Das Problem allerdings ist, dass er sich nicht mehr entspannen kann. Selbst dann, wenn er mit seinen Freunden zusammen ist, denkt er dauernd an die Arbeit, ist eigentlich nur körperlich anwesend. Die Freunde nehmen das auch wahr und häufig distanzieren sie sich deshalb ihrerseits von ihm, laden ihn zunehmend seltener ein. Die Folgen sind (weitere) Vereinsamung, fehlende Kommunikation und ein fehlendes (zwischenmenschliches) Korrektiv.
2 Andere persönliche Faktoren sind eine grundsätzliche Neigung zu Irritationen, Sorgen, Schuldgefühlen und Depression sowie zwanghafte Persönlichkeitszüge und generell eine labile Selbstwertregulation. Nicht zu vernachlässigen sind auch eine schlechte Ausbildung (die leicht zu Misserfolgen führt) und ADHS. All diese Faktoren verhindern die persönliche Widerstandsfähigkeit gegenüber Belastungen (Resilienz).
3 Die große Tragik aber liegt darin, dass er den Betrug nicht durchschaut. Würde er das, könnte er sein Verhalten ändern und nicht wie Don Quichotte ein nicht zu gewinnendes Rennen immer und immer wieder fortsetzen.
4 Gesellschaftlich bringt der Zerfall familiärer und anderer sozialer Bindungen eine wachsende Anonymität und Unpersönlichkeit mit sich, die bei vielen Menschen auch Angst vor Bindungen und Abhängigkeit auslöst. Für solche Menschen bekommt die Arbeit einen gefährlich hohen Stellenwert, der sie zugleich auch so abhängig macht, dass sie eher bereit sind, nicht optimale und weniger befriedigende Arbeitsbedingungen zu akzeptieren.Zugleich auch haben sich die gesellschaftlichen Werte und Weltanschauungen derart gewandelt, dass individuelle menschliche Entscheidungen den Vorrang haben vor dem Einfluss höherer (göttlicher oder anderer Schicksals-) Mächte, was zu erhöhter Unzufriedenheit führen kann.

Generell hat sich gesellschaftlich eine zunehmende Verunsicherung breit gemacht: wachsende Arbeitsunsicherheit, zerfallende Sozialbeziehungen (mit hohen Scheidungs- und generell Trennungsraten) wie auch, dass man zunehmend auf Maschinen und Menschen (u.a. in Form von Spezialisten und Experten) angewiesen ist, was dazu führt, dass man nur noch Teilbereiche seines Lebens bestimmen und autonom bewältigen kann.

5 Erschwerend sind zudem unklar definierte Ziele und Erfolgskriterien, ein Team das nicht am gleichen Strang zieht, ein Vorgesetzter zu dem man „keinen Draht“ hat oder starken Druck ausübt, Ziele die gegen die eigenen Wertvorstellungen verstoßen, zu wenig Rückmeldung im Allgemeinen und Bestätigung ganz konkret.
6 Wenn in Wikipedia (Zugriff Oktober 2010) vor Antidepressiva gewarnt wird, so hat dies teilweise Berechtigung, zeigt aber auch das Missverstehen der Zusammenhänge und Differenzierungen.Eine Behandlung von Burnout „wie eine Depression“ ist insofern problematisch – das gilt aber auch für „andere Depressionen“ -, wenn ein wichtiger Teil der Ursachen nicht berücksichtigt wird. Und die liegen beim Burnout oft auch in systemischen Bedingungen. Hier nur „symptomatisch“ zu behandeln und dafür zu sorgen, dass ein Betroffener wieder „funktioniert“, würde letztendlich die Gefahr des totalen Zusammenbruchs mit sich bringen (vielleicht im Sinne des Betriebs, der auf diese – zynische – Weise seine Dienstnehmer erfolgreich auszubeuten kann).

Zu unterscheiden ist zudem – und hier hilft das Verstehen aus der Sicht der traditionellen chinesischen Medizin – dass eine Leere immer Yin und Yang betreffen kann. Eine Yang-stärkende Behandlung (wie Antidepressiva, die den Antrieb erhöhen) ist bei Yin-Leere gefährlicher Unsinn, hilfreich jedoch bei einer Yang-Leere. Letztlich sollte immer (wie in der traditionellen chinesischen Medizin) diagnostiziert werden, zumal Burnout nicht einmal in der westlichen Medizin ein einheitliches Symptombild ist.

7 Zu beachten ist hier, dass Shiatsu oft nur ein Teil, ein Aspekt einer umfassenden Unterstützung und Begleitung in dieser Krisenzeit sein kann. Häufig braucht ein Betroffener medizinische (eventuell traditionell chinesische) und psychotherapeutische Behandlungen, zu denen Shiatsu auch begleitend gegeben werden kann (sofern es die – auch finanziellen – Ressourcen erlauben). Ansonsten ist unter Umständen eine medizinische oder psychotherapeutische Behandlung vorrangig und Shiatsu erst später möglich und sinnvoll.Über die Begleitung im Falle eines Burnout hinaus, dient Shiatsu auch der Prophylaxe auf mehreren Ebenen. Indem Körper und Geist durch die Behandlungen gestärkt werden und sich der Zugang zum eigenen Körper und seinen Signalen verbessert, können Betroffene nicht nur besser mit Belastungen umgehen (höhere Resilienz), sondern sie können auch verlässlicher und frühzeitiger potentiell überfordernde Belastungen wahrnehmen und damit besser – auf vielen Ebenen – gegensteuern.