Was ist eigentlich Gesundheit – und was Krankheit? (Wilfried Rappenecker)

Als ich mich in den achtziger Jahren als junger Arzt dem Shiatsu zuwandte, geschah das nicht zuletzt, weil ich in der Schulmedizin permanent das Gefühl hatte, das irgend etwas nicht richtig war. Mir fehlte so etwas wie der Kontakt zum wirklichen Leben, zum Leben der Patienten in Krankenhaus und Praxis aber auch zu dem, was Leben für mich bedeutete. Ich wollte wissen, was das eigentlich ist und auch – weil das Leben für mein Gefühl sich hierin sehr deutlich zeigt – was Gesundheit ist und was Krankheit.

Die Antwort der Schulmedizin war mir entschieden zu oberflächlich: Krankheit sei, salopp gesagt, wenn etwas mit dem Körper (und manchmal auch mit der Seele) nicht in Ordnung sei, und Gesundheit bestehe, wenn keine Krankheit vorliege.

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Für eine Weile war ich dann begeistert von der visionären Forderung in der Gesundheitsdefinition der WHO, die sinngemäß besagte, dass Gesundheit mehr sei als die Abwesenheit von Krankheit, sondern vielmehr das umfassende Wohlbefinden eines Menschen. Die Shiatsu-Praxis hat mir jedoch gezeigt, dass der Gesundheitsbegriff der WHO zu visionär ist und kaum eine Aussage über die jetzige konkrete Realität des Menschen zulässt. Ich zumindest habe noch niemanden getroffen, der sich für länger als ein paar Stunden oder Tage in einem solchen Zustand des umfassenden Wohlbefindens befunden hätte. Nach dieser Vorstellung von Gesundheit wären Menschen allenfalls für Stunden oder Tage gesund, nicht jedoch für einen längeren Lebensabschnitt.

Ich möchte darum hier eine andere These wagen, eine Vorstellung von Gesundheit, die sich in meiner Praxis bewährt hat, sich immer mehr bewährt und die auch meinen Unterricht stark beeinflusst:


Gesundheit ist die fortwährende Entfaltung des Menschen (als Teil eines Größeren Ganzen)

Diese Entfaltung oder Entwicklung läuft ihrer Natur nach nicht gleichmäßig und kontinuierlich ab, sondern in Schritten oder Schüben. Entwicklungsschritte sind Ausdruck von Gesundheit. Sie werden subjektiv häufig als Zeiten der Unsicherheit oder des Unwohlseins und manchmal auch der Krankheit erlebt – und dies auf körperlich, geistiger, seelischer oder sozialer Ebene. Die Schritte sind jedoch immer Ausdruck der positiven Kraft der fortwährenden Entfaltung und ihrer Natur nach vorübergehend.

Nach dieser Vorstellung stünden Unwohlsein, das Gefühl von Leid und Krankheit nicht notwendig in einem Gegensatz zu Gesundheit, vielmehr müsste man sie oft als einen wesentlichen und integralen Teil von Gesundheit ansehen.

Das erscheint zunächst als paradox, macht jedoch Sinn, wenn man ein wenig darüber nachdenkt. So werden Kinderkrankheiten bei ganzheitlicher Betrachtung als wesentliche Schritte in der Entwicklung eines Kindes angesehen. Schmerzhafte und u.U. mit manifesten Krankheiten einhergehende Lebenskrisen sind in der Rückschau häufig als wichtige und positive Ereignisse im Leben eines Menschen erkennbar.


Es gibt viele Gründe für eine solche Sichtweise

Die naturwissenschaftlich orientierte Medizin sieht den Menschen von anatomischen und physiologischen Wachstums- und Reifungsprozessen in Kindheit und Jugend abgesehen als ein statisches, als ein fertiges Gebilde an. Die obige Definition geht demgegenüber von einem Modell aus, in dem der Mensch zeitlebens in Reifung und Entfaltung begriffen ist, wobei Reifung und Entfaltung nicht frei von Problemen und auch Leid sind.

Das Alltagsbewusstsein unserer Gesellschaft unterscheidet Leiden und Krankheit scharf von Gesundheit. Es trennt in Gesundheit und Wohlergehen = richtig und Leiden und Krankheit = falsch. Nach der obigen Definition wird eine solche Trennung sinnlos. Leid und auch viele Aspekte von Krankheit werden, wenn sie Ausdruck des Wachstums eines Menschen sind, zu einem Teil von Gesundheit, zu einem Teil dessen, was völlig ohne masochistische Tendenzen als positiv und wünschenswert angesehen werden kann.

Die Überheblichkeit der naturwissenschaftlichen Medizin – und durchaus auch die Gesundheitsforderung der WHO – haben u.a. dazu geführt, dass die Abwesenheit von Leid und Beschwerden quasi als ein Grundrecht des Menschen angesehen wird. Sogar die Unausweichlichkeit des Todes des Menschen wird infrage gestellt. Die Ablehnung des Leids, der Krankheit und des Todes lässt solche Zeiten in unserem Leben sinnlos und unfruchtbar werden und vergrößert das subjektiv erlebte Leid immens. Werden dem gegenüber Zeiten der Krise aber auch bestimmte körperliche und seelische Leiden, letzten Endes auch der Tod, vor dem wir uns alle fürchten, als etwas gutes, notwendiges und positives begriffen, vermindert dies das Leid und erleichtert die Entwicklungsschritte, die durch sie angekündigt werden.

Wenn ich Leid und Krankheit als etwas im Grunde falsches ansehe, das zu verhindern oder zu bekämpfen ist, so erzeuge ich in mir einen Graben, der mich von diesen häufigen und wichtigen Lebenserfahrungen trennt. Das macht es schwierig bis unmöglich, den Sinn zu verstehen, den eine leidvollen Erfahrung in meinem Leben machen kann. Das erlebte Leid wird dadurch vergrößert.

Verstehe ich Leid und Krankheit jedoch einfach als Zeit, in denen mein Leben oder ich als ganzer Mensch vorübergehend weniger in einem gewissen Gleichgewicht oder einer gewissen Harmonie ist, so habe ich einen neutraleren Standpunkt eingenommen, der nicht von vorne herein wertet und in gut/ wünschenswert und schlecht / zu vermeiden einteilt. Ein solcher Standpunkt macht es mir möglich, das Leid, die Krankheit anzunehmen, zu erleben und zu beginnen, zu verstehen.


Und was ist Krankheit?

Die hier beschriebene Definition von Gesundheit erlaubt es, Krankheit in einem ganz anderen Licht zu sehen und zu verstehen. Die stärkste Kraft, die Zeiten des Leids und der Krankheit in unserem Leben entstehen lässt, scheint mir die fortwährende Veränderung, die Kraft zu unaufhörlichem Wachstum und Entfaltung in unserem Leben zu sein, eine durch und durch positive Kraft, auch wenn sie nicht immer so erlebt wird. Ich empfinde dies auch als eine andauernde Tendenz und Sehnsucht nach schrittweiser Befreiung. Die meisten Probleme und Krankheiten im Leben entstehen dementsprechend in solchen krisenhaften Zeiten der Veränderung. Unsicherheit und Angst (die durchaus nicht immer bewusst sind) bringen Ablehnung, Widerstand und Nicht-Wissen-Wollen hervor, meiner Ansicht nach ist dies die stärkste Ursache für Leid und körperliche und seelische Krankheit.

Andererseits wird klar, dass die durch diese Kraft entstandenen Probleme und Krankheiten nicht nur sehr positiv, nämlich Ausdruck unseres Wachstums sind, sondern auch von grundsätzlich vorübergehender Natur. Ihr Wesen ist das einer Krise. Eine Krise beginnt, hat ihren Höhepunkt und ebbt wieder ab, um schließlich ganz zu verschwinden. Der wichtigste Faktor, der diesen gesetzmäßigen Verlauf und die endliche Lösung verhindern kann, ist der Widerstand im Menschen v.a. aus Angst und Unwissenheit heraus. Es gibt jedoch auch andere Ursachen von Krankheit und Leid als die Kraft der Entfaltung und der Widerstand dagegen. Eine wesentliche weitere Quelle des Leids scheint mir der Missbrauch des eigenen Körpers bzw. der ganzen eigenen Person zu sein. Sicherlich teils als Ausdruck des beschriebenen Widerstandes, teils aber auch aus Unwissenheit und sozialen Konventionen heraus missbrauchen wir unseren Körper durch nicht adäquate Nahrungszufuhr, durch Drogen oder durch Trägheit und unbewusstes in unserem Körper Sein, um nur drei typische Beispiele zu nennen.

Da Menschen immer Teil eines konkreten sozialen Zusammenhangs sind (z.B. der Familie), erleben sie in ihrem Glück und Leid auch die Kräfte dieses Raumes, die sie nicht selber erzeugt haben und für die sie nicht als Individuen verantwortlich sind. Schließlich gibt es Leid und Krankheit, die auf nichts zurückzuführen zu sein scheinen, was sich im Leben eines Menschen ereignet. Auf die Frage woher sie kommen haben verschiedene Kulturen und ihre jeweiligen Wissenschaften unterschiedliche Antworten gefunden. Z.B. wurden und werden sie als Karma (Antwort auf Handeln in einem früheren Leben), Schicksal, Strafe Gottes, als Folge genetische Ursachen und Dispositionen u.a.m. angesehen. Die unterschiedlichen Ursachen sind nicht als statisch voneinander getrennt zu sehen, vielmehr durchdringen und beeinflussen sie sich gegenseitig und wirken alle zusammen in jeder Krankheit unterschiedlich deutlich.

Diese (unvollständige) Auflistung von Ursachen zeigt auch, dass aus dieser Sicht nicht alles Leid und alle Krankheiten grundsätzlich vorübergehender Natur sind, und dass nicht alles immer gut wird. Wohl aber gilt genau das für die meisten Probleme und Krankheiten und vor allem für die, welche uns am häufigsten in einer Shiatsu-Praxis begegnen. Beispiele hierfür sind die meisten Probleme des Bewegungsapparates (wie z.B. Schuler-, Gelenks- oder Rückenschmerzen), aber auch funktionelle organische Störungen (wie Kopfschmerzen, Magenbeschwerden oder Probleme in Zusammenhang mit dem weiblichen Zyklus), seelisches Leiden oder allgemeine Lebenskrisen.

Dies kann weit reichende Konsequenzen für unsere Arbeit haben. Für Shiatsu wie für jede andere ganzheitliche therapeutische Arbeit mit anderen Menschen bedeuten nämlich die obige Definition von Gesundheit und das sich daraus ergebende Verständnis von Krankheit, dass es überhaupt nicht darum geht, gegen einen Schmerz, eine Krise, eine Krankheit anzugehen, sie zu beseitigen. Es geht darum, den Menschen in diesem Geschehen zu begleiten, ihm Mut zu machen und darin zu unterstützen, den Weg weiter zu gehen und neue Lösungen zu finden. Die direkte Arbeit mit dem Körper ist eine erstklassige Methode hierfür. Darüber hinaus wird die Bedeutung der Unterstützung durch das begleitende Gespräch und Beratung sichtbar.

Welch ein positiver Ausblick auf unsere Arbeit! Nichts müssen wir bekämpfen, nichts beseitigen! Nichts, weder Freude, Krankheit noch Leid, ist sinnlos, ist umsonst in das Leben des Menschen getreten. Es hat hier alles seinen Platz und seine Berechtigung. Das bedeutet nicht, dass der Mensch in seinem Leid ins einer Krankheit stecken bleiben soll, im Gegenteil.

Es ist alles Ausdruck der positivsten Kraft, die im Menschen wirkt. Diese Kraft zu erkennen, ihre Schönheit zu ahnen ist wirkungsvoller für die Lösung des Knotens als alles Anrennen und alle Beseitigungs-Tricks. Das bedeutet weiterhin, dass wir all unser Wissen, unsere Erfahrung und unser Können einsetzen. Jedoch ist das Ziel nicht, etwas ungeschehen zu machen, sondern ganz im Gegenteil, dass Dinge wieder geschehen können, die Kraft wieder wirken kann.

Ein Problem, eine Krankheit sind immer um ein vielfaches kleiner als die Kraft und die Schönheit eines Menschen. Die Konzentration auf die Krankheit erzeugt Enge und Angst. Schauen wir also nach der Kraft eines Menschen, nach seiner Schönheit, dann bewegen sich die Dinge wieder, die Entfaltung geht weiter und es entstehen neue Räume, Lösungen, es entsteht Wohlbefinden.

Dieser Aufsatz bietet natürlich keine vollständige Behandlung des Themas. Zu vieles musste ausgelassen werden wie z.B. das Verhältnis von Krankheit und Leid (denn zwischen beiden besteht ein großer Unterschied), die Natur des Schmerzes (Schmerz ist immer ein (sich) Abtrennen, ein Nicht Zulassen) oder die Frage, was Menschen (unsere Klienten und wir selber) tun können, um gesund zu leben. Für alle solche Fragen finden sich allerdings Antworten in dem beschriebenen Verständnis von Gesundheit.

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© Wilfried Rappenecker, geb. 1950 in der Nähe von Köln, ist Leiter der Schule für Shiatsu Hamburg (D-22769 Hamburg, Oelkersallee 33, http://www.schule-fuer-shiatsu.de), Mitbegründer der GSD und Autor zweier Bücher zum Thema Shiatsu. Als Arzt für Allgemeinmedizin arbeitet er dort überwiegend mit Shiatsu.